Plötzlich eine Explosion
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 20. Teil
„Klaus, ich halte es für möglich, dass der Junge freiwillig in den Tod ging, um seinem Vater zu entkommen.“
Sein Sohn senkte den Kopf zu einem unvollständigen Nicken. Vielleicht war es aber auch nur eine Geste, die zeigte, dass ihn dieser Gedanke nicht kaltließ.
Dann sog er Luft durch die Nase. „Wir glauben, dass Karl Utmann möglicherweise die Bande organisiert und sie zum Diebstahl und zur Sabotage animiert. Vielleicht hat er seinen Sohn auf den Kran geschickt, um ihn das Seil manipulieren zu lassen.“„Womit?“
„Einer Eisensäge, um das Seil anzuschneiden.“
„Wir haben keine Säge gefunden“, warf Oldenbusch ein, obwohl Hellers Blick ihn zum Schweigen verdonnert hatte.
„Die hat sein Vater vielleicht entfernt oder einer der Jungen.“
Heller ließ Klaus nicht aus den Augen. Was wohl in seinem Sohn vor sich ging? „Wisst ihr etwas von einem Mann unbestimmten Alters, in Anzug und Weste gekleidet, mit Geheimratsecken und spitzem Bart?“
Klaus runzelte die Augenbrauen. „Nein.“
„Er soll Kinder auf dem Schulhof angesprochen und nach Albert oder wenigstens den Utmanns gefragt haben.“
Klaus ernste Miene wich einer Art Belustigung und ungläubigem Staunen. „Nein, von einem solchen Mann wissen wir gar nichts.“Plötzlich erhob er sich. „Ich würde gern am nächsten Wochenende zu Besuch kommen. Ist euch das recht? Ich bringe etwas zum Essen mit. Es wird aber nicht für alle genügen.“Klaus streckte ihm die Hand hin.
Heller erhob sich und nahm die Hand seines Sohnes.
„Komm nur, wir freuen uns.“Forschend sah er Klaus in die Augen, suchte nach etwas, das ihm vielleicht verborgen geblieben war. Ihm konnte nicht egal sein, was mit dem Jungen geschehen war.
Nun hellte sich Klaus’ Gesicht ganz auf. „Ich spiele übrigens wieder Fußball.“
„Ach ja? Das ist ja wunderbar. Bei Guts-Muts?“
„Dresden Johannstadt. Ja, zuerst nur Training, aber bestimmt darf ich bald spielen. Am siebenundzwanzigsten Juli ist übrigens Halbfinale der Zonenmeisterschaft, im Ostra-Gehege. Vielleicht wollt ihr mitkommen. Ich will sehen, dass ich Eintrittskarten bekomme.“
„Gern, Klaus, sehr gern. Gib uns Bescheid, du weißt, deine Mutter mag Fußball. Bestimmt freut sie sich zu hören, dass du spielst. Sag es ihr doch selbst. Ich werde es für mich behalten.“
Klaus nickte, und zum ersten Mal, seit sein Sohn aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, hatte Heller das Gefühl, er hätte sich ein wenig geöffnet.
Klaus löste den Handschlag und nickte Oldenbusch zu, der den Weg zur
Tür frei machte.
Da fiel Heller noch etwas ein. „Ach, Klaus, hast du eigentlich den Heinz mal getroffen? Er hat mich nach dir gefragt.“Klaus blieb stehen. „Der Seibling, Heinz? Ihm fehlt ein Bein. Der ist in der Bautzner, wegen Schmuggel und aufrührerischer Reden.“
„Der Heinz, auf der Bautzner Straße, in Haft?“
„Mit seiner Festnahme hatte ich nichts zu tun. Ich erfuhr es nur. Ich habe ihn kurz gesprochen.“Klaus zögerte. „Er war nicht mein bester Freund, früher“, fügte er leise hinzu. Dann verließ er den Raum.
Oldenbusch hatte sich auf den frei gewordenen Stuhl gesetzt. „Woher haben die so schnell erfahren, dass Utmann hier ist?“
Heller erhob sich und ging zum Fenster, um es nun doch zu öffnen. Sofort umfing ihn der hohe Geräuschpegel tuckern der Dieselmotoren, klingender Ketten der Treidler, die mangels Treibstoff und Maschinen wie vor zweihundert Jahren per Hand oder mit dem Pferd kleine Kähne die Elbe hinaufzogen. Das Klirren der Hämmer war zu hören, die quietschenden Lorenbahnen, das Knattern von Presslufthämmern, das Poltern der Steine, das schrille Kreischen der Straßenbahnräder in den Kurven. Doch er war bereit, das und die staubige Luft auszuhalten, wenn sich dadurch wenigstens der Geruch der russischen Zigaretten ein wenig verlor.
„Nun, wenn sie Utmann überwachen, bleibt es wohl nicht aus, dass sie davon wissen.“Heller wischte über den Schreibtisch, betrachtete missmutig die Spuren, die er dabei im Staub hinterließ.
„Was ist er denn, Ihr Junge? Leutnant, oder Kommissar?“, fragte Oldenbusch und ein leiser Vorwurf klang in der Frage mit.
Klaus hatte schnell Karriere gemacht. Heller erwiderte nichts, er musste nachdenken. Darüber, wie er mit der Bitte umgehen sollte, Utmann und all die Jungen unbehelligt zu lassen.
„Dass der Seibling in Haft ist, gefällt Ihnen nicht“, stellte Oldenbusch fest.
„Haben Sie denn etwas über die Karten in Erfahrung bringen können?“, fragte Heller dagegen. Oldenbusch nickte und fragte nicht weiter, stattdessen holte er einen vergilbten Zettel aus seiner Mappe.
„Die Brotkarten und auch die Raucherkarten zeigen keinerlei Anzeichen dafür, dass die gefälscht sind. Entweder sind es also sehr gute Fälschungen oder aber sie sind echt. Ich habe im Ernährungsamt anfragen lassen, ob es in letzter Zeit zu einem Diebstahl kam. Der Amtsleiter ist ein Herr Hempel, Edwin Hempel. Parteimitglied, soweit ich weiß.“„Ein Nazi?“, fragte Heller. „Nein, SED.“Oldenbusch lächelte verwundert. Heller schüttelte nur den Kopf. Die andere Partei. Die andere Polizei. Man müsste eigentlich lachen über die Absurdität, wenn es nicht so tragisch wäre.
„Was sagt dieser Hempel?“„Die Anfrage muss geprüft werden.“Oldenbusch hob entschuldigend die Schultern.
Heller war nicht zufrieden. Kassner meldete sich nicht. Und im Amt musste erst geprüft werden, ob ein ganzer Stapel Lebensmittelkarten abhandengekommen war. Ein wahres Vermögen für einen einzelnen Mann.
„Und das Geld? Wie viel ist es?“
„Siebentausend Reichsmark. Es gibt jedoch keinen Grund, warum Utmann das Geld nicht gehören sollte.“Oldenbusch verzog den Mund, „es ist nicht verboten, sein Geld in seinem Haus zu verstecken.“
„Und nun?“, fragte Heller ungehalten. Sein Unmut galt nicht Oldenbusch. Doch der fühlte sich angesprochen.
„Wir sollten Utmann gehen lassen, wenn wir nicht der DVdI ins Handwerk pfuschen wollen.“
„Wir können nur hoffen, dass Alfons wieder heim findet und dass Utmann ihn nicht totschlägt.“So hatte Heller sich nicht vorgestellt, dass die Woche endete. „Dann veranlassen Sie, dass Utmann gehen darf. Und am Montag besuchen wir diesen Hempel.“
20. Juni 1948, Nachmittag
„Max!“
Heller öffnete die Augen. Karin hatte nach seiner Hand gefasst und deutete auf Anni, die hochkonzentriert eine Ameisenstraße betrachtete. Sie war dazu in die Hocke gegangen. Ihre mageren Knie ragten unter dem Kleidersaum hervor. Wie klein das Mädchen wirkte, dachte Heller bei sich.
„Was für eine Geduld sie hat“, sagte Karin und lächelte. Nach einem anstrengenden Sonntagvormittag hatte sich Heller auf seinem hölzernen Gartenklappstuhl weit zurückgelehnt und war im Schatten eingedöst. Sie hatten Holz holen müssen. Später hatte er am Kaninchenstall im Waschhaus gebaut, die Türen gerich ausgemistet gemacht,
Anni mit der Ausdauer, m sie die Am beobachtete, große Weiße chelte. Sie es schlacht sen, irgendw versuchte, nicht daran denken. E wusste, es würde an ihm hängen bleiben.
Währenddessen hat ten Karin u
Frau Marqua die ersten
Beeren in den Büschen gepflückt.
Bestimmt hätten sie noch eine
Weile reifen können.
Doch besser man pflück sie selbst, ein anderer es tat. In der Nacht.
Ein dumpfer Donner wie ein fernes Gewittergrollen schreckte die beiden auf. Karin sah ihn erschrocken an.
Heller lief ins Haus, rannte die Treppen hoch und warf aus dem Treppenhausfenster in Annis Schlafnische einen Blick über das Elbtal. Karin folgte ihm mit Anni auf dem Arm, die dafür schon recht schwer geworden war. Auch Frau Marquart, die in ihrem Zimmer geschlafen hatte, kam dazu.
„Da ist ein Blindgänger detoniert. Eine Sprengung am Sonntag wäre ungewöhnlich“, mutmaßte Heller.
„Da!“Im Südwesten stieg eine graue Rauchwolke langsam in den Himmel auf. Heller atmete aus und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm der Donner unter die Haut gefahren war.
20. Juni 1948, Nacht
Unruhig wälzte sich Heller im Schlaf. Er wusste, er befand sich in einem Traum, wie er das immer wusste. Doch wie er sich nicht wehren konnte gegen die Erinnerungen an blutigen Schlamm, an Ratten und an das ewig hämmernde Feuern französischer Kanonen, deren Geschosse tagelang systematisch die ganze Front umgruben und ihn gemeinsam mit einem Dutzend Kameraden in den hölzernen Unterstand zwangen, so konnte er sich auch nicht gegen diesen Traum wehren.