Mit Blaulicht in die Klinik
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 39. Teil
Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsreform in Ost und West die Teilung Deutschlands festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenommen, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfrau. Was bisher geschah: Im Kanalschacht wird die Leiche eines Mannes, Wilfried Stiegler, gefunden. Dann ein weiterer Toter: Albert Utmann, ein junger Mann, anscheinend vom Kran gefallen. Dessen Vater Karl schlägt seine Familie. Alberts Bruder Alfons gehört einer Kinderbande an, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Bei einer Durchsuchung bei Utmanns werden Tausende Reichsmark und Lebensmittelkarten gefunden. Die wurden laut Mitarbeiter Peter Glaser aus der Vergabestelle gestohlen.
Ein Blindgänger tötet zwei Jungs der Kinderbande. Bald wird klar: Die Kinder haben die Droge Pervitin genommen. Hellers Sohn Klaus arbeitet bei der politischen Polizei und fordert den Vater auf, die Ermittlungen zurückzustellen man habe Glaser als Chef der Kinderbande im Visier. Doch Heller inspiziert Glasers Wohnung, wobei er halb verbrannte Briefe entdeckt. Ein Mädchen, das sich dort versteckt, verletzt ihn mit einem Messer. Heller lässt sich verarzten und macht sich auf zum Haus der Utmanns, wo er den blutenden Alfons findet: Der Junge hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.
„Ich will zu Albert. Bestimmt ist er ganz allein. Ihm war immerzu kalt. Ich will bei ihm sein.“
„Bei deiner Mutter solltest du sein, Junge. Sie braucht dich. Sie erträgt nicht noch mehr Leid. Wenn ihr doch nur endlich mit mir reden würdet. Bist du allein weggelaufen aus dem Krankenhaus? Alfons, wer war der Mann, der nach euch an der Schule gefragt hat? Alfons, schlaf nicht ein!“
Heller schüttelte den Jungen, hielt dabei seine Handgelenke krampfhaft fest. Er horchte nach unten, konnte aber nichts ausmachen.
„Herrgott, kommt endlich wer? Hilfe! Wir brauchen Hilfe!“Heller sah sich panisch um. Er bräuchte dringend Verbandszeug, aber er durfte die Handgelenke des Jungen nicht loslassen. Nur so hielt er den Jungen überhaupt noch am Leben.
„Alfons, bleib wach, denk was Schönes!“, rief er.
„Ich kann nimmer. Nichts Schönes mehr zu denken da“, flüsterte Alfons mit geschlossenen Augen. Heller verfluchte sein Zögern, verfluchte seine Angst und verfluchte Oldenbusch, der nicht kam.
Doch plötzlich wurde er zur Seite gedrängt. Oldenbusch und zwei Frauen stürmten auf den Dachboden. Die eine von ihnen, die Nachbarin, verband mit hastigen Bewegungen die Unterarme des Jungen, zerrte sie fest. Dann legten sie den Jungen auf den Boden. Alfons’ Kopf fiel willenlos hin und her, seine Augen waren geschlossen, alle Farbe war aus dem Gesicht gewichen. Die Nachbarin setzte sich neben ihn auf den Boden und bettete seinen Kopf in ihren Schoß.
Heller hatte sich aufgerappelt. Jemand hatte ihn unsanft zur
Seite gestoßen und er war dabei auf seinen Arm gefallen, doch das war jetzt egal. Zusammengesunken kauerte er unter der Dachschräge und blickte verstört auf seine blutbesudelten Hände. Oldenbusch setzte sich neben ihn.
„Ich habe jemanden zum nächsten Telefon geschickt,
Chef“, sagte er leise.
„Er muss eine Bluttransfusion bekommen. Aber woher nehmen? Wir kennen ja nicht mal seine Blutgruppe.“
Heller konnte seine Verzweiflung nicht verbergen. Es verschwamm ihm der
Blick.
Oldenbusch klopfte ihm sacht auf die Schulter.
„Hören Sie, Chef, da kommt schon jemand.“
Heller schaute hoch. „Werner, wollen wir uns nicht duzen?“Oldenbusch fuhr sich verlegen durchs Haar. „Nee, Chef, lassen wir es mal so, wie es ist, das machen wir mal bei einem Schnaps aus.“Dann erhob er sich umständlich, um den Sanitätern entgegenzugehen.
Heller konnte nicht sitzen bleiben. Er kauerte sich jetzt neben die Blutlache, in der das kleine Messer lag, mit dem Alfons sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Mit spitzen Fingern nahm er es aus dem gerinnenden Blut und wischte es an seiner Hose ab, die sowieso vollkommen verdorben war. Es war ein kleines, äußerst scharfes Schnitzmesser mit Horngriff.
Er betrachtete es eingehend. Manchmal verstand er selbst nicht, warum er sich diesen Beruf antat. Das Elend auf diesem Planeten schien niemals ein Ende nehmen zu wollen. Und er würde es niemals besiegen können. Vielleicht sollte er sich nach einem anderen Beruf umschauen. Und mehr Zeit für Karin haben. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Aber was würde das am Zustand der Welt ändern? Nichts. Das Elend wäre immer noch da.
Heller drehte das Messer in seinen Fingern, rieb den Griff sauber und hielt ihn ins Licht, in der Hoffnung, Initialen zu entdecken. Aber es gab keinerlei Anhaltspunkte, wem es gehört haben könnte.
„Gestern hat er sich wieder an seiner Frau vergriffen“, hörte er die Nachbarin flüstern. „Geschrien hat die!“
„Warum, zum Teufel, rufen Sie da nicht die Polizei?“, fragte Heller empört und drehte sich zu der Frau um.
Die Nachbarin kniff die Lippen zusammen und senkte den Blick. Sie hielt noch immer Alfons’ Kopf in ihrem Schoß und strich ihm vorsichtig übers Haar.
„Waren Sie das, an der er sich schon einmal vergreifen wollte?“, fragte Heller.
Sie nickte. „Besoffen war er da. Und er hat Englisch gesprochen. Ich kann kein Englisch, aber ich weiß, was er gesagt hat. Er wollte mich in den Hausflur zerren. Ich hab ihm ins Gesicht geschlagen. Da ist er ganz nah an mich rangekommen und hat mir zugeraunt, dass er mich umbringen wird. Es mache ihm nichts aus, jemand abzumurksen, hat er gesagt. Er würde mir die Kehle aufschlitzen. Der war noch viel schlimmer als die Russen, sage ich Ihnen. Bei denen wusste man ja, was sie wollen.“Die andere Frau nickte bestätigend.
„Da musste man nur still halten. Aber der Kerl, der ist irre. Ich hab mir erst gedacht, ich würde es schon aushalten, aber dann … dann hat er … na, Sie wissen schon … er konnte nicht. Da ist er erst richtig wütend geworden. Alma hat mich gerettet. Sie ist dazwischengegangen und hat wohl meinen Anteil abbekommen.“
„Haben Sie den Jungen kommen sehen? Hat seine Mutter ihn gebracht?“
„Nein, Alma ist heute Morgen los, mit den beiden Kleinen. Ich dachte erst, die wollen zur Tauze. Aber dann fiel mir ein, dass sie die Judenläden zugemacht haben.“
Die fremde Frau räusperte sich und die Nachbarin sah erschrocken auf. Heller beschloss, das überhört zu haben.
Er wusste, dass man dem Gerede, dass die Juden alles Gold und alle Häuser aufkauften und dass die Tauschzentrale allgemein als Judenhandel bezeichnet wurde, nicht Herr werden konnte. Die Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage. Aber die Leute beschwerten sich sogar darüber, dass das Güntzwiesenbad wieder in Arnoldbad umbenannt worden war, obwohl der jüdische Bankier einst drei Viertel der Gelder für den Bau des Bades gespendet hatte. Viele glaubten den Berichten über die Gräuel der Nazis nicht und hielten das für Russenpropaganda. Dabei waren sie bereit gewesen, der Nazipropaganda bis in den Untergang zu folgen. Heller würde das nie verstehen.
„Glauben Sie, dass Alma Utmann ihren Mann verlassen hat?“, fragte er die Nachbarin. Unten im Haus waren eilige Schritte zu hören.
„Das glaube ich nicht. Nicht, nachdem sie so viel ausgehalten hat. Vielleicht macht sie nur Besorgungen oder ist zum Arzt mit den Kindern.“
Das konnte Heller sich nicht vorstellen. Was wollte sie einem Arzt denn über die Verletzungen von Alfred erzählen? In dem Moment kam Oldenbusch mit den Männern auf den Dachboden. Es waren alles Polizisten, aber kein einziger Arzt. Einer der Polizisten maß versiert den Puls des Jungen und zog dessen Augenlider hoch, um die Pupillen zu sehen.
„Exitus“dann.
„Blödsin
Heller a nächste kenhaus,
Er wollte
Jungen h hen, aber sofort w rückgleite
Schmerz zuckte.
„In
Chemnitz unten ist die Kinderheilanstalt, bei der
Eisenstuckstraße“, warf fremde Fr ein.
„Die ist doch völlig kaputt“, meinte Utmanns
Nachbarin.
„Haben sie letzte
Winter w der geöf
Ein paar Baracken stehen dort und es wird immer entlaust.“
„Lassen Sie mich, Chef!“Oldenbusch packte Alfons und gemeinsam mit den Uniformierten brachte er ihn die Treppe hinunter. Heller folgte ihnen und versuchte den Schmerz im Arm zu ignorieren. Es fühlte sich an, als ob die genähte Wunde aufgeplatzt sei. Er verdrängte den Gedanken.
Unten wurde der Junge auf die Rückbank eines von der Roten Armee ausrangierten verbeulten GAZ-67 Geländewagens gelegt, dessen schwere Geländereifen mit Draht umwickelt waren, um sie beisammenzuhalten.
Die Schutzmänner stiegen ein, und nun erkannte Heller einen der beiden. „Sie sind doch der Weesmann von der Baustelle letzten Freitag“, stellte er fest.
Der junge Mann auf dem Beifahrersitz nickte.
„Das ist der Bruder von dem toten Jungen auf der Baustelle. Alfons heißt er, Alfons Utmann. Bringen Sie ihn zu Doktor Wittek ins Krankenhaus Friedrichstadt. Sorgen Sie dafür, dass sich sofort um ihn gekümmert wird! Haben Sie das verstanden? Doktor Wittek! Sie sollen alles Menschenmögliche versuchen! Bleiben Sie da, bis der Junge wieder stabil ist, und geben mir persönlich Bescheid. Rufen Sie an, verlangen Sie Oberkommissar Heller von der Kripo. Welche Uhrzeit auch immer. Das ist ein Befehl! Los, schalten Sie das Blaulicht an! Haben Sie ein
Martinshorn? Fahren Sie