„Wir alle sind arme Schweine“
Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzungsroman - 41. Teil
Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsreform in Ost und West die Teilung Deutschlands festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenommen, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfrau.
Was bisher geschah: In einem Kanalschacht wird die Leiche eines Mannes, Wilfred Stiegler, gefunden. Dann ein weiterer Toter: Albert Utmann, ein junger Mann, anscheinend vom Kran gefallen. Dessen Vater Karl, ein Kriegsheimkehrer, schlägt seine Familie. Alberts Bruder Alfons gehört einer Kinderbande an, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Die Jungs nehmen auch Drogen: Pervitin. Im Haus Utmanns werden Tausende Reichsmark und Lebensmittelkarten gefunden - laut Mitarbeiter Peter Glaser aus der Vergabestelle gestohlen. Ein Blindgänger tötet zwei Jungs der Bande. Hellers Sohn Klaus arbeitet bei der politischen Polizei und fordert den Vater auf, die Ermittlungen zurückzustellen - man habe Glaser als Chef der Kinderbande im Visier. Heller inspiziert dessen Wohnung und findet einen halbverbrannten Packen Briefe. Ein Mädchen verletzt ihn mit einem Messer. Im Haus der Utmanns findet Heller den blutenden Alfons: Der Junge hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ein Brief vom Amt teilt den Hellers mit, dass sie Anni wohl hergeben müssen. Wenig später stößt Heller auf den völlig besoffenen Utmann.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte die Nachbarin vom Zaun herüber. Sie hatte ihn wohl gesehen und war herausgekommen.
„Es geht schon.“Heller richtete sich auf. „Sagen Sie, wie heißen Sie?“
„Isolde Wagner.“Die Frau nahm sich das Tuch vom Kopf und richtete ihr Haar.
„Und Sie kennen Alma Utmann schon lange?“
„Das Haus gehörte ihren Eltern. Als sie starben, bekam sie das Haus. Neununddreißig zog ich hier ein. Mein Mann ist einundvierzig gefallen.“
„Und der Karl, war der schon immer so?“
Frau Wagner gab sich vertraulich. „Ich hab ihn nicht oft gesehen. Bevor er eingezogen wurde, arbeitete er viel in Nachtschicht. Jähzornig war er immer schon. Und brüllte manchmal herum. Aber so richtig verdroschen hat er weder die Burschen noch die Frau. Das kam erst nach dem Krieg.“
„Wissen Sie, wo Alma jetzt sein könnte?“
Frau Wagner kam jetzt noch etwas näher an den Zaun.
„Also, bevor der Karl wiederkam, da hatte die Utmann was mit einem anderen. Das ging wohl eine ganze Weile, dann kam aber der Karl wieder. Vielleicht ist sie ja nun doch zu dem?“„Einem Russen?“
Die Nachbarin schürzte die Lippen und zuckte zweifelnd mit den Achseln.
„War das der Mann, von dem Sie sprachen? Der, der nach den Utmanns gefragt hatte?“
Die Frau zögerte. „Die Alma hielt das geheim. Der Karl galt ja nur als vermisst, nicht als tot.“
„Wie sah denn der Mann aus, der zu den Utmanns wollte?“
Frau Wagner überlegte. „Wie ein Mann eben. Nicht zu groß,
nicht gerade dürr, aber dick auch nicht.“
„Fiel Ihnen etwas auf?“Heller wollte die Frau nicht beeinflussen, ihr schon gar nichts in den Mund legen.
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Nichts, gar nichts? Eine Narbe, eine Glatze?“, hakte Heller nach.
„Der hatte einen Hut auf.“„Und vielleicht einen Bart?“„Ja, jetzt, da Sie es sagen, da fällt es mir ein. Einen Bart hatte er!“„Was für einen?“Wieder hob die Frau die Schultern. Heller gab es auf, das hatte keinen Zweck. Die Frau sprach nur nach. Offensichtlich wollte sie ihm gefallen.
„Sagen Sie, was haben die Russen da drin getrieben?“Heller deutete auf das Erdgeschoss von Utmann.
Frau Wagner winkte ab. „Eine Zeit lang haben die Russen dort Treibstoff gelagert und ihre Fahrzeuge betankt. Eine Sauerei haben die veranstaltet! Jemand beschwerte sich, wegen der Brandgefahr. Die rauchten sogar in dem Haus. Dann zogen sie ab. Aber so gestunken wie jetzt hat es nicht da drin. Ich war einmal drüben, nachdem die Russen weg waren. Ich bin mir sicher, das hat der Karl gemacht. Der hat Benzin verschüttet, damit man ihnen niemand Fremdes ins Haus setzt. Der hat ja nicht mal die Klempner ins Haus gelassen, wegen dem Gasanschluss!“
„Und das Kind, das jüngste? Alma sagte, es wäre von den Russen.“
„Sieht doch gar nicht aus wie ein Russenkind , empörte sich die Frau. „Das sagt sie wegen ihrem Mann. Denn wenn es die Russen waren, dann ist das so. Daran kann er nichts ändern. Aber wenn er wüsste, dass es von einem anderen ist, ich schwöre, der würde sie totschlagen und das Kind gleich mit! Da kommt er übrigens.“Ohne einen Gruß eilte die Frau davon.
Heller ging langsam Richtung Tor und wartete dort auf den Mann, der schwankend wie ein Seemann nach langer Fahrt die Straße entlanggelaufen kam. Er war betrunken, das war eindeutig, und suchte immer wieder Halt an Grundstücksmauern und Zäunen und sprach mit sich selbst. Dann wechselte er die Straßenseite. Heller erkannte eine Glasflasche in Utmanns Hand.
„Frau!“, brüllte Utmann unvermittelt, als er an seinem Grundstück angelangt war. „Frau.“Er peilte unsicher die Holzplanke an und überquerte sie mit Schwung und Glück.
„Sie ist nicht da“, sagte Heller klar und ruhig, und Utmann, der ihn nicht gesehen hatte, fuhr erschrocken zur Seite und stürzte dabei fast.
„Runner von meim Grunstück!“, lallte er, steckte dann seine Hand in die Hosentasche und zerrte an etwas herum.
Heller zog vorsorglich seine Waffe. Utmann bemerkte das nicht und brachte schließlich einen Schlüssel hervor.
„Die Tür ist offen“, sagte Heller. „Es ist niemand da.“
Utmann blickte auf und musterte Heller, als sähe er ihn jetzt zum ersten Mal. „Was wolln Se?“
„Ihr Sohn hat sich heute die Pulsadern aufgeschnitten, Herr Utmann.“
„Mein Sohn, der ist tot! Is vom Kran gestürzt!“Beim Versuch die Tür aufzuschließen, stieß er mit der Stirn gegen das Holz.
Heller ballte die linke Hand unwillkürlich zur Faust. „Ich meine Ihren Sohn Alfons. Ich habe ihn ins Krankenhaus bringen lassen.“
Utmann hörte nicht mehr zu. Die Tür schwang auf und mit ihr taumelte er ins dunkle Treppenhaus und zog sich, an den Wänden abstützend, die Treppe hinauf. Heller ging ihm nach. Er spürte, wie die Wut in ihm hochkochte. Es entsetzte ihn, dass es den Mann kein bisschen scherte, was mit seinen Kindern geschah. Breitbeinig stand Utmann nun vor der Wohnungstür und hämmerte dagegen.
„Mach auf!“, brüllte er.
„Sie ist nicht da, Herrgott!“, rief Heller.
Utmann klinkte die Tür auf, taumelte, schaffte es, die Flasche abzustellen, stakte mit steifen Beinen zur Toilette, löste die Schleife von dem Strick, der ihm als Gürtel diente, nestelte an seinem Hosenstall und urinierte ungeniert im Stehen. Heller nahm die Flasche, roch daran und fuhr, angewidert vom Fuselgestank, zurück. Er stellte die Flasche in die Küche, auch wenn ihm danach war, sie auszukippen. Dann hörte er es poltern.
Karl Utmann war der Länge nach gestürzt und lag nun, völlig entblößt, rücklings im Flur und hielt sich stöhnend den Kopf. Seine Augenlider flatterten und die Hose war bis auf die Knie gerutscht.
„Reißen Sie sich mal zusammen, Mann!“, knurrte Heller wutentbrannt.
„Hilf mir auf“, stöhnte Karl und ruderte suchend mit seinen Armen durch die Luft, als sei er blind. „Hilf mir, Kamerad.“
Heller lachte kurz auf. Ausgerechnet ihm sollte er helfen? Ausgerechnet diesem Schläger und Säufer? Wie er da lag, müsste man ihn windelweich prügeln. Der Schmerz in seinem Arm vereinigte sich mit dem Kopfschmerz zu einem glühenden Dämon. Erschlagen müsste man ihn, dachte Heller, damit wäre allen geholfen, selbst ihm. Dieses Schwein wagte es, sich an einer Frau zu vergreifen. Hellers Rücken wurde steif, er ballte die Fäuste so sehr und grub die Fingernägel in die Handfläche, bis er glaubte, sein rechter Unterarm müsste platzen. Er sah auf seine Fäuste herab, hob sie an, aber er war nicht in der Lage, die Finger zu lösen.
Utmann wälzte sich auf die Seite. „Der Russe kommt Hilf mir mein Freund!“
„Der Albert der Alfons sich umb verstehst du elender Sä
Heller kniete hin, packte de mit der linken
Kragen, zerrte und holte mit ten Hand aus
Schädel müss man ihm ein schlagen, dachte er, mit der bloßen Faust.
Mit dem
Gürtel sollt man ihn verd schen, totsch gen müsste man ihn, wie einen räudigen Köter.
Utmann gurgelte und versuchte,
Hellers Griff zu lösen.
Er krächzte, während Hel lers Finger sic tiefer in den S gruben und den Kragen dreh ten. Doch er schlug nicht zu. Die erhobene Faust hing in der Luft und wurde immer schwerer, bis sie schließlich nach unten fiel. Dann ließ Heller Utmanns Jacke los, stemmte sich auf die Füße und packte den hilflosen Mann grob an, um ihm hochzuhelfen. Utmann schob sich an der Wand hoch, griff nach seinem Hosenbund und zerrte sich die Hose zurecht.
Er steuerte die Küche an, ließ sich dort auf den Stuhl fallen, nahm die Flasche und trank. Dann hielt er Heller die Flasche hin.
„Trink mein Freund“, lallte der Mann. „Alles geht kaputt, alles geht vor die Hunde. Verrecken wer’n wir alle, einer nach dem anderen. Aber wir gehen nich einfach so, wir nehm’ sie alle mit, alle!“
Heller setzte sich ihm gegenüber und nahm ihm die Flasche ab.
Utmann griff sich in die Haare. „Alles ham wir überstanden. Alles. Den Russen. Die Amis mit ihren Flammenwerfern. Keiner konnte gegen uns an. Und nu isser doch tot. Das arme Schwein.“Utmann presste seine Hände zusammen.
„Wir alle sind arme Schweine. Verheizt hamse uns! Dieser verdammte Hitler, dieser Verbrecher, dieser elende Lump!“
„Sie waren in der Normandie?“Das war nicht so weit von dem Kriegsschauplatz entfernt, der zu seinem eigenen Trauma geworden war.
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