Noch immer tötet dieser Krieg
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 24. Teil
„Kenne ich, ja.“Niesbach schob die Zeitungen beiseite.
„Ein wichtiger Mann. Zeichnete sich im Dritten Reich durch unerschütterliche Standhaftigkeit aus. Vier Jahre KZ überlebt. Folter. Hunger.“
Heller rieb sich das Kinn. „Mir scheint, er hält mich in einer Angelegenheit ein wenig hin.“Er wollte es erst einmal diplomatisch versuchen.
Niesbach nickte. „Ich weiß darüber Bescheid.“
„Ich bekam die Information, einen Vergabestellenleiter namens Glaser zu überprüfen …“
„Von Hempel?“, fragte Niesbach schnell und leichte Verwunderung schwang in seinen Worten mit.
Heller gab ihm keine Antwort, sondern sah seinen Vorgesetzten nur an.
Es funktionierte. Niesbach verlor das Duell, kaum dass es begonnen hatte. „Vermutlich wollen Sie wissen, wie Sie damit umgehen sollen. Gehen Sie dem nach, Heller. Ich will Ihnen nur raten …“, Niesbach suchte nach Worten, „Hempel ist ein wichtiger Mann.“
Heller seufzte und stand auf. Niesbach erhob sich mit ihm.
„Haben Sie gestern die Detonation des Blindgängers gehört?“, fragte er. „Allerdings.“
„Zwei Jungen sind dabei ums Leben gekommen. Dabei war die Fundstelle markiert und abgesperrt, die Bombe sollte noch am Abend abtransportiert werden.“Niesbach war sichtlich betroffen. „Noch immer tötet dieser Krieg, obwohl er längst vorbei ist.“
Heller schwieg. Er wusste, dieser Krieg war noch nicht zu Ende, besser gesagt ein neuer hatte längst begonnen.
Heller nickte seinem Vorgesetzten kurz zu und machte sich auf den Weg in seine Schreibstube. Er fühlte sich niedergeschlagen und war voller Unruhe, weil ihm der Gedanke an das
Geld nicht aus dem Kopf ging.
Oldenbusch erwartete ihn bereits.
„Schon fertig mit der Recherche?“, fragte Heller. Oldenbusch schüttelte knapp den Kopf. „Schlechte Nachrichten! Wir müssen zur Schule.“
Frau Doktor Schleier sah Heller vorwurfsvoll an, als sei er allein für alles verantwortlich. Mit sichtbarem Unbehagen hatte sie die beiden Polizisten in ihrem Büro begrüßt, wo ein weiterer Mann anwesend war. Heller schätzte ihn auf siebzig. Er war steif und würdevoll und trug Vorkriegskleidung, einen Anzug, der beinahe wie ein Frack aussah. Er stellte sich als Oberstudienrat Dorfler vom Schulamt vor.
Da setzte sich die Schulleiterin an ihren Tisch, legte ihre Brille ab und verbarg das Gesicht in beiden Händen. Dorfler starrte auf das Plakat an der Wand. Oldenbusch kratzte sich nervös einen imaginären
Fleck von der Hose.
Und Heller wünschte sich, er würde damit aufhören.
Schließlich reichte es ihm und er räusperte sich. „Frau Doktor Schleier, wir müssen zur Sache kommen. Oder erwarten wir noch jemanden?“
Die Schulleiterin nahm die Hände herunter, schüttelte den Kopf und setzte die Brille wieder auf. Ihre Gesichtshaut war gerötet und der Abdruck ihrer Hände blieb einige Sekunden sichtbar, bevor er verblasste.
„Ich gehe davon aus, dass unsere Lehrer die Schüler im Umgang mit Waffen, Munition und Munitionsteilen instruiert haben. In den Klassenbüchern jedenfalls ist diese Belehrung in allen Klassenstufen hinterlegt. Da der Bombenfund, wie ich hörte, markiert war und das Gelände abgesperrt, muss ich davon ausgehen, dass die Jungen absichtlich in den abgesperrten Bereich eindrangen. Warum die Bombe explodierte, ist noch nicht geklärt.“Die Frau nahm die Brille wieder ab, rieb sich die Augen. Entweder machte sie der Tod der Kinder schwer betroffen oder aber sie fürchtete sich vor drohenden Konsequenzen.
„Wie sicher wissen Sie denn, dass es sich bei den Jungen um Schüler Ihrer Oberschule handelt?“, fragte Heller. „War es eine dieser Mutproben gewesen?“
Die Schulleiterin setzte die Brille wieder auf, warf einen kurzen Blick auf den Oberstudienrat, der sich aber bis jetzt zurückhielt. „Heute fehlten sieben Kinder zum Unterricht. Herbert Schütz, Ernst Sturberg, Manfred Geißler, Franz Barth. Alles Schüler einer Stufe. Dann Alfons Utmann.“Schleier sah kurz zu Heller auf, anscheinend um seine Reaktion zu sehen.
„Außerdem noch Johanna Zeil und Bernhard Koslowski, der große Bruder von Reinhard.“
„Es besteht also bei allen Kindern, außer vielleicht dem Mädchen, ein möglicher Zusammenhang zu der Bande.“Heller hatte laut gedacht, um Oldenbusch Zeit zu geben, seine Notizen zu beenden.
Frau Schleier stöhnte auf, als leide sie Höllenqualen. „Johanna Zeil wird eine enge Freundschaft zu Ernst Sturberg nachgesagt. Sie … es heißt, sie hätte schon eine Abtreibung durchführen lassen.“
„Wie alt ist sie?“, fragte Heller. Eigentlich wollte er der Frau ein wenig Raum verschaffen. Allein die Anwesenheit von drei Männern in ihrem Büro schien bei der Direktorin Angstzustände auszulösen. Wahrscheinlich litt auch sie an einer Neurose. Heller wusste, was das bedeutete.
„Vierzehn“, erwiderte die Schulleiterin knapp.
„Werner, gehen Sie ins Nebenzimmer und rufen Sie beim Revier an. Jemand soll die Adressen der fehlenden Kinder anfahren.“
„Aber …“, hob Oldenbusch an.
Heller wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung weg. Diese Sache bedurfte einer kriminalistischen Untersuchung, keiner politischen. Oldenbusch stand auf und verschwand in das Nebenzimmer.
„Nehmen Sie Sturberg von der Liste“, bat Frau Doktor Schleier. „Er ist als einziger der Toten identifiziert. Die Polizisten vor Ort waren sich nicht sicher, ob es noch ein oder zwei weitere Opfer gibt, vielleicht mehr. Von der Zeil und dem Sturberg weiß ich aus sicherer Quelle, dass sie diese Nacht nicht daheim waren.“
Heller wollte die Frau erlösen und stand etwas unvermittelt auf.
„Vielen Dank. Jungblut und seine Klasse dürfen das Schulgebäude ohne meine Erlaubnis nicht verlassen.“
Da meldete sich auf einmal Oberstudienrat Dorfler zu Wort.
„Meinen Sie nicht, dass Sie Ihre Befugnisse überschreiten?“, fragte er.
Auf einen solchen Einwand hatte Heller schon gewartet.
„Sie haben natürlich recht, Herr Oberstudienrat. Dann veranlassen Sie das.“
Frau Doktor Schleier sprang wütend auf. „Nein, ich veranlasse das!“
Ein Polizist wollte ihnen den Weg versperren, als sie sich mit dem Ford der Reichenbachstraße näherten, wo die Explosion stattgefunden hatte. Das war nicht weit von der Russischen Kirche, die als beinahe einziges Gebäude im weiten Umkreis vom Bombenhagel fünfundvierzig verschont geblieben war. Mit ihren blauen Kuppeln und goldenen Kreuzen gab sie ein seltsames Bild ab inmitten der Trümmerflächen. Auch hier standen Schaulustige, hauptsächlich Kinder und Jugendliche. Über das Gelände stakten Polizisten mit großen Schritten, suchten den Boden ab, klaubten gelegentlich mit behandschuhten Händen etwas auf.
„Heller, Kripo!“Heller zeigte dem Uniformierten seinen Dienstausweis durch das geöffnete Seitenfenster, woraufhin dieser grüßte und den Wagen durchließ.
„Ist ein Sachverständiger vor
Ort?“
„Jawohl, da drin, der Herr im Blaumann.“Der Polizist deutete auf den Krater, der sich vor ihnen aufgetan hatte.
Heller stieg und näherte s tig dem Abb
Zwischen dem zen Schutt s er nach einem hinunter, den nem rechten muten konnte keinen. Am G etwa fünf M und im Durchm zwanzig Me großen Krater standen zwei
Männer, einer davon im blauen Arbeitsanzug, der ande re in Feuerwe uniform.
„Guten Tag“rief Heller. „Oberkommissar Heller, Kripo, wären Sie so freundlich, zu mir hinaufzukommen.“
Die Män ner nickte und kletter umsichtig hinauf. Heller reichte die Hand, ihnen über die letzten Meter aufgetürmten Schutts zu helfen.
„Berger, Feuerwehrhauptmann“, stellte sich der eine vor.
„Das ist Genosse Schuhmichel, unser Experte in Sachen Sprengmittelbeseitigung.“
Schuhmichel, ein kleiner, ernster Mann mit Glatze, zog schnell seinen ledernen Handschuh aus und reichte Heller die Hand. „Genosse Heller, inwiefern bist du informiert?“
Heller ignorierte es, dass er als Genosse bezeichnet und damit auch geduzt wurde. Er war es leid, sich ständig als Nichtparteimitglied erklären zu müssen. Was er überhaupt nicht mochte, war das Duzen. Das nahm einem die Distanz zu Leuten, die man gar nicht kannte.
„Ich wurde nur dazugerufen, da es sich bei mindestens einem der Opfer um einen Jugendlichen handelt, der im Fokus meiner Ermittlungen stand.“
Schuhmichel seufzte wie jemand, der zum wiederholten Mal dasselbe erzählen musste. „Vorgestern wurde bei Räumarbeiten der Fund einer nicht detonierten Luftmine gemeldet. Es handelte sich dabei um eine Sprengbombe mit einem Gewicht von etwa anderthalb Tonnen. Möglicherweise durchschlug sie das Dach des Hauses, welches dann nach weiteren Bombeneinschlägen einstürzte und die Mine unter sich begrub. Nachdem sie am Samstag gefunden wurde, sicherten wir das Gelände weiträumig, sperrten dafür die Werder-, Uhland- und einen Teil der Reichenbachstraße.“„Waren Posten aufgestellt?“
Schuhmichel kniff