Heller informiert die Eltern der toten Jungen
„Ich möchte zu Familie Barth.“Heller holte seinen Ausweis heraus und zeigte ihn kommentarlos vor.
„Hilde ist gerade zurück. Im zweiten rechts. Der Bursche wieder, was?“
Heller ging nicht darauf ein. „Sie ist allein? Witwe? Und Franz ist ihr einziges Kind?“
„Sie hat noch eine Tochter.
Ulrike.“
Heller nickte und sah an der Fassade des Hauses hoch. Er wollte diesen Gang noch ein wenig hinauszögern und sich selbst ein wenig Kraft verschaffen.
„Haben Sie das repariert? Gehört Ihnen das Haus?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, der Eisenbahnergenossenschaft. Aber ich habe es repariert. Ich musste alles selbst besorgen. Da drüben ins Grundstück ist eine Bombe hineingefallen und hat das halbe Haus aufgerissen. Hier oben war alles ausgebrannt. Von denen, die hier gewohnt haben, bin nur noch ich da. Die anderen waren bei einer Faschingsfeier, in einer Gastwirtschaft unten an der Chemnitzer. Ich bin hiergeblieben, weil ich meinen Enkel dabeihatte. Kein Einziger ist wiedergekommen.“Der Mann verstummte.
Heller wollte, dass er weitersprach. „Und die Barths? Was war mit denen?“, fragte er.
„Die Barths waren komplett ausgebombt. Die haben früher oben gewohnt, in der Kohlenstraße. Siggi, der Siegfried, ist im Krieg gewesen. Er kam Anfang sechsundvierzig zurück und wurde hier einquartiert, half mir beim Bau. Hilde ist nach dem ersten Angriff mit den Kindern nach Bayern gebracht worden. Kam erst Ende siebenundvierzig wieder, weil sie hier wohl noch ihre Mutter hat, dass der Siggi zurück war, wusste sie damals noch gar nicht.“
Heller nickte und sah zum zweiten Stock hinauf. „Sagen Sie,
könnte ich etwas Wasser bekommen?“, fragte er.
Der Mann nickte. „Macht es Ihnen etwas aus, aus dem Schlauch zu trinken? Wir haben einen Anschluss im Keller. Es soll nur niemand wissen, sonst kommen alle betteln.“
Heller schüttelte den Kopf und folgte dem Mann ins Haus. Mit Erleichterung nahm er die Kühle wahr, als sie in den Keller hinuntergingen. Der Mann reichte ihm das Schlauchende und drehte den Wasserhahn ein wenig auf.
Heller trank vornübergebeugt und gab dann ein Zeichen, dass es genug war.
„Und ihr Mann, der ist gestorben, Siegfried Barth?“, hakte er erneut nach.
„Ja, vor drei Wochen vielleicht. Tragische Geschichte. Der war aus dem Krieg zurück und hatte eine Bleibe bekommen, weil sein Haus zerstört war. Er hat aber gedacht, dass Frau und Kinder tot seien. Dann trafen sie sich zufällig auf einer Hamsterfahrt im Zug. Stellen Sie sich das mal vor. Und nur ein paar Wochen später dann das, dieser Unfall. Der hat ja als Eisenbahner gearbeitet und ist bei einer Nachtschicht vor einen rangierenden Zug gelaufen. Da kam jede Hilfe zu spät. Gleich hier ist das passiert, beim Bahnhof Plauen.“
Hilde Barth war eine schöne Frau. Groß, schlank, mit selbstbewusstem Gesichtsausdruck. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem strengen Dutt gedreht. Sie trug ein langes Kleid mit ausgewaschenem Blümchenmuster.
„Bitte?“, fragte sie, die Türklinke noch in der Hand.
„Hilde Barth? Kriminaloberkommissar Heller.“Heller wies sich erneut aus.
Das Gesicht der Frau verlor mit einem Schlag alle Farbe.
„Geh in dein Zimmer, Ulrike!“, befahl sie ihrer Tochter. Das Kind, etwa acht sein Zimmer.
„Es geht um Ihren Sohn Franz, Frau Barth. Wollen Sie sich vielleicht setzen?“
Hilde Barth nickte und trat ein paar Schritte zurück, um Heller hereinzulassen. Als sie in die Küche ging, musste sie sich kurz am Türrahmen abstützen. Heller bot ihr schnell die Hand und führte sie zum nächsten Stuhl. Dann setzte er sich ihr gegenüber an den Tisch.
„Ihr Sohn fehlte heute zum Unterricht in der Schule. Ich nehme an, er kam heute Nacht nicht heim?“
Hilde Barth stammelte etwas Undeutliches.
„Er ist häufiger nachts nicht heimgekommen?“, riet Heller und die Frau nickte.
„Wir müssen leider davon ausgehen, dass er bei der gestrigen Blindgänger-Explosion ums Leben gekommen ist. Trug er Schuhe, die an der Spitze aufgetrennt waren und bei denen im Futter der Lasche F. Barth eingestanzt war?“
Die Frau nickte und ihre Finger verkrampften sich ineinander.
„Wir haben nur …“, Heller zögerte, „… wir haben nur einen Schuh von ihm finden können.“
Das Gesicht der Frau verzerrte sich wie im Krampf und an den Schläfen traten die Adern hervor, doch kein Laut kam aus ihrem Mund.
Heller machte sich darauf gefasst, dass die Frau zusammenbrechen würde. Ruhig sprach er weiter.
„Offenbar hat er mit einigen Kameraden das abgesperrte Gelände betreten und sich an der Bombe zu schaffen gemacht.“
„Niemals!“, entfuhr es Hilde Barth und ihre Hände schnellten vor und krallten sich um die Tischkante. „Niemals! Warum sollte er das tun?“
„Ich hatte gehofft, Sie könnten mir bei dieser Frage weiterhelfen.“
Hilde Barth schlug die Hände vors Gesicht. „Ach, du lieber Gott!“
„Ist er denn oft weggeblieben? Hat er häufiger solchen Unfug angestellt?“
„Aber doch nicht so etwas“, krächzte die Frau.
Heller hörte leise Schritte. Das Mädchen schaute schüchtern durch die offene Tür, huschte dann hinein und presste sich an seine Mutter.
„Hat er denn manchmal Dinge mit heimgebracht, die er nicht hätte haben dürfen?“
„Nein, das hat er nicht. Er ist ein guter Junge. Ein guter Junge!“
„Frau Barth, wir müssen versuchen den Fall aufzuklären, es muss doch einen Grund geben, dass er dabei war. Hat er vielleicht etwas gesagt, hat jemand
Plötzlich richtete sich die Frau auf, kramte ein Taschentuch hervor, putzte sich die Nase und rieb sich die Tränen unter den Augen weg. Dann nahm sie die Hand ihrer Tochter. „Ich weiß nichts, ich weiß gar nichts.“
Heller sah die Frau einige Sekunden lang an. Sie erwiderte den Blick, ohne zu blinzeln, nur gelegentlich durchzuckte ein unterdrückter Schluchzer ihren Körper.
Heller stand auf. „Nun denn. Es wird gleich ein Kollege kommen, der muss Sie mitnehmen, damit Sie wenigstens den Schuh identifizieren. Vielleicht haben die Genossen vor Ort in der Zwischenzeit noch andere Dinge zur Identifizierung gefunden. Sind Sie bereit dafür?“
„Bereit, ja, ich bin bereit.“Hilde Barth blickte ihn unverwandt an.
Heller wusste nicht mit der Reaktion der Frau umzugehen. Sie beherrschte sich nicht wegen ihrer Tochter, sondern wegen ihm. Sie wollte ihre Gefühle bei sich behalten. Doch warum? Schämte sie sich?
„Und ich werde Sie ins Präsidium vorladen, zur Klärung der Sachverhalte“, sagte er.
„Tun Sie das, ja.“
Heller stand schon in der Küchentür, doch dann fiel ihm noch etwas ein, das er gleich wissen musste. „Sagen Sie noch, bitte …“
Hilde Barth, die gerade in sich zusammengesackt war, straffte sich erneut und sah ihn an, mit Augen, in denen se Hysterie ab
„Gibt es j den ich für Si kann? Einen A
„Nein! Nie
Es gibt niem
War das Ihre
Es war, als w jeden Momen macht fallen.
Heller sch den Kopf. „H
Ihr Franz je mals von einem Glaser gesprochen? Peter
Glaser?“
„Nein, nie! kam es aus de
Mund der Fr geschossen, und ihre
Tochter sah sie ängstlich an.
Heller ging noch einmal zum
Tisch, holte einen kleinen Zettel mi seiner Fer sprechnumme
n ihr hin. „Rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe benötigen.“
Zu den Sturbergs, wohnhaft am oberen Ende der Westendstraße, war die traurige Wahrheit schon durchgedrungen. Die ganze Nachbarschaft hatte sich in ihrem kleinen Haus eingefunden und versuchte, der Mutter Trost zu spenden. Frau Sturberg war nicht ansprechbar. Man fächelte ihr Luft zu und brachte ihr Wasser. Der Vater war noch arbeiten und wusste nichts von dem Unglück. Heller nahm den Großvater beiseite, einen betagten weißhaarigen Mann, der Pfeife rauchte. Er ertrug den Tod seines Enkels mit stummer Fassung.
„War denn der Ernst oft mit Franz zusammen?“
Der alte Sturberg rieb sich das stoppelige Kinn. „Dieser Barth. Dem Burschen hab ich nie getraut. Verrückter Hund, der hätte längst hinter Gitter gemusst.“
„War er hier gestern? Gingen die Jungen zusammen weg?“
„Nein, hier war er nicht. Ernst ging am frühen Morgen fort.“
„Hat er gesagt, was er vorhatte?“
„Angeln wollte er gehen. An der Elbe. Er ging aber zuerst den Berg hinauf.“
„Zum Franz?“„Möglich, gesagt hat er nichts.“„Ging er oft angeln? Hatte er denn eine Rute?“
„Jawohl, samt Rutentasche. Die hatte ich ihm geschenkt. Vor Jahren schon.“