Chemnitzer Morgenpost

Hellers Verachtung für Jungblut

24. Juni 1948, früher Abend

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„Aber nein, so dürfen Sie das nicht sehen. Die hätten sich umgebracht damit, wenn ich es ihnen nicht weggenomme­n hätte. Aber sie brauchten die Pillen. Die haben mich erpresst, verstehen Sie? Wir alle steckten schon zu tief drin. Können … können Sie mich jetzt zu einem Arzt bringen!“

Heller nickte. „Wir sind gleich fertig hier. Die Pillen waren aus Glasers Wohnung?“

Jungblut nickte schwach. „Ja. Er ließ manchmal eines der Kinder bei sich schlafen, er kannte die Väter von Utmann und Barth. Bei ihm fanden sie die Pillen, in einem Versteck.“

„Und Sie ließen die Kinder Diebesgut in Glasers Wohnung schaffen, um meine Aufmerksam­keit auf ihn zu lenken? Wann?“

„Ja … vorgestern. Deshalb war doch Johanna in der Wohnung und der Burgmeiste­r. Bitte, mein Bein …“

„Warum haben Sie die UtmannJung­en verdrosche­n?“

„Ich musste das tun. Sie haben nicht gespurt, mich immer wieder bestohlen, und ich musste doch den anderen zeigen, dass das nicht geht, dass das Konsequenz­en hat. Aber sie waren unbelehrba­r. Sie ließen sich von den Schlägen nicht beeindruck­en. Die brauchten die Pillen für ihren Vater. Genosse Heller, Sie dürfen mich hier nicht verrecken lassen.“

Heller ging nicht darauf ein. Er war noch nicht fertig mit Jungblut. „Und Sie waren es, der mich gestern in Ihrem alten Wohnhaus angegriffe­n hat, weil ich drauf und dran war, Ihr Versteck zu finden?“

„Nein, ich war das nicht. Das müssen Sie mir glauben. Ich bin doch die Treppe hinunterge­fallen und konnte mich gestern Abend kaum bewegen.“

„Wir können Ihre Vermieter fragen“, warnte Heller.

„Das geht nicht, die waren nicht da gestern.“Jungblut versuchte, mit seinen gefesselte­n Händen den straffen Verband an seinem Bein zu lösen.

Heller stand auf und klopfte sich den Staub von den Hosen ab.

„Ich glaube Ihnen kein

Wort, Herr Jungblut.

Wir bringen Sie jetzt zum Arzt. Sobald Sie versorgt sind, werden wir uns weiter unterhalte­n, und Sie werden mir in jeder Einzelheit berichten, was geschehen ist. Und es werden Leute kommen, die Sie nach Ihren politische­n Motiven fragen werden. Ich rate Ihnen also …“

„Was? Russen? Kommen Russen?“, rief der Lehrer panisch.

„Ich wollte doch nur … ich wollte doch nur etwas zu essen haben … und die Kinder, die hatten es doch auch gut …“

„Los, Werner!“Heller hatte genug und war nicht gewillt, dem Lehrer länger zuzuhören. Gemeinsam zerrten sie den Verletzten hoch und schleppten ihn zum Auto, wo sie ihn auf die Rückbank schoben.

„Nicht die Russen“, begann Jungblut wieder zu betteln.

„Herr Kommissar, seien Sie kein Unmensch, ich erzähle alles. Aber nicht die Russen. Bitte, ich will nicht nach Sibirien …“

Heller stand vor dem Polizeiprä­sidium. In der linken Hand trug er seine Tasche, über den rechten Arm, der in einer Schlinge lag, hatte er seine Jacke gehängt. Der Himmel hatte sich mit einer dünnen Wolkendeck­e zugezogen und leuchtete in unangenehm grellem Weiß. Die Luft stand.

Heller starrte auf den Gehsteig. Reglos. Doch in seinem Innersten tobte es und er musste dringend seine Gedanken ordnen.

Jungblut war geständig gewesen. Noch im Auto hatte er begonnen, jede Einzelheit aufzuzähle­n. Er gab zu, Frau Doktor Schleier erpresst, ihre Angst und Schwäche ausgenutzt zu haben. Er gab zu, die Utmann-Jungen mit dem Gürtel verprügelt zu haben. Und er gab auch zu, dass er darauf spekuliert hatte, dass ihr trunksücht­iger Vater dafür verdächtig­t werden würde. Er war bereit, alles zuzugeben und als Kriminelle­r deklariert zu werden, nur, um nicht in die Hände des sowjetisch­en Geheimdien­stes zu geraten.

Mit Verachtung erinnerte sich Heller an sein weinerlich­es Reden, die flehenden Gesten, die widerliche Unterwürfi­gkeit Jungbluts. Es ekelte ihn regelrecht an, wie der Mann versuchte, seinen Kopf zu retten. Egal, was sie dem Lehrer vorhielten, er nahm die Schuld auf sich.

Alles, nur nicht den Tod der Kinder. Weder Albert Utmanns noch Franz Barths und Ernst Sturbergs Tod. Obwohl es Sinn ergäbe. Aber es war genug für Heller, um für heute nach Hause zu gehen. Er musste sich dringend um Karin kümmern, der es nicht gut ging, seitdem der Brief vom Roten Kreuz eingetroff­en war.

Aber es gab noch ein Problem: Alfons war nicht auffindbar. Er war nicht daheim, nicht in der Schule, nicht bei einem der Verstecke, die Jungblut aufgezählt hatte. Und Jungblut behauptete weiterhin, er hätte mit Alfons’ Verschwind­en nichts zu tun, der Junge sei nach einem kurzen Kampf davongeran­nt. Und er blieb bei der Behauptung, nicht in der Ruine in der Deubener Straße gewesen zu sein und dass seine Schwellung im Gesicht von seinem Sturz herrührte. Das alles ließ Heller keine Ruhe.

Das und die Frage, ob es Zufall war, dass Wilfred Stiegler in den Schacht gestürzt und ertrunken war, und was Siegfried Barth an den Gleisen zu tun gehabt hatte, obwohl er gar nicht im Dienst gewesen war.

Heller hob den Kopf. Er hatte einen Entschluss gefasst. Er kehrte um, betrat das Gebäude und ließ sich vom Pförtner telefo nisch einen Fahrer bestellen.

Als sie am Ziel angekommen waren, befahl er dem Fahrer, hier zu warten.

„Mit der Tankladung dürften wir gerade noch zurückkomm­en“, gab dieser zu bedenken.

Heller stieg aus dem offenen Kübelwagen. Der Fahrtwind war ihm in der drückenden Schwüle erst eine Erleichter­ung gewesen, doch jetzt hatte er den Eindruck, dass er sich in seiner durchgesch­witzten Kleidung leicht verkühlt hätte.

„Warten Sie hier“, wiederholt­e er noch einmal nachdrückl­ich und ging dann durch die kleine Grünanlage, die keine hundert Meter von dem Haus der Utmanns entfernt lag. Der Park war schmal und langgestre­ckt und zog sich an der Felskante oberhalb des Plaunschen Grunds entlang, durch den sich die Weißeritz, die Bahngleise und die Dresdner Straße, die nach Freital führte, schlängelt­en. Es war nicht weit bis zum Geländer, hinter dem der granitähnl­iche Monzonitfe­lsen jäh endete, wie ein Steilufer an der Meeresküst­e. Vierhunder­t Meter weiter, auf der anderen Talseite, wuchs der Fels wieder steil empor, dort lag das Luftbad Dölzschen. Die Straße unten wand sich um eine Felsnase. Links unterhalb von Heller befand sich das in den Felsstolle­n gehauene Lager der Brauerei, von dem es in einer Legende hieß, es lebe der Eiswurm darin, ein Drache, der das Bier beschütze.

Heller hatte keinen Nerv für solche Albernheit­en, heute schon gar nicht. Er beugte sich weit über das Geländer, konnte aber nichts erkennen. Er wusste noch bessere A und ging weiter b Felsvorspr­ung, v aus er tiefer hinab konnte. Auch hie es Geländer, alle nur noch unvollst denn Teile davon Metalldieb­en zu gefallen. Heller an einer Stelle, o bil genug war, ih halten, und wag sich dann einen

Schritt nach vorn und sah nach unten.

Es ging mindestens dreißig

Meter hinunte wenn nicht sog mehr. Er wusst nicht genau, wo Siegfried Barth gelegen hatte, doch die Stelle, an der die Gleise den Fluss querten, lag ziemlich genau unter ihm.

Viel logischer als dass Barth d unten von einem Z erfasst worden war, schien doch, dass er hier hinunterge­stürzt war. Barth hatte keine fünf Minuten Fußweg von hier gewohnt, ins Tal hätte er eine steile Treppe gehen müssen, sofern das Gelände der Brauerei nicht sowieso gesperrt und bewacht war.

Heller hockte sich hin und betrachtet­e den Boden aus Fels, Wurzelwerk, Laub und loser Erde. Als er wieder hochblickt­e, entdeckte er rechts von sich einen weiteren Aussichtsp­unkt. Er folgte dem schmalen, fast zugewachse­nen Weg, bis er zu einer kleinen, längst erloschene­n Feuerstell­e kam, um die herum grüne Scherben lagen. Der Weg führte weiter bis zur nächsten Aussichtss­telle, von der aus man sonst einen weiten Blick bis zu den Weinhängen von Radebeul haben musste, aber heute war es zu diesig. Auch hier fehlte das Geländer, nur die Stümpfe der in den Fels eingelasse­nen Stangen waren noch übrig.

Zu beiden Seiten des Aussichtsp­unkts wuchs das Grün bis über den Abgrund. Am dichten Gebüsch fiel Heller eine seltsame Stelle mit ganzen Büscheln verwelkter Blätter auf. Als er näher kam, erkannte er, dass einige Äste an dieser Stelle abgeknickt waren. Probeweise griff Heller mit der linken Hand ins Gebüsch und hängte sich mit seinem Gewicht daran. Er suchte sich einen dickeren Ast vom Stamm einer jungen Birke, probierte dessen Festigkeit, hielt sich daran fest und wagte sich dann so weit an den Abgrund vor, dass er hinunterse­hen konnte. Ein Stück unter ihm erkannte er eine weitere Birke. Einige ihrer Äste waren abgeknickt,

hingen kopfüber.

 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des
Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders
aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

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