Ein Mädchen verletzt Heller schwer
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 36. Teil
Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsreform in Ost und West die Teilung Deutschlands festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenommen, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfrau. Was bisher geschah: In einem Kanalschacht wird die Leiche eines Mannes gefunden: Albert Utmann fiel offenbar von einem Kran. Dessen Vater Karl - ein Kriegsheimkehrer - schlägt seine Familie, Alberts Bruder Alfons gehört einer Kinderbande an, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Bei einer Durchsuchung im Hause Utmanns werden Tausende Reichsmark und druckfrische Lebensmittelkarten gefunden. Die wurden laut Mitarbeiter Peter Glaser aus der Vergabestelle gestohlen.
Bei einer Blindgänger-Explosion sterben zwei Jungen der Kinderbande. Heller trifft Alfons, der plötzlich völlig ausrastet. Bald wird klar: Die Kinder haben die chemische Droge Pervitin genommen. Hellers Sohn Klaus arbeitet bei der politischen Polizei und fordert seinen Vater auf, die Ermittlungen zurückzustellen. Man habe Glaser bereits als Chef der Kinderbande im Visier. Doch Heller macht sich auf, bei diesem den vermissten Alfons zu suchen. Doch in Glasers verschimmelter Wohnung findet sich nur einen Packen halbverbrannter Briefe.
Die Schrift war von ein und derselben Person, allerdings musste es sich um verschiedene Briefe handeln, da das Papier unterschiedliche Qualitäten besaß. Eines der Blätter war beidseitig beschrieben, zwei weitere nur einseitig, zwei Blätter waren anscheinend Reste eines Umschlags. Heller las:
…rnommen, daß auch di… …meraden verloren ha… …bisweilen sehr heft… …letztes Weihnachts… …zerst…orde… …eschaffung kaum m… …lich übel mitgespie… …Rußland nicht ein… …hlauf, sollte man doch… …onengrenze. Furchtb… …uggeln…scht. Nun sitzt… …ßbar, welches L… …einer recht gut Stell… …orgungslage auch stabi… …ser geliebtes deutsches… …sselbe sein, wenn die B… …inen Bitte, auch wenn sie… …rl und Willy kümmern kö… …ötigten Mittel zukommen l… …lbst gekümmert. Ich weiß, w…
…ch bitte, doch harte Zeit… …rgewöhnliche Mittel, selb…
Heller legte alles vorsichtig wieder zusammen und betrachtete die Reste des Umschlags genauer, konnte jedoch nichts Verwertbares erkennen und legte alles wieder auf den Stapel. Dann überlegte er es sich anders, nahm sein Notizbuch hervor und legte die Papierblättchen zwischen einzelne leere Seiten. Dann steckte er das Buch weg und kehrte über den Gang zu Oldenbusch zurück, der sichtbar gelangweilt auf ihn wartete.
„Haben Sie denn etwas…“, wollte Oldenbusch ihn fragen, doch im selben Moment sprang die linke der drei Türen auf und
ein junges Mädchen stürmte heraus. Heller sprang instinktiv nach vorne, um ihr den Weg abzuschneiden. Als das Mädchen nach ihm schlug, wehrte Heller den Schlag ab und wollte sie packen, da erst verspürte er den heftigen Schmerz im rechten Unterarm. Er verlor alle Kraft in seinen Fingern und ließ die Pistole auf den Boden fallen.
„Die hat ein Messer!“, rief Oldenbusch.
„Nicht schießen!“, befahl Heller. Schon war das Mädchen aus der Wohnung gelaufen und rannte die Treppen hinunter. Oldenbusch war ihr dicht auf den Fersen. Heller irritierte das Blut, das auf den Boden tropfte. Doch es blieb keine Zeit, zu überlegen. Schnell hob er die Pistole wieder auf und steckte sie weg. Dann presste er die andere Hand auf die Wunde und rannte die halbe Treppe hinunter. Mit dem Fuß trat er die restlichen Lumpen aus dem Loch in der Mauer.
„Johanna! Johanna Zeil“, rief er. „Stehen bleiben!“Das Mädchen hatte den Hof noch nicht erreicht. Es polterte im Treppenhaus, dann fiel ein Schuss. Heller hörte Kampfgeräusche, ein Keuchen und Wimmern. „Max!“, rief Oldenbusch. Heller quälte sich jetzt aus seiner Jacke, um sie fest um die Schnittwunde zu wickeln. Noch immer verlor er viel Blut und spürte den Schmerz in einer Welle heranrollen. Er wollte dem nicht nachgeben, er wollte das Mädchen nicht verlieren. Er biss die Zähne zusammen und rannte weiter. Als er im Erdgeschoss ankam, sah er noch, wie sich das Mädchen aus dem Griff von
Oldenbusch wand und auf den Hof stürzte. Heller lief an Oldenbusch vorbei, der sich mit einer Hand die Nase hielt und mit der anderen nach seiner Pistole tastete, die auf dem Boden lag.
Das Mädchen hatte den Hof durchquert und die Durchfahrt vom Haupthaus erreicht. Da drehte sie sich um, stolperte, stürzte und rappelte sich panisch auf. Das war Hellers Chance, aufzuholen. Er trat nach ihrem Fuß, doch sie sprang geschickt auf, konnte einen weiteren Sturz abfangen, taumelte aber und schlug mit der Schulter gegendieWand.
Heller war nicht darauf vorbereitet, als sie ihn plötzlich mit wutverzerrtem Gesicht ansprang, ihm ins Gesicht und auf den verletzten Arm schlug. Er keuchte vor Schmerz. Dann riss sie die Augen auf, wirbelte herum und hetzte davon.
Oldenbusch kam mit gezückter Pistole angelaufen. Er blutete stark aus der Nase und rang nach Luft.
„Werner, schießen Sie! Aber niedrig!“, presste Heller hervor. Er stöhnte auf und ein wilder Schmerz pulsierte in seinem Arm.
Oldenbusch stürmte auf die Straße, Heller schleppte sich hinterher. Beide sahen sie das Mädchen davonrennen. Sie hielt sich jetzt den Bauch und hatte Mühe, aufrecht zu laufen. Mehrere Passanten sahen ihr nach, aber keiner hielt sie auf.
„Kann nicht schießen“, fluchte Oldenbusch, zerrte stattdessen seine Polizeipfeife aus der Tasche und blies kräftig hinein. „Festhalten! Polizei! Halten Sie das Mädchen fest!“, rief er und rannte wieder los.
Heller versuchte ihm zu folgen und humpelte über die Straße. Ein Mann, der ihm entgegenkam, wich zwar aus, trotzdem stieß Heller mit ihm zusammen.
„Passen Sie doch auf!“, beschwerte sich der Mann scheinheilig.
Heller konnte nicht mehr. Schwer atmend lehnte er sich an eine Hauswand und versuchte, Oldenbusch so lange wie möglich im Blick zu behalten. Auch dem stellten sich die Passanten wie zufällig in den Weg und behinderten die Verfolgung.
„Ich zeige Sie an“, keuchte er und schaute dem Mann jetzt unverwandt ins Gesicht, „wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungsarbeit! Wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt!“
„Welcher Staat?“, fragte der Mann und grinste schief, entfernte sich aber rückwärts gehend von Heller. „Hab Sie ja gar nicht kommen sehen“, murmelte er und lief dann eilig weg.
Heller presste seine Hand auf die Verletzung und versuchte, ruhig zu atmen. Er musste abwarten, dass ihm jemand zu Hilfe kam.
Endlich kehrte Oldenbusch zurück, keuchend und noch immer aus der Nase blutend. Sein Mund, das Kinn, sogar sein Hals waren blutbeschmiert. Trotzdem kümmerte er sich als Erstes um Heller. Er zerrte sich das Hemd vom Leib, zerriss es, wickelte Heller die Jacke vom Arm und verband die Verletzung mit seinem Hemd. Heller, der den Fehler begangen hatte, einen Blick auf den langen Schnitt an seinem Arm zu werfen, wurde übel.
„Ich hätte sie noch kriegen können“, schimpfte Oldenbusch, „die Leute auf der Straße haben das verhindert. Einer hat sie in einen Hauseingang gezogen und mir die Tür vor der Nase zugeschlagen!“
„Was war mit ihr? War sie verletzt, haben Sie geschossen?“, flüsterte Heller.
„Nein, die hat geschossen. Sie hatte eine Pistole, die muss noch im Haus liegen. Sie hat sie fallen lassen. Ich hab ihr wahrscheinlich in die Leber geboxt. Die hatte Kraft, sag ich Ihnen. Chef? Chef! Setzen Sie sich mal hin. Nicht schlappmachen! Max! Max!“
22. Juni 1948,
Mittag
Der junge Arzt legte sein Operationsbesteck in die Metallschüssel, die von einem assistierenden sowjetischen Sanitätssoldaten umgehend fortgeschafft wurde.
Auf Russisch g zweiten Soldaten fehl, der darauf
Hellers Arm zu v den. Dann sah er besorgt an.
„Sie haben Glü habt. Die Verletz nicht sehr schw Schnitt eher lang so tief. Ich würde I ne eine Tetanus fung verpasse aber ich verfüge derzeit nicht über genügend Impfstoff. Die
Wunde hat aber ordentlich geblu tet, es sollte als nichts geschehe
Ich empfehle Ihne trotzdem dringend, sich eine
Pause zu gönnen. Bei dieser
Hitze sollten Sie ruhig ein paar Tage daheim bleiben. Und schonen Sie den Arm.
Am besten, Sie tragen ihn in eine Schultertuch.“
Heller erwiderte nichts. Er wusste, er würde nicht pausieren. Doch darüber wollte er nicht mit dem Arzt diskutieren. Der sagte ja auch nur das, was er sagen musste.
Im Moment spürte er keine Schmerzen, der Arm war betäubt worden. Solange das anhielt, wollte er die Zeit nutzen. Er befand sich im Gebäude des ehemaligen Landgerichts, keine zweihundert Meter von Glasers Wohnung entfernt. Seit Beginn der Besatzung wurde es von verschiedenen sowjetischen Diensten genutzt. Auch unter dem Kittel des jungen Chirurgen blitzte der Kragen einer sowjetischen Militärjacke hervor.
„Sie sprechen akzentfreies Deutsch. Sind Sie Deutscher?“, fragte Heller ihn.
Der Arzt erwiderte nichts, ließ den Sanitäter seine Arbeit zu Ende machen und wartete, bis der gegangen war. Er erhob sich und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen.
Heller bereute seine Frage schon.
Jetzt zog der Arzt seinen Kittel aus, straffte seine Uniform und setzte sich wieder.
„Wissen Sie, ich bin ein Verräter“, antwortete er und sah Heller fest in die Augen. „Ein Überläufer“, fügte er hinzu.
Heller schwieg, erwiderte aber den Blick. Was sollte er dazu sagen? Er konnte nicht nachvollziehen, dass einer seine Landsleute im Stich ließ, um zum Feind zu wechseln. Aber wer waren schon seine Landsleute? Die Kameraden neben ihm? Oder das Volk, das mit Hitler den Krieg gewählt hatte, oder Hitler selbst?