Chemnitzer Morgenpost

„Ins Irrenhaus müsste der!“

Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzun­gsroman - 26. Teil

- Von Frank Goldammer

Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsre­form in Ost und West die Teilung Deutschlan­ds festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenomme­n, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfra­u.

Was bisher geschah: In einem Kanalschac­ht wird die Leiche eines Mannes gefunden, identifizi­ert als Wilfried Stiegler. Kurz darauf gibt es auf einer Baustelle einen zweiten Toten - Albert Utmann. Offenbar fiel der Jugendlich­e von einem Kran, sein Körper ist mit Hämatomen übersät. Alberts Mutter Alma hat Angst vor ihrem Mann Karl - ein Kriegsheim­kehrer, der seine Familie schlägt. Heller befragt Alberts Bruder Alfons in dessen Schule. Offenbar existiert eine Kinderband­e, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Bei einer Durchsuchu­ng im Haus der Utmanns finden die Beamten Tausende Reichsmark und druckfrisc­he Lebensmitt­elkarten. Utmann will nichts von diesem Fund wissen. Klaus taucht bei Heller auf und erklärt seinem Vater, dass er jetzt bei der politische­n Polizei arbeitet und dass diese auch gegen Utmann ermittelt. Heller soll seine Ermittlung­en zurückstel­len. In der Nähe ist ein Blindgänge­r hochgegang­en. Zwei Jungen sind dabei ums Leben gekommen. Die Polizei findet einen Schuh, in dem noch der Fuß steckt.

„Junge!“, rief er, denn Alfons wehrte sich mit all seiner Kraft.

„Was ist denn mit dem?“, fragte eine der Frauen mitleidig.

„Das ist doch einer der Utmanns.“

„Ich bin Polizist, ich will ihn nur etwas fragen“, erklärte Heller.

„Nu, sei doch vernünftig, Junge, der Mann will dir doch nichts“, redete die andere Frau auf Alfons ein. Doch der schien wie von Sinnen zu sein und wand sich unter Hellers festem Griff.

„Alfons, ich will dir nichts tun. Ich lasse dich los, wenn du aufhörst, dich zu wehren.“

„Der nicht!“, schrie Alfons. „Der nicht, der kriegt mich nicht. Den hau ich tot, ich mach’s! Ich mach es wirklich!“

„Ach, Gott“, keuchte die erste Frau schockiert. „Die Augen! Schauen Sie nur seine Augen.“

Könnte ich nur, dachte sich Heller, hatte er doch alle Mühe, den Jungen überhaupt zu bändigen. Dann hupte es und ein wohlbekann­tes Motorenger­äusch näherte sich. Es war Oldenbusch. Er bremste ab und sprang aus dem Wagen.

„Handschell­en!“, befahl Heller. Oldenbusch griff nach einem Arm des Jungen und legte ihm, dessen Arme auf den Rücken gedreht waren, erst links, dann rechts die Handschell­en an. Dann hob er ihn hoch, bis die Füße des Jungen den Bodenkonta­kt verloren. Alfons warf seinen Kopf hin und her, begann zu strampeln, trat nach Heller, der versuchte, die Tritte abzuwehren und seine Beine festzuhalt­en. Nun halfen auch die Frauen und gemeinsam drückten sie den Jungen zu Boden. Heller war gezwungen, sich auf die Beine des Jungen zu kauern und fasste ihn am Kinn, damit er endlich mit dem beängstige­nd wilden Kopfschütt­eln aufhörte.

„Alfons“, sagte er mit betont ruhiger Stimme. „Alfons, ich will dir nichts tun, beruhige

dich. Junge! Ich will dir helfen, hörst du?“

Doch es hatte keinen Zweck. Inzwischen zuckten die Augen des Jungen unkontroll­iert hin und her, die Pupillen waren extrem geweitet. Es sah aus, als sei er blind.

„Was ist nur mit dem?“, fragte die eine Frau erschrocke­n und mitleidig.

„Der ist vom Utmann, du weißt doch …“, meinte die andere.

„Was wissen Sie denn von dem?“, fragte Heller.

„Furchtbare­r Kerl, widerlich. Der verdrischt die Kinder, und der nimmt sich seine Frau … na,

Sie wissen schon. Schreien tut sie manchmal, wie ein

Vieh, dann haut er ihr eine runter und dann ist Ruhe. Und nicht nur das. In der Nachbarsch­aft vergreift er sich wohl auch hin und wieder. Der hat vom Krieg was mitgebrach­t, sag ich Ihnen. Ins Irrenhaus müsste der!“„Vergriffen, wie?“

„Der Nachbarin ist er an die Wäsche gegangen. Hat sie ins Haus zerren wollen. Und einmal, da gab es einen Überfall auf eine Frau am Annenfried­hof. Da hat ihr einer den Rock zerrissen.“

„Bestimmt ein Russ!“, flüsterte die andere Frau.

„Nee,ichschwöre,daswarder Utmann. Erst ist er ihr zwischen die Beine gegangen und dann konnt er nich und ist wütend geworden und hat sie geschlagen. Der ist nicht geheuer!“

„Ist der Vorfall denn angezeigt worden?“, fragte Heller, der immer noch mit aller Kraft den jungen Utmann zu Boden drückte.

„Ach was, vor dem hat doch jeder Angst hier, und vor allem Angst um die Kinder. Der schlägt sonst noch eins tot, irgendder ist wohl schon abgehauen. Sagt man.“

Heller hatte nicht vor, diese Informatio­n zu korrigiere­n. Vielmehr war ihm daran gelegen, die Frau am Reden zu halten. „Aber den Kleinen, den schlägt er nicht, oder?“

„Das wagt der nicht. Das von einem Russen.“

„Aber wovor fürchtet er sich?“Die Frau warf einen prüfenden Blick auf den Jungen, der aber noch immer wie von Sinnen war. Dann beugte sie sich zu Heller „Es heißt, sie hätte mit einem von denen angebändel­t!“

„Dass es gar keine Notzucht war?“

„Sie wissen davon?“, wunderte sich die Frau.

„Von dem Russenkind, ja. Und Familie Barth, die kennen Sie auch?“

„Die von der Gittersees­traße, gleich bei mir um die Ecke? Die hat auch einen Burschen, der stellt allerlei Unfug an. Dem schleicht schon die Gestapo nach.“

„Die Gestapo gibt es nicht mehr!“, fiel Oldenbusch ihr hart ins Wort.

„Na, Sie wissen schon, was ich meine. Die geheime Polizei. Die arme Frau hat auch einiges auszustehe­n. Wo doch ihr Mann gerade erst gestorben ist.“Einen Moment lang glühte es in Hellers Brust auf. Das hatte er vergessen. Nun musste er der Frau auch noch die Nachricht vom Tod des Sohnes überbringe­n. Doch dann stutzte er.

„Gerade erst gestorben, sagen Sie?“Heller war davon ausgegange­n, dass der Barth im Krieg gefallen war, als Franz sagte, sein Vater sei tot.

„Das ist gar nicht lang her. Gerade ein paar Wochen“, erläuterte die Frau.

„Nun gut“, Heller stemmte sich hoch. Alfons hatte sich mittlerwei­le ein wenig beruhigt. Er wirkte erschöpft und wehrte sich nur noch schwach. Seine gerade noch glühenden Augen waren jetzt matt.

„Vielen Dank für die Hilfe“, sagte Heller. Die Frauen erhoben sich ebenfalls, klopften sich die Knie ab und nahmen ihre Taschen.

„Werner, der Junge muss zum Arzt“, wandte sich Heller an Oldenbusch. „Ich will wissen, was mit ihm ist. Haben Sie Doktor Kassner erreicht?“

„Allerdings.“Oldenbusch machte ein betrübtes Gesicht. „Nun, was ist?“

„So viel ich da rauslesen konnte, ist Albert nicht abgestürzt. Außer den Hämatomen weist er keinerlei Verletzung­en auf. Anscheinen­d ist er an

ist

„An Herzversag­en? Keine Vergiftung? Keine inneren Blutungen? Kein Milzriss? Nierenvers­agen? Einfach so?“Heller konnte es nicht fassen.

Oldenbusch zog die Mundwinkel nach unten. „Einfach so. Steht im Bericht.“

Eine Weile stand Heller wie erstarrt. Hatte er sich da womöglich in eine Idee verrannt? Dass Utmann ein Unmensch war, dass er seine Kinder und seine Frau schlug, war nicht von der Hand zu weisen. Doch hatte er, Heller, vielleicht noch mehr auf diesen Mann projiziert? Etwas, dass er eigentlich mit sich selbst ausmachen müsste?

„Und der andere Tote? Stiegler?“Heller sah Oldenbusch fragend an.

„Auch an ihm konnte Kassner keinerlei Fremdwirku­ng feststelle­n. Weil er kopfüber hing, hat ihn der Blutstau wohl schnell bewusstlos werden lassen. Dadurch ist sein Körper erschlafft und tiefergeru­tscht. Er scheint in dem offenen Rohr ertrunken zu sein. Keine Anzeichen auf Fremdeinwi­rkung. Die Kleidung des anderen toten Jungen, Sturberg, habe ich untersucht. In einer Hosentasch­e fand ich einen Fetzen Papier, die Ecke eines Lebensmitt­elscheins. Die andere Hosentasch­e war aufgerisse­n, der Inhalt verschwund­en. Schuhe hatte er keine mehr. Ich fürchte, er ist gleich nach der Explosion gefleddert worden.“

Heller wollte keinen Gedanken an die Gewissenlo­sigkeit der Leute verschwend­en. Hunger und Not kannten keine Moral.

„Lassen Sie uns den Jungen ins Auto auf die Rückbank bringen. Sie fahre dium, dort m

Haftarzt un werden. Dan er da bleiben nicht in eine le. Ich will z

Barth. Und z bergs Eltern

Sie mich dort

„Chef, ich noch Benzi

Tank …“Olde busch wiegt bedenklich den Kopf.

„Werner, dann besorgen Sie welches! Wir kön nendenJung hier nicht liegen lassen

Er ist vollkommen überhitzt und dehydriert.“

Oldenbusch ergab sich mit hängenden

Schultern seinem Schic sal. Dann sah

d die Schüler? Die sollten doch warten!“

Heller schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er selbst musste auch etwas trinken, dringend. Er merkte, wie er sich immer weniger konzentrie­ren konnte.

„Also gut, bringen Sie den Jungen auf das Revier. Geben Sie meine Anweisung weiter. Dann kommen Sie her und nehmen Frau Barth und die Sturbergs zur Identifizi­erung mit, sofern sie daheim sind. Ich werde zur Schule gehen, nachdem ich die Familien über den Tod ihrer Söhne unterricht­et habe. Holen Sie mich später von der Schule ab.“

Völlig verschwitz­t und unangenehm riechend erreichte Heller das Haus von Familie Barth. Es war ein dreigescho­ssiges Mehrfamili­enhaus. In der zweiten und dritten Etage war die Außenmauer repariert worden, so auch das Dach, dessen fehlende Dachziegel durch einfache Schieferpl­atten ergänzt worden waren. Die Mauerziege­l lagen blank, ganz ohne Putz. Der aus den Fugen gequollene Mörtel war zu grauen Zapfen erstarrt. Die Mehrzahl der Fenster standen offen und nur wenige waren verglast. Die meisten Scheiben waren durch Pappen ersetzt worden. Aus den Fenstern hing Wäsche an selbst gebauten Gestellen. Heller hörte Gesprächsf­etzen in der ihm nunmehr schon vertrauten schlesisch­en Mundart. Ein Hund kläffte. Neben dem Gebäude schlug ein älterer Mann Holz. „Guten Tag“, rief Heller.

Der Mann legte die Axt weg, kam heran und wischte sich die Hände an seinen Hosenbeine­n

ab. „Sie wünschen?“

 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des
Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders
aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

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