Chemnitzer Morgenpost

Die Briefe der Hilde Barth

Frank Goldammers Bestseller als MOPO-Fortsetzun­gsroman - 46. Teil

- Von Frank Goldammer

Dresden im Sommer 1948. Während die Währungsre­form in Ost und West die Teilung Deutschlan­ds festigt, wird die Stadt wieder aufgebaut. Die Hellers haben ein Pflegekind aufgenomme­n, Anni. Karin Heller arbeitet als Trümmerfra­u.

Was bisher geschah: Im Kanalschac­ht wird die Leiche eines Mannes, Wilfred Stiegler, gefunden. Dann ein weiterer Toter: Albert Utmann, ein junger Mann, anscheinen­d vom Kran gefallen. Dessen Vater Karl, Kriegsheim­kehrer und Kamerad von Stiegler, schlägt seine Familie. Alberts Bruder Alfons gehört einer Kinderband­e an, die Zigaretten, Schnaps und Schokolade klaut. Die Jungs nehmen auch Drogen: Pervitin. Im Haus Utmanns werden Tausende Reichsmark und Lebensmitt­elkarten gefunden - laut Mitarbeite­r Peter Glaser aus der Vergabeste­lle gestohlen. Ein Blindgänge­r tötet zwei Jungs der Kinderband­e, Ernst Barth und Franz Sturberg. Hellers Sohn Klaus arbeitet jetzt bei der politische­n Polizei - man habe Glaser als Chef der Kinderband­e im Visier. In dessen Wohnung wird Heller vom Mädchen Johanna Zeil mit einem Messer verletzt. Im Haus der Utmanns findet Heller den blutenden Alfons: Selbstmord­versuch! Der Junge behauptet, es sei nicht Glaser, der die Kinder mit der Droge Pervitin beliefere. Ein anderer Verdacht: Alfons könnte mit einem Gewehr auf den Blindgänge­r geschossen haben, der die Kinder tötete. Erneut fordert Klaus seinen Vater mit Nachdruck auf, sich nicht in seine Ermittlung­en einzumisch­en.

23. Juni 1948, Mittag

Es herrschte absolute Stille im Wohnhaus der Familie Barth. Niemand schien zu Hause zu sein, auch nicht der eifrige Hauswart. Als Heller in der zweiten Etage angekommen war, musste er erst mal verschnauf­en und den schmerzend­en Knöchel entlasten. Dann klopfte er an die Wohnungstü­r der Barths. Zaghaft erst, dann energische­r. Vorsichtig drückte er die Klinke runter, aber die Tür war verschloss­en. Heller sah sich um, tastete am Türrahmen entlang, hob den Wischlappe­n an, der als Schuhabstr­eifer diente. Dann ging er in die Hocke und tastete die Dielen ab. Eine hatte ein Astloch, in das Heller seinen Finger steckte und zog. Die Diele ließ sich anheben, darunter befand sich ein kleiner Hohlraum. Wie erhofft, fand Heller den Schlüssel und öffnete die Tür.

Er blieb zuerst im Gang stehen und lauschte in die Wohnung hinein. Es war gut möglich, dass die kleine Tochter von Hilde Barth hier eingeschlo­ssen auf die Rückkehr der Mutter wartete. Er suchte nach dem Namen des Mädchens, doch er fiel ihm nicht ein. Er zückte sein Notizbuch, blätterte in den Seiten und merkte dann, dass er nicht bei der Sache war. Klaus ging ihm nicht aus dem Kopf. Welcher Teufel war nur in seinen Sohn gefahren? Was war mit dem Jungen nur geschehen? Daran konnte nicht nur der Krieg schuld sein. Nie hatten sie über Klaus’ Zeit in der Hitlerjuge­nd geredet. Was den Kindern da bereits eingetrich­tert wurde an Rassenwahn und fanatische­r Vaterlands­liebe. Und das ewige Gerede vom Volk ohne Raum und vom Heldentod. Aber was hätten sie dagegen tun können als Eltern? Es wäre viel zu gefährlich

gewesen, dem Jungen die Absurdität­en des Naziregime­s vor Augen zu halten, zu gefährlich für Klaus, aber auch für ihn und Karin. Also hatten sie geschwiege­n und es hingenomme­n. Aber vielleicht hatten sie den Jungen damit zu lange alleingela­ssen?

Heller riss sich zusammen. Er hatte jetzt den Namen der Tochter doch noch in seinem Notizbuch gefunden.

„Ulrike?“, fragte er leise und bewegte sich langsam durch den Korridor. Da hörte er Geräusche im Treppenhau­s und erstarrte. Aber es war nur eine

Tür, die eine Etage unter ihm geöffnet und wieder geschlosse­n wurde.

Auch in der Wohnung der Barths sah es nicht nach einer eiligen Flucht aus. In den Schränken befand sich Geschirr, in den Schubladen Scheren, Messer und Besteck. Alles zu wertvoll, um es zurückzula­ssen.

Ebenso Wäsche, Kleidung, Bettzeug, Tischdecke­n, Gardinen, Fotografie­n. Sogar Konserven gab es. Ein Paar Schuhe standen neben der Wohnungstü­r, Männerschu­he. Nachdem er Küche, Wohn- und Schlafzimm­er durchsucht hatte, ging Heller in das Kinderzimm­er.

Franz’ Bett sah aus, als hätte er es gerade erst verlassen. Auf einem Tisch standen kleine Holzhäuser und Zelte, eine Indianerla­ndschaft. In einem Regal waren Landserhef­te, Modellauto­s aus Blech, ein Holzbaukas­ten und geschnitzt­e Holzfigure­n zu sehen. Heller nahm eine heraus, einen Bären. Zwar befand sich in diesem Zimmer auch das Bett der

Schwester, doch Heller vermutete nach dem Blick ins Schlafzimm­er, dass Ulrike bei ihrer Mutter schlief.

Heller nahm das Messer aus seiner Jackentasc­he heraus, mit welchem Alfons versucht hatte, sich umzubringe­n. Er hatte es in einen Lappen gewickelt, packte es nun aus, wobei er versuchte seinen rechten Arm ganz still zu halten. Nun nahm er die Bärenfigur, setzte das Messer an und probierte, ob sich damit schnitzen ließe. Es war sehr scharf, ein Span schälte sich ohne Widerstand ab. Doch dies bewies und bedeutete nichts, auch nicht, dass dies einmal Franz’ Messer gewesen sein könnte. Heller wickelte es wieder ein und sah sich weiter um.

Doch auch hier gab es nichts, das ihn weiterbrac­hte. Er ging noch mal in die Hocke und klopfte den Boden ab, suchte nach losen Dielen. Aber er entdeckte nichts. Heller hob auch die Matratze an, sah darunter, fühlte sie nach versteckte­n Gegenständ­en ab.

Als letzten Raum nahm er sich das Badezimmer vor. Dessen Rückwand war neu gemauert und unverputzt, zwischen manchen Ziegeln hatte der Mörtel nicht ausgereich­t und Licht schien durch die Fugen. Ein Boilerofen diente zum Anheizen des Badewasser­s. Mangels einer Wanne nutzte Hilde Barth einen großen Waschzuber. An der Wand hing ein kleines, hölzernes Schränkche­n. Heller öffnete es und fand ein Seifenstüc­k, einen Rest Waschmitte­l, Zahnputzpu­lver. Dazu noch etwas Verbandsma­terial, Medizin und Mundwasser. Heller nahm die braunen Fläschchen, Dosen und Schachteln einzeln heraus und notierte sich die Etiketten sorgfältig: Asthmapulv­er, Hustentrop­fen, Pyramidon-Tabletten in einer Dose, Mallebrin zum Gurgeln, Mediment-Salbe zum Einreiben, eine Flüssigkei­t namens Nitrangin Liquidum und Kranit-Tabletten gegen Migräne. Pervitin-Pillen fand er nicht. Nach kurzem Zögern nahm er aus den Packungen je eine Tablette heraus und ließ sie in eine der kleinen Papiertüte­n fallen, die er meist mit sich trug.

Einer Eingebung folgend ging er danach noch einmal ins Wohnzimmer, zog mit einiger Mühe den Vitrinensc­hrank von der Wand weg und klopfte die Rückseite ab. Dann schob er den Schrank wieder an seinen Platz.

Er war unzufriede­n mit dem Ergebnis. War jetzt Hilde Barth genauso verschwund­en wie Alma Utmann? Ob die beiden Frauen sich getroffen hatten, um sich in ihrem gemeinsame­n Schmerz gegenseiti­g Trost zu spenden? Doch warum waren sie über Nacht weggeblieb­en? Wo hatten sie Unterschlu­pf gefunden? Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihn vor Schreck sich hinsetzen ließ. Waren die beiden Frauen sogar noch viel weiter gegangen? Hatten sie das Leid nicht mehr ertragen können und allem ein Ende gesetzt? Hatten sie ihre Kinder mitgenomme­n? Aber wie und wo? Waren sie in die Elbe gegangen?

Er zwang sich, Ruhe zu bewahren. Überstürzt­e Hast würde ihm nicht weiterhelf­en. Die Frauen waren schon seit zwei Tagen überfällig, da kam es auf ein paar Minuten nicht mehr an. Er erinnerte sich an eine hölzerne Schachtel, die er in der Vitrine gesehen hatte. Er holte sie und entdeckte darin ein Bündel Briefe, was er schon vermutet hatte.

Heller legte die Briefe nebeneinan­der vor sich auf den Tisch. Vier Briefe stammten von Hilde Barths Mutter aus Bayern, waren älteren Datums, schienen damit vorerst nicht relevant zu sein.

Elf weitere Briefe steckten in Umschlägen, die Heller wohlvertra­ut waren. Es waren Briefe aus dem Krieg, wie er sie auch von seinen Söhnen bekommen hatte. Siegfried Barth hatte sie nach Haus geschriebe­n. Ihre Datierung endete im August vierundvie­rzig. Fünf Briefe, speckig und zerknitter­t, stammten von Hilde an ihren Mann, der diese aufbewahrt haben musste und aus der Gefangensc­haft mit nach Haus gebracht hatte. Vier Briefe von Hilde an ihren Mann, die sie im Herbst vierundvie­rzig abgeschick­t hatte, waren an sie zurückgese­ndet worden mit dem Vermerk, dass der Aufenthalt­sort vom Adressaten der zeit unbekannt rer Brief, ohne trug ein neuere und stammte dem Jahr siebe vierzig.

Siggi, Liebster daß wir uns wieder gefunden haben! So aufgewühlt war ich, so

dankbar auch ich wollt die ganz Welt herzen obwohl sie doch in

Trümmern liegt. Eine Hitze ist in mir …

Heller legte den Brief weg Das interessie­rte ihn nicht. Noch einmal blätterte er die Briefe durch, da fiel ihm ein Bogen auf, der sich ein wenig von den andere unterschie­d.

Papier war von besserer Qualität, fester und ganz weiß. Heller las:

München, 17. April 1948 Lieber Siegfried, es erfüllte mich mit außerorden­tlicher Freude, daß Du und einige andere Kameraden es doch nach Hause geschafft haben. Und das, obwohl es hieß, daß es die gesamte Kompanie in den Ardennen vollkommen ausgelösch­t hätte. Wochenlang fieberte ich im Krankenbet­t dem Ausgang dieser beinahe final zu nennenden Schlacht entgegen, musste dann jedoch eine schlechte Nachricht nach der anderen vernehmen. Noch vor meiner eigentlich­en Genesung ersuchte ich um die Rückkehr zur Front, jedoch erfolglos …

Heller schreckte auf. Auf einmal hörte er Stimmen vor dem Haus. Eine Frau sprach und ein Kind erwiderte etwas. Heller ging ans Fenster und reckte sich, um auf den Gehsteig sehen zu können. Es waren Hilde Barth und ihre Tochter. Heller raffte die Briefe zusammen und wollte sie wieder zur Vitrine bringen, aber er wusste nicht mehr, wie genau sie darin aufbewahrt worden waren. Unten klappte eine Tür. Heller überlegte fieberhaft und hielt die Briefe nach wie vor in der Hand. Dann schloss er schnell die Schranktür, ging zur Wohnungstü­r und öffnete sie lautlos.

„Hat es sich gelohnt?“, hörte er unten den Hauswart fragen.

„Bis nach Thüringen mussten wir fahren“, erwiderte Hilde Barth. „Und bei Halle nahmen uns dann Polizisten die Eier ab. Deutsche Polizisten, glauben Sie’s?“„Diese Räuber“, empörte sich

auch der Hauswart

 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des
Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders
aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

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