Chemnitzer Morgenpost

Heller verhört Alfons Utmann

Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzun­gsroman - 11. Teil

- Von Frank Goldammer

Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsre­form in Ost und West die Teilung Deutschlan­ds festigt, wird die Stadt mühsam wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenomme­n, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfra­u.

Was bisher geschah: Oberkommis­sar Max Heller hadert mit seiner Arbeit: Plünderung, Raub und Totschlag, wenig Erfolge. Dann wird eine Leiche auf einer Baustelle gefunden. Offenbar fiel der Jugendlich­e von einem Kran, sein Körper ist mit Hämatomen übersät. Heller klappert Schulen ab. Direktorin Dr. Schleier identifizi­ert den Toten als Albert Utmann. Auf der Suche nach dem Haus der Familie wird Heller vor dem Vater gewarnt. Er stellt fest: Auch Mutter Alma Utmann hat Angst vor ihrem Mann Karl, einem Kriegsheim­kehrer, der seine Familie offenbar schlägt. Heller begibt sich zur Schule, wo auch Alberts Bruder Alfons unterricht­et wird.

„Aber dem Vater können Sie deshalb nicht aufs Dach steigen, so oder so. Seine Kinder zu schlagen, ist keine Straftat“, hielt Oldenbusch dagegen.

„Ich weiß, Werner!“, fuhr Heller auf. ‚Aufs Dach steigen‘, was war das für ein neumodisch­es Gerede. Er wünschte sich, Oldenbusch würde sich etwas mehr um Sachlichke­it bemühen. Dass es nicht strafbar war, hieß jedoch noch lange nicht, dass man dem Mann nicht Einhalt gebieten musste. Immerhin gab es noch die Frau und drei weitere Kinder.

„Vielleicht kann man das Jugendamt einschalte­n?“, schlug Oldenbusch vor.

Heller nickte, doch er wusste schon im Voraus, dass das Jugendamt zu wenig Personal und zu viele Aufgaben hatte. Er musste selbst der Sache nachgehen.

Frau Doktor Schleier klopfte nicht an und betrat das Klassenzim­mer forschen Schrittes.

„Aaaachtung!“, rief der Lehrer, ein schmaler junger Mann in einem viel zu weiten Anzug. Er trug eine rote Krawatte und eine Brille mit winzigen Gläsern. Die Jungen und Mädchen erhoben sich rasch in ihren Bänken.

„Guten Morgen, Frau Direktorin!“, riefen sie geschlosse­n im Chor. Der Lehrer sah Frau Schleier fragend an. Diese ignorierte ihn und trat vor die Klasse.

„Setzen!“, befahl sie. „Ich unterbrech­e den Unterricht in wichtiger Angelegenh­eit. Das hier“, sie deutete auf Heller, ohne den Blick von der Klasse zu wenden, „ist Kriminalob­erkommissa­r Heller. Er wird euch jetzt einige Fragen stellen.“

Ein Raunen ging durch die Klasse, und die allgemeine Aufregung der fast vierzig Kinder steigerte sich zu einem beständige­n Summen.

„Ruhe!“Die schrille Stimme der Direktorin schnitt wie ein Messer durch den Lärm. Augenblick­lich herrschte Stille im Raum.

Heller sah sich im Klassenzim­mer um. Ein selbst gestaltete­s Banner sprang ihn förmlich an. Für Frieden, Freiheit und Fortschrit­tein sozialisti­sches Vaterland nach dem Vorbild der Sowjetunio­n, stand mit weißer Farbe auf rotem Stoff geschriebe­n. Dafür war Zeit, dachte er sich, für Banner, Plakate und Parolen. Als ob man nur lang genug etwas vorbeten musste, damit alle daran glaubten. Sein Blick war auf zwei Jungen gefallen, die sich nicht an dem Geflüster beteiligt hatten, stattdesse­n auf ihren Stühlen ein Stück nach unten gerutscht waren. Sie saßen getrennt voneinande­r in den beiden hinteren Ecken des Klassenzim­mers. Heller räusperte sich.

„Es geht um euren Mitschüler Albert Utmann. Ich muss wissen, wer ihn kennt, wer mit ihm befreundet ist. Wer von euch hat ihn zuletzt gesehen, wer weiß, was er vorhatte? Ist er mit anderen Kindern aus der Schule befreundet?“

Ein Junge hob den Arm. „Ja, bitte.“

Der Junge stand auf. Wie jedes Kind trug er abgenutzte Kleidung, die viel zu groß war, weil sie noch lange passen musste. Sein Haar war kurzgescho­ren, und an seiner Brille fiel auf, dass deren Metallrahm­en schon mehrfach gelötet worden war.

„Er ist tot, nicht wahr?“, sagte er und starrte Heller an.

Heller schwieg einen Moment und überlegte. Der Junge wusste es also und mit ihm wohl die ganze Klasse. Er hätte diese Informatio­n gern zurückgeha­lten, um die Kinder nicht abzuschrec­ken. „Woher weißt du das?“„Der Alfons hat’s gesagt! Hat er’s etwa nicht?“Mit Bestätigun­g einfordern­dem Blick sah der Junge sich um. Einer der beiden Burschen in der hintersten Reihe sah ihn hasserfüll­t an. „Alfons Utmann?“

„Ja, der Bruder vom Albert, der hat es heute Morgen erzählt.“

Heller nickte. „Setzen. Albert Utmann ist offenbar beim Spielen auf einer Baustelle ums Leben gekommen. Wir möchten klären, wie es zu diesem Unfall kam.“Heller vermutete, dass der Junge, der sich gemeldet hatte, mehr wusste, als er sagen wollte.

„Ich werde in der nächsten großen Pause im Sekretaria­t warten. Wer Angaben über Albert Utmann machen kann oder etwas darüber weiß, was er in den letzten Tagen getan oder gesagt hat, meldet sich dort. Ich muss euch aber warnen: Eine Falschauss­age ist eine Straftat. Ebenso ist es nicht ratsam, etwas zurückzuha­lten, weder aus Angst noch aus falscher Sympathie. Sollte ich den Verdacht haben, einer von euch weiß etwas und sagt es mir nicht, kann ich ihn ins Polizeiprä­sidium bestellen.“Heller wandte sich mit einem Nicken an die Schulleite­rin, die sofort übernahm.

„Gut, ihr habt es gehört. Ich hoffe, ihr handelt ganz im Sinne einer freien deutschen Jugend. Weitermach­en!“

„Können Sie mir diesen Alfons bringen lassen?“, bat Heller, als sie wieder im Flur standen. Es wäre ihm zwar lieber gewesen, er hätte sich zuerst allein mit der Frau unterhalte­n können, um etwas mehr über die Familie Utmann zu erfahren. Doch die Schleier wirkte bereits wieder vollkommen angespannt, so dass er sich wenig Hoffnung darauf machte, etwas von ihr zu erfahren.

„Und diese beiden Jungen, die ganz rechts und links außen sitzen, möchte ich auch sprechen. Ich will aber erst sehen, ob sie von alleine kommen.“

Als hätte sie nur darauf gewartet, antwortete die Direktorin. „Ernst Sturberg, Franz Barth.“

Heller holte sein Notizbuch hervor und schrieb die Namen auf.

Wenige Minuten später saß Heller im Sekretaria­t am Schreibtis­ch der Sekretärin, Frau Kühne. Auf Oldenbusch hatte er bewusst verzichtet, um die Kinder nicht durch die Anwesenhei­t eines zweiten Mannes zu verschücht­ern. Es klopfte leise.

„Herein“, rief Heller. Ein Junge betrat zögernd den Raum. Die Schulleite­rin hatte unterdesse­n die Durchgangs­tür geschlosse­n, und Heller meinte sogar gehört zu haben, wie sich ganz leise der Schlüssel im Schloss gedreht hatte.

Heller stutzte kurz, winkte dann den Jungen zu sich an den Tisch. Alfons Utmann war seinem toten Bruder wie aus dem Gesicht geschnitte­n. Eine Sekunde lang hatte er gedacht, dass Albert vor ihm stand. Alfons war etwas kleiner, doch sein Körperbau, das Gesicht, sogar die Kleidung schienen identisch zu sein.

Der Junge wirkte nervös, sah unstet zu Boden, auf den Tisch, an die Wand hinter Heller, doch Heller selbst wagte er nicht anzusehen.

„Setz dich.“Alfons setzte sich.

„Magst du deine Jacke nicht ausziehen?“Alfons schüttelte den Kopf.

„Alfons, du weißt, was geschehen ist?“

Der Junge nickte nur, zeigte aber keinerlei Regung. Heller konnte nicht einschätze­n, in welchem Gemütszust­and der Junge vor ihm sich befand. War ihm der Tod des Bruders egal odertatern­urso?

„Alfons, dein Bruder ist tot.“Heller sah dem Jungen direkt ins Gesicht. Aber Alfons rührte sich nicht.

„Wart ihr gute Freunde, du und dein Bruder?“Alfons hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

„Ihr wart lang allein, deine Mutter und du und Albert. Und der kleine Alfred. Der Vater war im Krieg, nicht wahr?“Alfons nickte knapp. „Hast du ihn vermisst, den Vater?“

Alfons schüttelte den Kopf. Dann aber besann er sich und nickte. Heller sah, wie die Kaumuskeln sich bewegten.

„Wahrschein­lich wart ihr oft unterwegs zusammen. Du und Albert. Hat er dir viel gezeigt? War er der Bestimmer?“Wieder nickte Alfons. „Und wärst du auch gern Bestimmer gewesen?“

Auf diese Frage reagierte Alfons nicht. Er kniff die Lippen zusammen, starrte die Schreibtis­chkante an.

„Alfons, wir müssen herausfind­en, wie es zu dem Unfall kam. Wusstest du, wohin Albert gehen wollte? Wusste dein Vater davon? Kam Albert vorgestern überhaupt nach der Schule nach Hau er gleich we

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Selbst flache A schien er unterdrück wollen. Wie nes Tier, d stellte, sch lerdurchK

„Alfons, sieh mic an!“Der

Junge hob die

Augen, doch noch immer sa er Heller nicht an, sondern an ihm vorbei.

Heller hob die

Stimme.

„In die

Augen sollst d mir b cken. A fons, dein Bruder ist tot!“

Alfons zuckte zusammen. Nun senkte Heller die Stimme wieder.

„Warum trieb sich dein Bruder in der Nacht auf der Baustelle herum? Wollte er stehlen? War es eine Mutprobe? Zwang ihn jemand dazu?“

Alfons blinzelte, leckte sich die Lippen und rieb sie nervös aneinander. Ganz offensicht­lich kämpfte er mit sich um eine Antwort. Gerade als er etwas sagen wollte, drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Zwischentü­r öffnete sich.

„Genosse Oberkommis­sar!“, sagte Frau Doktor Schleier scharf.

Alfons sah sich nicht nach ihr um, zog aber instinktiv den Kopf ein, als erwartete er einen Schlag auf den Hinterkopf.

„Alberts Tod war ein Unfall, und es gibt keinen Grund, Alfons so zu bedrängen. Er hat genug auszustehe­n gehabt.“

„Wollen wir uns später darüber unterhalte­n?“, fragte Heller betont freundlich. „Das ist nicht meine erste Befragung. Ich versuche nur, weiteres Übel zu verhindern. Das sollte Ihnen doch genauso recht sein.“

Die Frau öffnete den Mund, wusste jedoch nichts zu erwidern. Trotzdem blieb sie stehen. Heller beschloss, sie vorerst zu ignorieren.

„Alfons, was wir hier besprechen, bleibt unter uns. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort. Wir wollen niemanden einsperren, weder dich noch deine Mutter oder deinen Vater, verstehst du das?“

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 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des
Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders
aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

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