„Sind wir einer Kinderbande auf der Spur?“
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 13. Teil
Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsreform in Ost und West die Teilung Deutschlands festigt, wird die Stadt mühsam wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenommen, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfrau. Was bisher geschah: Oberkommissar Max Heller hadert mit seiner Arbeit: Plünderung, Raub und Totschlag, wenig Erfolge. Dann wird eine Leiche auf einer Baustelle gefunden. Offenbar fiel der Jugendliche von einem Kran, sein Körper ist mit Hämatomen übersät. Heller klappert Schulen ab. Direktorin Dr. Schleier identifiziert den Toten als Albert Utmann. Auf der Suche nach dem Haus der Familie wird Heller vor dem Vater gewarnt. Er stellt fest: Auch Mutter Alma Utmann hat Angst vor ihrem Mann Karl, einem Kriegsheimkehrer, der seine Familie offenbar schlägt. Heller begibt sich zur Schule, wo auch Alberts Bruder Alfons unterrichtet wird. Er unterzieht Alfons einer Befragung und fordert die anderen Schüler auf zu verraten, was sie eventuell wissen. Einer berichtet, das Albert genau gewusst habe, „wo man gutes Zeug herkriegt. Zigaretten und Schnaps. Schokolade und Marken. Massenweise!“
19. Juni 1948, früher Nachmittag
Oldenbusch ließ sich auf den freien Stuhl in Hellers Kellerbüro fallen, lockerte seine Krawatte und knöpfte den Hemdkragen auf.
„Hier ist es wenigstens kühl. Diese Wärme bringt mich um“, murmelte er. „Dem ansässigen Revier zufolge gibt es eine lange Liste von Straftaten im näheren Umkreis. Einbrüche, Diebstähle, mutwillige Zerstörung, vor allem von Plakaten und Transparenten, zerworfene Fensterscheiben. Es sind dabei schon einige Personen aufgegriffen worden, meist Kinder, darunter auch einige von denen, die auf der Liste stehen. Sturberg, Koslowski, Barth, Geißler. Wegen der Geringfügigkeit der Vergehen wurden keine Anzeigen erstattet. Es gibt aber auch drei ungeklärte Fälle von bewaffneten Überfällen in den letzten vier Monaten. Dabei wurden Pistolen verwendet, aber kein Gebrauch von ihnen gemacht. Die Täter hatten ihre Gesichter unter Mützen und Tüchern verborgen. Nach Angaben der Überfallopfer muss es sich dabei um junge Leute gehandelt haben. Die Beute bestand meist aus Essbarem und Geld. Sturberg und Barth sind noch abgängig. Ihre Mütter wissen nicht, wo sie sich aufhalten, oder geben zumindest vor, es nicht zu wissen. Beide sagten aus, ihre Söhne wären in der letzten Nacht daheim gewesen.“
Heller überlegte. Zu dem Fall mit der aufgeflogenen Diebesbande lagen ihnen zwei Fälle von räuberischem Totschlag vor. Eine Frau hatte ihre Nachbarin erschlagen, weil sie auf deren Geschirr, Gardinen und Bettzeug aus war. Sie bestritt die Tat, aber alle Indizien sprachen gegen sie, sogar die Initialen der Nachbarin waren ins Bettzeug gestickt. Nun saß sie in Untersuchungshaft. Es galt, den Fall gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft für eine Anklage vorzubereiten. Bei dem zweiten Fall gab es kaum Aussicht auf Aufklärung. Ein Mann war auf offener Straße niedergeschlagen und beraubt worden. Der Mann war seinen Verletzungen erlegen, es gab keine Zeugen. Der Täter konnte jeder sein, der imstande war, eine Eisenstange auf den
Kopf des Opfers zu schlagen. Und noch während Heller am Vormittag in der Schule recherchiert hatte, waren zwei neue Fälle von
Raub auf seinem Schreibtisch gelandet. Dazu dann noch der Tote im Schacht. Es gab also genug zu tun.
Doch der Junge war wichtig. Hatte Albert sich wegen seines Vaters umgebracht, weil er es nicht mehr aushalten konnte? Wollte er ein Zeichen setzen, einen letzten Hilferuf, um wenigstens seine Mutter und seine Geschwister zu retten? Heller klopfte gedankenverloren mit dem Bleistift auf den Schreibtisch. Er durfte sich nicht in diese Idee verrennen, er musste objektiv bleiben. Dieser Fall hier hatte nichts mit seinem eigenen Leben zu tun. Heller hörte Oldenbusch schniefen. Das war seine Art, dezent auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen.
„Sind wir nun also einer Kinderbande auf der Spur?“, fragte Heller. „Immerhin wäre das ein ganz neuer Fall, den die Staatsanwaltschaft erst eröffnen müsste. Und möglicherweise müsste sich eine andere Abteilung damit befassen, weil wir hier mit Kapitalverbrechen ausreichend beschäftigt sind. Wenn wenigstens Kassners Bericht bald käme.“
Oldenbusch nickte mitfühlend. „Chef, ich sehe Ihnen doch an, dass dieser Utmann Sie beschäftigt. Aber viele Kinder werden geschlagen, daran können Sie nichts ändern.“
Heller schloss für einen kurzen Moment die Augen, um die Wut zu bekämpfen, die in ihm aufflammte. Er wusste, Oldenbusch meinte es gut.
Oldenbusch interpretierte Hellers Reaktion ausnahmsweise mal nicht richtig. „Vielleicht hat sich die Frau wirklich den Kopf an der Tür eingeschlagen?“
„Werner!“, rief Heller. „Wollen Sie mich zum Narren halten?“Doch ehe er weitersprechen konnte, klingelte das Telefon. Heller nahm sofort ab.
„Wir kommen“, sagte er dann knapp, legte auf und stand auf.
„Kommen Sie, Werner. Wir müssen zum Revier auf der Münchner Straße. Dieser Franz Barth ist aufgetaucht und möchte eine Aussage machen.“
Heller hatte hinter dem Schreibtisch des Oberwachtmeisters vom Revier Platz genommen. Oldenbusch saß seitlich am Tisch und schrieb für Heller mit. Franz Barth stand Heller gegenüber vor dem Tisch. Heller hatte ihn absichtlich nicht sitzen lassen.
Nun stand also der Junge, fast schon ein junger Mann, mit den Händen an der Hosennaht, wie er es im Dritten Reich gelernt hatte. Heller wartete, bis Oldenbusch seine Aufzeichnungen beendet hatte. Barth hatte eine ganze Menge auszusagen gehabt. In der entstandenen Stille war nur das Kratzen von Oldenbuschs Stift auf dem schlechten Papier zu hören. Barth, dessen öliges Haar viel zu lang war, starrte die Wand direkt über Hellers Kopf an. Heller ließ den Jungen nicht eine Sekunde aus dem Auge. Dann setzte Oldenbusch hörbar einen letzten Punkt. Heller zählte innerlich von zehn abwärts.
„Du gibst also an, zu einer Bande zu gehören, die nach der Schule und manchmal auch nachts durch die Gegend streift“, begann er schließlich.
„Jawohl, Herr Oberkommissar“, bestätigte der Junge mit tiefer Stimme.
„Und zu dieser Bande gehören neben dir Ernst Sturberg, Reinhard Koslowski, Herbert Schütz, Wilfred Kleiber, Manfred Geißler …“Heller deutete auf die Liste.
„…Fred Müller und Helmut Burgmeister“, setzte Oldenbusch fort.
„Jawohl, Herr Oberkommissar. Und andere, die ab und zu dabei sind.“
„Und ihr stellt lediglich ein paar Dummheiten an, wie du sagst, nichts Schlimmeres?“
„Nur Dummheiten, Herr Oberkommissar.“
„Einbrechen und Stehlen nennst du also auch Dummheiten?“
„Nein, so was tun wir nicht! Wir werfen Scheiben ein und haben auch schon Dreck an die Plakate geworfen. Aber da hat man uns erwischt und wir mussten neue Plakate machen und eine Strafarbeit schreiben darüber, wie sich eine sozialistische deutsche Jugend zu verhalten hat.“
„Und obwohl ihr anscheinend wisst, wie sich ein sozialistischer Jugendlicher zu verhalten hat, streunt ihr durch die Gegend, besteht Mutproben und beschädigt Volkseigentum?“Der Junge wurde immer nervöser, seine Hände öffneten und schlossen sich. Er wusste nichts darauf zu antworten, zuckte mit den Achseln und versuchte es mit einem schiefen Lächeln.
Heller fragte weiter. „Und du bist der Anführer? Oder macht ihr das gemeinsam, du und Sturberg?“
„Jawohl! Also ich.“„Warum?“
„Ich verstehe nicht …“„Warum bist du Anführer?“„Das hat sich so ergeben, Herr Oberkommissar.“
Heller ging nicht weiter darauf ein. „Gestern Abend, sagst du, seid ihr alle zu Haus gewesen, und ihr wusstet nichts davon, dass Albert Utmann in der Nacht unterwegs war? Auch nicht, was er vorhatte oder wohin er wollte?“Heller ließ den Jungen nicht antworten. „Stimmt es, dass Albert bei euch mitmachen wollte? Stimmt es, dass man Mutproben bestehen muss, wenn man bei euch dabei sein will? Ich warne dich, lüg nicht.“
Jetzt lächelte Barth leicht. „Das ist nichts Schlimmes.“
„AufeinenKranzuklettern? Etwas ste den ausrau
„Nein, s doch nich mals!“
„Nein? D zähl!“
„Also, b muss man spiel in e übernachte zwar in ein noch Tote
Keller sind
„Das ist streng verboten!“, donnerte
Heller.
„Das wussten nicht, He
Oberkommissar!“, schoss es aus
Barth heraus.
„Dann muss ich wohl euren Lehrer zur Rede stellen, da er euch nicht gesagt hat.
„Nein, ich meine …“„Wissen deine Eltern, dass du Anführer einer Bande bist?“, fragte Heller.
„Mutter weiß das nicht und der Vater ist tot.“Barth schluckte, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. „Und wenn wir klauen, also wenn wir mal klauen, dann nur, damit wir was zu essen haben.“
Heller atmete durch. Wie sollte man all diesen jungen Menschen, deren Köpfe noch voller Nazispuk und deren Väter im Krieg geblieben waren, beibringen, was gut und richtig war? Sie konnten einem eigentlich allesamt nur leidtun.
„Also gut, wenn du vorgibst, von gestern Abend nichts zu wissen, warum bist du hergekommen?“, lenkte Heller jetzt ein.
„Also, der Albert hat so Andeutungen gemacht. Er wüsste, wo groß was zu holen sei. Und wie man da rankommt. Er hat gesagt, dass er so was schon oft gemacht hat, nur eben nicht so groß. Er wollte, dass wir mitmachen. Schmiere stehen, tragen, vielleicht ’ne Tür knacken. Wir wollten aber nicht, das war uns zu heiß. Dann hat er versucht, uns zu ködern, mit Schokolade, Zigaretten und Marken, Brotmarken. Aber wir haben ihm das trotzdem nicht abgekooft.“
„Wie meinst du das, ihr habt ihm nicht geglaubt oder ihr hattet Angst?“
„Beides, irgendwie so …“Barth hob beinahe entschuldigend die Schultern.
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