Hass, blanker Hass
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 30. Teil
Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsreform in Ost und West die Teilung Deutschlands festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenommen, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfrau. Was bisher geschah: In einem Kanalschacht wird die Leiche eines Mannes gefunden, Wilfried Stiegler. Kurz darauf gibt es auf einer Baustelle einen zweiten Toten, Albert Utmann. Der Jugendliche fiel von einem Kran. Alberts Mutter Alma hat Angst vor ihrem Mann Karl - ein Kriegsheimkehrer, der seine Familie schlägt. Heller befragt Alberts Bruder Alfons. Offenbar existiert eine Kinderbande, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Bei einer Durchsuchung im Haus der Utmanns werden Tausende Reichsmark und druckfrische Lebensmittelkarten gefunden. Sohn Klaus erklärt Heller, dass er jetzt bei der politischen Polizei ist, die gegen Utmann vorgeht. Heller soll seine Ermittlungen zurückstellen. Ein Blindgänger geht hoch, zwei Jungen der Bande kommen ums Leben. Heller trifft zufällig auf den flüchtigen Alfons. Der rastet völlig aus und wird in die Kinderklinik gebracht. Chefarzt Dr. Wittek weiß von der chemischen Droge Pervitin, die im Krieg an Soldaten ausgegeben wurde. Wie könnten die Kinder an diese Pillen gekommen sein?
Auch in Heller wurde jetzt das Verlangen, sich ins kühle Wasser zu legen, den Kopf unterzutauchen und so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben, fast übermächtig. Er musste unbedingt einen klaren Gedanken fassen können. Schon seit zwei Tagen pochte es hinter seinen Schläfen, ein dumpfer Schmerz, der sich den Weg nach draußen bahnte. Wie konnte etwas, das so lang zurücklag, sich so anfühlen, als sei es erst gestern geschehen? Und wieso quälten ihn die Schuldgefühle nach all den Jahren wieder so, als seien sie nie weg gewesen? Und dann auch noch Wittek, dessen eigentlich nebensächliche Bemerkung ihn wie ein Faustschlag getroffen hatte.
All die Jahre hatte er erzählt, dass er sich seine Verwundung in Belgien zugezogen hatte. Nun kam dieser Arzt und widerlegte diese feste Überzeugung mit einer einzigen Bemerkung. Letztlich war es nur eine Kleinigkeit, doch nun fühlte Heller sich unwohl, beinahe wie ein Lügner. Nie hatte jemand seine Aussage angezweifelt, doch was waren Erinnerungen schon wert, wenn man sich selbst nicht einmal trauen konnte.
Er wartete, bis die Leute sich verlaufen hatten, die mit ihm aus der Bahn gestiegen waren. Drei Russenlaster donnerten mit brüllenden Motoren die Straße hinauf. Dicke Dieselabgaswolken hüllten Heller ein, die Fahrer machten sich offenbar einen Jux daraus. Heller gönnte ihnen den Spaß nicht, blieb wie unbeteiligt stehen und hielt die Luft an.
Neuerdings umschloss eine Mauer das Gelände. Dass Heller auf das Eingangstor zuging, hatte ihn offensichtlich in den Augen des misstrauischen sowjetischen Wachsoldaten schon verdächtig gemacht. Der trug keine der üblichen Maschinenpistolen mit Trommelmagazin bei sich, sondern eine Maschinenpistole mit gekrümmtem Magazin, wie Heller sie noch nie gesehen hatte. Jetzt hatte er die Waffe abgeschultert. Heller versuchte möglichst entspannt
zu wirken, doch das Haus und die Erinnerungen, die er mit ihm verband machten ihn nervös. Der Russe sagte etwas. Ein zweiter Mann, jung und groß gewachsen, trat aus dem Tor. Er trug Zivil, nur Hose und Hemd, doch mit Pistolenholster am Gürtel. „Bleiben Sie stehen!“, rief er. Heller, der noch etwa zehn Meter entfernt war, blieb stehen.
„Oberkommissar
Heller, Kriminalpolizei“, erklärte er sich.
„Können Sie sich ausweisen, Genosse?“
„Natürlich.“Heller griff in seine Jacke holte seine Papiere hervor.
„Na, kommen Sie schon!“Der junge
Mann winkte ihn mit einer nachlässigen Bewegung heran, als sei er ein Bittsteller. Heller ärgerte sich, aber er zwang sich zur Beherrschung, ging näher heran und gab dem Uniformierten den Ausweis.
„Sind Sie wegen einer Vernehmung hier? Haben Sie einen Termin?“
„Ich habe keinen Termin. Doch ich muss in dringlicher Angelegenheit mit einem Inhaftierten sprechen. Mit Heinz Seibling. Es geht um einen zu klärenden Sachverhalt.“
Der junge Mann gab Heller den Ausweis zurück, ging zu einem Fernsprechapparat und telefonierte. Er sprach leise und drehte sich weg, damit Heller nichts verstehen konnte. Schließlich legte er auf. Mit ernster Miene trat er wieder nach draußen.
„Es ist die falsche Zeit. Machen Sie einen Termin. Woher wissen Sie, dass dieser Mann hier inhaftiert ist?“
„Ich weiß es nicht, vermute es nur. Ein kurzes Gespräch genügt mir.“
„Und es hat keine Zeit bis morgen?“
Nun wurde Heller das Verhalten des jungen Burschen ein wenig zu
„ g , ich nicht einmal die Zeit hatte, bei Genosse Oberst Ovtscharov vorzusprechen. Das werde ich wohl nachholen müssen und die Angelegenheit auf morgen verschieben. Guten Tag!“Heller hob die Hand zum Gruß und schickte sich an zu gehen. „Warten Sie, Genosse!“Heller drehte sich wieder um. Der junge Mann griff nun doch noch einmal zum Telefonhörer und winkte Heller heran. „Kommen Sie.“
Heller folgte ihm ins Haus. „Warten Sie hier.“Der junge Mann deutete auf eine massive hölzerne Bank im Vorraum und verschwand dann hinter einer schweren Tür. Heller sah sich um und versuchte sich zu erinnern. Doch alles war umgebaut, die Wände neu gemauert, neue Türen eingesetzt. Die Wandbilder und Dekorationen waren mit Kalkfarbe übertüncht worden und die Holzverkleidung war entfernt.
Es war kühl, doch die Luft schmeckte staubig, verbraucht. Der Raum wirkte düster, das Licht war nicht eingeschaltet, einzig durch die vergitterten Scheiben in der Tür drang Tageslicht, weitere Fenster gab es nicht. Es roch nach Schuhcreme, Bohnerwachs, nach altem Holz und Papier. Der Raum war lieblos und karg, einzig eines der allgegenwärtigen Bilder mit Stalin hing hoch oben an der Wand und ließ den großen Führer freundlich lächelnd auf Heller hinabblicken. Heller blieb eine Weile sitzen und stand dann wieder auf, um sich die Beine zu vertreten. Dabei stellte er fest, dass sowohl die Außentür als auch die Durchgangstür nur einen festen Knauf besaß und keine Klinke. Er saß also fest. Heller versuchte, dem nicht weiter Beachtung zu schenken und setzte sich wieder hin.
Eine gefühlte halbe Stunde saß er da, bis er nach einem Blick auf seine Uhr feststellte, dass noch keine zehn Minuten vergangen waren. Heller zwang sich zu einem spöttischen Lächeln. Auf einmal spürte er einen gewissen Druck auf der Blase und augenblicklich verlangte dieses Gefühl nach seiner ganzen Aufmerksamkeit. Er zwang sich, über Alfons nachzudenken, über die kaum verheilten Wunden auf dessen Rücken, über die Spuren von Gewalt auf dem Köper des kleinen Bruders Alfred. Ob auch dieser schon von den Pillen genommen hatte? Wie war es wohl für die Jungen, wenn es den Vater überkam? Fragten sie sich, wer an der Reihe war? Hatte sich Albert vor seine Brüder gestellt? Versuchten sie die Mutter zu schützen? Oder waren sie einfach froh, wenn
Heller musste einsehen, dass er seinen Körper nicht überlisten konnte. Er schlug die Beine übereinander, wippte nervös mit dem Fuß und erwischte sich nach einiger Zeit, wie er hinausstarrte und die Sekunden zählte, sich ausmalte, wie lang es noch dauern musste und ob er den jungen Mann zuerst nach dem Abort fragen konnte. Warum dauerte das nur so lang? Hatte er sich zu weit vorgewagt? Telefonierte der Mann gerade? Hatte er die Anweisung bekommen, ihn festzuhalten? War Ovtscharov überhaupt noch in Dresden stationiert? Er hatte jedenfalls nichts Gegenteiliges vernommen, versuchte Heller sich zu beruhigen. Dann dachte er an Utmann, wie er heimkam, wütend und zornig wegen der Ungerechtigkeit der Welt, der Schikane, der Russen, die nun die Herren waren. Heller stellte sich vor, wie der Vater den erstbesten seiner Jungen nahm, der ihm über den Weg lief, wie er sich dann den Gürtel aus der Hose zerrte und den Jungen verdrosch. Wie die Mutter ihm in den Arm fallen wollte und Utmann ihr mit dem Ellbogen einen Schlag ins Gesicht versetzte, der sie taumeln ließ.
Diese Bilder zeigten Wirkung. Sie setzten eine Energie, eine Kraft in ihm frei, für die es nur einen Namen gab: Hass. Es war blanker Hass.
Heller ballte unbewusst die
Fäuste.
„Genosse Oberkommissar, kommen Sie bitte!“
Heller sah auf. Ein Mann in Uniform hatte die Durchgangstür geöffnet und hielt sie wartend auf. Heller erhob sich und folgte ihm schweige langen, düste
Sie bogen l gerieten an ei die aufgesch werden musst darauf an eine
Dann stiegen
Treppe hinau ten eine dritte und erreicht
Raum, von acht schma Stahltüren ab gingen, die mit aufschablonierten
Zahlen gekennzeichnet waren. Zw vergitterte Fen ter boten Bli auf einen gepflasterten
Hinterhof, der von einer Mauer mit Stacheldraht umschlossen war.
Der Uniformierte ging zu Tür Numm fünf, schloss
g Ehe Heller etwas über den weiteren Ablauf seines Besuchs in Erfahrung bringen konnte, schlug die Tür hinter ihm zu. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er nicht nach einer Toilette gefragt hatte.
Heller sah sich um. Durch ein schmales Fenster drang nur wenig Licht. Außerdem versperrte ein eingemauertes Gitter den sowieso für eine Flucht viel zu engen Spalt. Weit oben an der hohen Decke hing eine nackte Glühlampe, die aber nicht leuchtete, so dass der kleine Raum in ewige Dämmerung getaucht war, wie in den letzten Minuten eines trüben Wintertages. Auf einer Pritsche, deren Gestell in die Mauer und den Boden eingelassen war und die das einzige Inventar dieser Zelle darstellte, lag ein dunkles, bewegungsloses Bündel.
Heller sah sich suchend um, fand aber nichts, worauf er hätte sitzen können. Das Bündel, von dem Heller annahm, dass es sich um Heinz Seibling handelte, regte sich immer noch nicht. Doch Heller spürte, dass der Mann nicht schlief, sondern nur so tat. „Heinz, ich bin es, Max Heller.“Der Mann hob den Kopf. Dann drehte er sich hastig um und schob sich mit dem Rücken an der Wand hoch. Er atmete heftig durch, als hätte er die Luft angehalten.
„Darf ich, Heinz?“Heller deutete auf die Pritsche. Er hatte im fahlen Licht das Gesicht Seiblings erkannt. Sein Schweigen deutete er als Zustimmung und setzte sich auf die Bettkante. Er schaute sich noch einmal um.
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