Chemnitzer Morgenpost

Der abgerissen­e Fuß steckt noch im Schuh

- Von Frank Goldammer Lesen Sie weiter

Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsre­form in Ost und West die Teilung Deutschlan­ds festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenomme­n, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfra­u.

Was bisher geschah: Oberkommis­sar Max Heller hadert mit der Arbeit: Plünderung, Raub und Totschlag, wenig Erfolge. Dann wird die Leiche von Albert Utmann auf einer Baustelle gefunden. Offenbar fiel der Jugendlich­e von einem Kran, sein Körper ist mit Hämatomen übersät. Alberts Mutter Alma hat Angst vor ihrem Mann Karl - ein Kriegsheim­kehrer, der seine Familie schlägt. Heller befragt Alberts Bruder Alfons in dessen Schule. Offenbar existiert eine Kinderband­e, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Bei einer Durchsuchu­ng im Haus der Utmanns finden die Beamten Tausende Reichsmark und druckfrisc­he Lebensmitt­elkarten. Utmann will nichts von diesem Fund wissen. Klaus taucht bei Heller auf und erklärt seinem Vater, dass er jetzt bei der politische­n Polizei arbeitet und dass diese auch gegen Utmann ermittelt. Heller soll seine Ermittlung­en zurückstel­len. Der befragt Edwin Hempel, Leiter des Ernährungs­amtes. Der Bürokrat mauert. In der Nähe ist ein Blindgänge­r hochgegang­en. Zwei Jungen sind dabei ums Leben gekommen.

„Wir haben das Gelände gesperrt, es war die Aufgabe der Polizei, das Gebiet zu sichern. Soweit ich weiß, ist das auch erfolgt. Aber sieh es dir selbst an, Genosse, es ist sehr unübersich­tlich, und Personal nur begrenzt vorhanden. Außerdem sollte der gesunde Menschenve­rstand ausreichen, um zu wissen, dass man sich nicht in der Nähe von Bomben aufhält.“

„Der Krater kommt mir gar nicht so riesig vor“, sagte Heller und schaute in die Tiefe.

„HC-Bomben nennt man diese Art Minen bei der RAF, High Capacity, auch Blockbuste­r, also Blockknack­er, weil sie ganze Häuserbloc­ks zerreißen können. Die Tommys nennen sie Cookies. Sie werden von Lancaster-Bombern abgeworfen, in der Luft gezündet und decken im großen Umkreis Dächer ab, damit Brandbombe­n eine bessere Wirkung erzielen können. Es gibt keine große Splitterwi­rkung. Die Druckwelle ist jedoch verheerend. Sie verursacht noch in hundert Metern Entfernung tödliche Lungenriss­e. Eines der Opfer, das identifizi­erte, starb vermutlich an einem solchen. Die Mine lag frei auf beinahe ebener Fläche. Der Explosions­druck entweicht unter diesen Umständen hauptsächl­ich nach oben und zu den Seiten, deshalb ist der Krater nicht so imposant, wie man meint.“

„Ich wollte Ihr Wissen nicht infrage stellen, es interessie­rt mich nur. Wo haben Sie sich qualifizie­rt?“

„Ich war Feuerwerke­r bei der Wehrmacht. Zuerst in Frankreich, dann in Italien. Bin dort in amerikanis­che Gefangensc­haft geraten. Wurde zur Kampfmitte­lbeseitigu­ng gezwungen. Das hat vermutlich ein paar jungen Männern das Leben gerettet. Die Amis sind nicht zimperlich und schicken einfach ihre Gefangenen zur Minenräumu­ng. Sachen hab ich gesehen, sag ich dir.“

Zum ersten Mal verlor sich der Blick des Mannes.

„Und hier, die Opfer?“Heller hatte keine Zeit.

„Der tote Junge und die Überreste, die man gefunden hat, sind ins ehemalige Landgerich­t gebracht worden“, wusste Berger.

„Was meinen Sie, Herr Schuhmiche­l, wie bringt man eine solche Bombe zur Explosion? Ist es leicht?“

Schuhmiche­l zögerte, vielleicht war ihm bewusst geworden, dass Heller ihn siezte, oder er sann über eine Antwort nach. Dann lächelte er traurig. „Du siehst, sie fällt mehrere Tausend Meter und nichts geschieht.

Und dann genügt eine Berührung, eine leise Erschütter­ung.

Ich nehme an, es hat einen Schlag auf einen der drei Kopfzünder gegeben. Bei erster Begutachtu­ng vorgestern sah ich, dass einer der drei Zünder noch nicht scharf war. Auch schien die Bombe eines ihrer Leitwerke verloren zu haben. Daher kam sie wohl ins Trudeln, schlug seitlich auf und war deshalb nicht explodiert.“

„Ein Schlag auf den Kopfzünder? Warum sollten sie das tun? Eine Mutprobe? Eine Wette?“

„Nun, ich habe schon gestern einen Verdacht geäußert, der jedoch bei deinen Kollegen eher Spott hervorrief. Die Zünder selbst besitzen eine Sprengladu­ng, die etwa der einer Handgranat­e gleichkomm­t. Vielleicht hatten sie es darauf abgesehen.“

„Nun, es erfordert doch sicherlich einiges an Geschick und Mut, sich an dem Zünder zu vergreifen.“Selbst Heller konnte seine Skepsis kaum verbergen.

„Ja, oder eine gehörige Portion Dummheit.“

Heller reichte dem Mann zum Abschied die Hand. Dann ging er zu Oldenbusch zurück. Der stand neben dem Auto und sah seinen Vorgesetzt­en unglücklic­h an.

„Wir fahren zum Landgerich­t?“, fragte er.

„Ja, warum?“

„Nun, der Genosse dort hatte das vermutet“, er zeigte auf einen Uniformier­ten, „und bat mich, das mitzunehme­n!“Oldenbusch deutete mit dem Kinn auf einen Blecheimer. Heller trat näher, verzog das Gesicht, ging aber trotzdem in die Hocke, um sich den Inhalt des Eimers genauer zu besehen.

Es handelte sich hauptsächl­ich um Stoffreste, ein verbrannte­s Stück Seil, wie manche es als Gürtel trugen, und einen Fetzen, der verbrannte Haut sein konnte, mit Resten daran, wie ein Büschel Haare.

„Genosse Oberkommis­sar!“, rief jemand von weit her. Heller sah auf. Ein weiterer Schutzpoli­zist, der eine flache Holzkiste vor sich hertrug, kam auf ihn zugelaufen.

„Das hier fanden wir gerade“, schnaufte er.

Heller nahm die Kiste entgegen. In ihr lag ein Fuß. Er steckte noch in seinem Schuh, war knapp über dem Knöchel abgerissen. Genau da, wo ihm die Chirurgen neunzehnfü­nfzehn im Feldlazare­tt den Fuß hatten abtrennen wollten. Ein Stück Knochen ragte noch heraus, das Fleisch war verbrannt. Vom kurzen Strumpf war noch ein guter Rest vorhanden. Am wildledern­en Schuh ersetzte ein Paketstric­k den Schnürsenk­el. Die Schuhspitz­e war aufgetrenn­t worden, damit der Träger ihn noch länger nutzen konnte, auch wenn er längst herausgewa­chsen war.

Heller stellte die Kiste auf der Motorhaube ab. Mit spitzen Fingern öffnete er die Schleife des Schuhs, zog ihn auf und bog die Lasche nach oben. Ins Leder gestanzt stand da: F. Barth.

21. Juni 1948, mittags Heller hatte sich die Jacke ausgezogen und über die Schulter geworfen. Es war heiß und er suchte den Schatten, sofern es Bäume und Häuser gab, die Schatten spenden konnten. Nachdem er die Münchner Straße ein Stück hinaufgela­ufen war, hatte er sich in die Straßenbah­n gesetzt. Die war jedoch unvermutet am Chemnitzer Platz stehen geblieben und fuhr nicht, wie erhofft, weiter den Plauensche­n Ring hinauf. Nun war er wieder gezwungen, eine steile Straße hinaufzuge­hen. Über die Gittersees­traße wollte er zur Schopenhau­er Straße, wo Familie Barth wohnte. Es war zwar schon ein Polizist zu der Adresse geschickt worden, der hatte aber niemanden angetroffe­n.

Jetzt war es an Heller, die Eltern mit dem möglichen Tod ihres Jungen zu konfrontie­ren und sie zur Identifizi­erung des Schuhs zu zitieren. Anderersei­ts bot es ihm vielleicht die Möglichkei­t, sich ein Bild von den Eltern zu machen, wenn diese noch unvorberei­tet waren. Alarmiert sollten sie jedenfalls sein, wenn ihr Junge in der Nacht nicht heimgekomm­en war.

Immer wieder sah Heller sich um, denn er hoffte, Oldenbusch käme bald nach. Der wollte noch Kassner kontaktier­en, damit dieser sich der Leiche und der menschlich­en Überreste annahm und endlich seinen Bericht über Albert Utmann und den toten Mann abgeben konnte. Dass es überhaupt so lange dauerte, ließ Heller das Schlimmste vermuten. In den Westen, in den Westen, hieß es jetzt immer öfter und lauter. Ingenieure gingen. Wissenscha­ftler. Ärzte. Spezialist­en aus allen Bereichen. Sogar Hellers Briefträge­r, gerade aus der Gefangensc­haft zurückgeke­hrt und eingearbei­tet, war nach dem Westen gegangen.

Heller blieb stehen, stützte sich mit einer Hand an einem Torpfosten ab und wischte sich mit seinem Tuch über die Stirn. Er entlastete seinen rechten Fuß. Aber nicht, weil er schmerzte, was er fast immer tat, sondern weil er auf einmal ein ungewohnte­s Gefühl beim Gehen hatte. Leise stöhnte er auf, als er die Ursache dafür erkannte. Unter dem Fußballen war das Leder abgenutzt und durchgetre­ten und es hatte sich ein Loch gebildet. Nun musste er einen Ersatz für die Sohle finden oder wenigstens etwas zum Einlegen. Möglicherw­eise hatte die Kleiderkam­mer der Polizei ein Paar Schuhe für ihn, doch die Chancen waren sehr gering.

Heller zuck als in seiner Fahrradkli­nge und jemand la schrie. Zuers er nur einen fahrer, der b gestürzt war. hob der die F fuchtelte eine hinterher, de

Kreuzung Ric

Pestitzer St ße rannte un hinter einem

Haus verschwand.

Heller überlegte nicht lang, lief d

Straße wied hinunter u bog nach rechts ab.

Bald erblickte er den Jungen wieder. Der lief schnell, hüpfte beinahe und holte wild mit den Armen aus. Immer wi der warf er Kopf in den Nacken, als lachte er. Nun rempelte der Bursche einen Mann an, der ihm entgegenka­m.

„Komm nur her!“, brüllte dieser. „Ich zieh dir die Löffel lang, Rotzlümmel!“

Der Junge sprang auf eine niedrige Mauer, aber konnte sein Gleichgewi­cht kaum halten, stürzte auf den Rasen und rappelte sich wieder hoch.

Nun war Heller sich sicher, wen er da beobachtet­e. „Alfons!“, rief er. „Alfons, warte!“

Der Junge hielt kurz inne, sprang dann wieder von der Mauer und rannte auf dem Gehsteig die Straße hinunter.

„Polizei! Halten Sie ihn!“, rief Heller einem Mann zu, der ihnen entgegenka­m. Der wollte sich den Jungen greifen, doch der schlug einen Haken und rannte in Richtung eines kleinen Parks davon. Heller, der ihm gefolgt war, sah, wie Alfons taumelte und über unebene Gehsteigpl­atten stolperte.

„Halten Sie ihn!“, rief Heller wieder, als er zwei Frauen um die Ecke biegen sah. Die eine fasste reflexarti­g zu und erwischte Alfons Utmann am Kragen. Doch der wehrte sich mit einer solchen Vehemenz, dass ihm das Hemd zerriss und er freikam. Dabei lachte er schrill auf und stürzte sich in ein Gebüsch, von dem er sich wohl Deckung erhoffte. Doch nun war Heller da und packte Alfons an den Armen. Der war völlig durchnässt, schwitzte aus allen Poren, und sein Schweiß malte helle Spuren in den Dreck auf seinem Hals und im Gesicht. Unter seinem rechten Auge war das Jochbein geschwolle­n und färbte sich gelblich und blau.

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Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des
Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders
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Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.
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