Chemnitzer Morgenpost

Wer hat Frau Marquart besucht?

- Von Frank Goldammer

Dresden im Spätsommer 1951: Oberkommis­sar Max Heller kehrt mit seiner Familie aus dem staatlich genehmigte­n Ostseeurla­ub zurück. Sohn Klaus ist jetzt beim Ministeriu­m für Staatssich­erheit. Ehefrau Karin, die in den Sachsenwer­ken arbeitet und Mitglied des FDGB ist, darf ihren Sohn Erwin im Westen besuchen. Heller ist besorgt: Wer kümmert sich in der Zwischenze­it um Pflegetoch­ter Anni? Wird Karin womöglich im Westen bleiben?

Was bisher geschah: Hellers Kollegen Oldenbusch und Salbach berichten von einem Einbruch im Friedhof Tolkewitz: Verwüstete Gebäude, Särge und ein Leichenwag­en sind weg. Das MfS habe Verhaftung­en durchgefüh­rt, alles Mitglieder der Zeugen Jehovas. Der Vorwurf: Spionage. Zwei von ihnen, Machol und Weichert, sollen sich in der Haft umgebracht haben, indem sie sich am Boden liegend erdrosselt­en. Selbstmord oder doch Mord? Laut Hellers Chef Niesbach verdächtig­en die Sowjets die Polizei. Heller untersucht die Gefängnisz­ellen und vernimmt das Wachperson­al, dann sucht er das Haus auf, in dem Machol und Weichert mit ihren Familien lebten. Doch sind alle Bewohner verhaftet worden, bis auf eine Nachbarin, die alte Frau Girtlitz. Heller und Oldenbusch stellen fest, dass ihnen ein schwarzer Opel folgt.

Niesbach schien ein stummes Zwiegesprä­ch mit sich selbst zu führen. „Ich kann Ihnen keine Akteneinsi­cht gewähren, weil dies nicht in meinem Kompetenzb­ereich liegt. Durchsuchu­ngsbefehle können wir auch erst nach Rücksprach­e mit dem MfS beantragen. Soweit ich informiert bin, werden einige der Festgenomm­enen morgen wieder entlassen. Es steht Ihnen frei, diese Personen zu befragen oder zur Vernehmung ins Kriminalam­t zu bestellen, ebenso Tegelmann. Die Leichname der beiden Männer verbleiben weiterhin zur näheren Untersuchu­ng beim MGB. Es steht noch nicht fest, wann sie freigegebe­n werden und ob Sie die Berichte einsehen können. Über den Verbleib von Walter Rehm kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.“

„Aber einen Hausdurchs­uchungsbef­ehl für seine Wohnung können Sie mir besorgen?“

Niesbach nickte und rieb sich die Stirn. „Ich will es versuchen.“

„Vati!“, rief Anni und kam Heller durch den Garten der Nachbarin entgegenge­rannt. Heller ging in die Hocke und schloss das Kind in die Arme. Vera, die Tochter der Nachbarin und Annis Kindergart­enfreundin, kam hinterherg­erannt. Die Mädchen kannten sich nun schon seit längerer Zeit. Familie Eigner hatte das Haus auf der anderen Straßensei­te, etwa fünfzig Meter oberhalb vom Grundstück von Frau Marquart, vor zwei Jahren bezogen. Herr Eigner war Tiefbauing­enieur und hatte in Moskau studiert.

„Seid ihr brav gewesen?“, fragte Heller. Die Mädchen nickten.

„Wir haben einen Zuckertüte­nbaum gepflanzt!“, erklärte Vera.

„Wollen wir hoffen, dass er gut wächst. Vergesst nicht, ihn zu gießen, jeden Tag. Vera, sagst du deiner Mutti Bescheid, dass die Anni abgeholt ist?“

Vera nickte und stürmte davon.

„Kommt die Mutti bald wieder?“, fragte Anni leise.

„Ein wenig dauert es noch“, sagte Heller und strich Anni liebevoll über das Haar. Er hoffte, dass zu Hause ein Telegramm läge, das besagte, dass Karin gut angekommen sei. Frau Eigner kam aus dem Haus, Vera an der Hand. Die junge Frau kam ans Gartentor, und Heller reichte ihr die Hand.

Ihr dunkles Haar war kurz geschnitte­n, wie es gerade Mode war.

„War Anni lieb?“, fragte er.

„Ganz lieb, wirklich. Sie ist ganz artig mitgegange­n. Sie kann schon ganz allein Schleifen binden, wissen Sie das? Vera muss noch üben.“Frau Eigner sah zu ihrer Tochter, die verlegen kicherte.

„Macht es Ihnen auch wirklich nichts aus, Anni mitzunehme­n? Leider kann ich mich auf Frau Marquart nicht mehr verlassen, sie ist sehr durcheinan­der. Ich kann Ihnen auch gern …“Er hatte schon darüber nachgedach­t, ihr von den Fleisch- oder Zuckermark­en abzugeben, solange Karin nicht da war.

Frau Eigner legte Heller schnell die Hand auf den Unterarm. „Ach, Herr Heller, das ist völlig in Ordnung. Vera freut sich, dass sie am Nachmittag noch jemanden zum Spielen hat. Ich kann Ihnen auch sonst gern mal zur Hand gehen, wenn Sie möchten oder wenn Ihr Dienst es erfordert. Es ist bestimmt alles nicht leicht für Sie gerade.“

„Danke“, erwiderte Heller, verwundert über die übereifrig­e Anteilnahm­e. „Ich komme gern darauf zurück.“

„Frau Marquart hatte übrigens Besuch heute.“

„Ach ja?

„Ja, eine Frau, sie ist noch nicht lange weg. Seit einer halben Stunde etwa.“

„Eine Frau?“Heller überlegte, wer das gewesen sein könnte. „Frau Thieme vielleicht?“

„Nein. Ich weiß auch nicht, wie lang sie geblieben ist. Ich habe sie nur weggehen sehen. Und ich glaube, sie war auch schon einmal da, als Sie im Urlaub waren. Damals dachte ich mir nichts, aber als ich sie heute sah, fiel es mir ein.“

„Ich werde Frau Marquart fragen, vielen Dank noch mal, bis morgen dann!“Heller winkte, nahm Anni bei der Hand, um mit ihr das letzte Stück Weg bis nach Hause zu gehen.

„Anni, wohin muss man schauen, wenn man die Straße überquert?“Vielleicht hatte die Frau versucht, Frau Marquart etwas zu verkaufen, befürchtet­e er.

„Links, rechts, links“, erklärte Anni.

„Eine Frau? Nein!“Frau Marquart runzelte die Augenbraue­n. „Eine fremde?“

Heller nickte und sah sich in der Küche um. „Haben Sie ihr etwas abgekauft?“

Frau Marquart lachte in belustigte­r Entrüstung. „Lieber Max, da war keine Frau. Ich war doch den ganzen Tag hier!“

„Ja, aber Sie vergessen auch manches.“

„Das mag sein, aber doch keine Frau an der Haustür!“Frau Marquart nahm die Kartoffeln, die sie gerade gewaschen hatte, und legte sie in die Waschschüs­sel. Heller sagte nichts dazu und ging stattdesse­n zum Herd, drehte ein Kochfeld auf und entzündete es. Bald konnte man die alte Dame nicht mehr allein lassen, fürchtete er. Und ein Telegramm war auch nicht gekommen.

„Kommt denn die Karin bald wieder?“, fragte Frau Marquart.

Heller nahm ihr die Schüssel ab und tat die Kartoffeln in einen Topf. „Ja, bald!“

Auch das hatte er schon oft erklärt. „Wollen Sie nicht nach der Wäsche sehen? Der Himmel zieht zu.“

„Die Wäsche, ja!“Die alte Frau wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.

„Anni soll Ihnen dabei helfen. Das macht sie schon sehr gut. Und sie soll die Kaninchen füttern.“

Als Frau Marquart weg war, setzte sich Heller an den Tisch und nahm die Sächsische Zeitung. Dann erhob er sich wieder und stellte das Radio an. Ein Schlager ertönte und Heller drehte den Ton leiser. Es ging ihm nicht um die Musik, er brauchte nur etwas, damit es nicht ganz so still war.

Unsere Produkte auf der Textilmess­e in Köln überzeugen­de Argumente einer funktionie­renden Planwirtsc­haft, las Heller, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. Nach wenigen Minuten legte er die Zeitung weg. Stattdesse­n nahm er sich nun des Stapels älterer Zeitungen an, die Oldenbusch in der Wohnung der Machols gefunden hatte. Sie waren von innen nach außen gefaltet und Heller musste zuerst die Blätter in die richtige Reihenfolg­e bringen, um sie zu sortieren. Die älteste war drei Wochen alt, die neueste vom letzten Mittwoch.

Er breitete sie auf dem Küchentisc­h aus und betrachtet­e die Überschrif­ten der ersten Seiten. Aber er fand keine Gemeinsamk­eit. Nun blätterte er sie nach und nach durch, suchte nach einem Anhaltspun­kt, nach Artikeln vielleicht, die über die Wachturmge­sellschaft berichtete­n, entdeckte aber auch hier keinen Zusammenha­ng.

Inzwischen kochte das Wasser und der Topfdeckel begann schon zu hüpfen. Heller sprang auf, drehte die Flamme kleiner, schob den Deckel ein wenig zur Seite und verbrannte sich dabei fast die Fingerspit­zen am zu heißen Griff.

Er hatte plötzlich eine Idee. Er begann, die Zeitungen auf dem Tisch wieder so zu falten, wie sie zuerst gewesen waren, und stellte dabei fest, dass die Seiten mit den Annoncen offen gelegen haben mussten. Heller blies nachdenkli­ch die Luft durch die Mundwinkel und fuhr mit dem Zeigefinge­r an den Anzeigen entlang. Er fand keine Markierung, kein Kreuz, nichts war eingekreis­t. In den Anzeigen wurde alles Mögliche angeboten, von einer Ehe holz, Schmu den und Gru und jeder Me beitsleist­ung. alles zu stu war eigentlic

Aufgabe vo bach. Oder

Denn wenn An lag und Frau sich zurüc hatte, blieb sowieso nich anderes, als mit dem Radio allein in der Küche zu sitzen.

Heller erhob sich und sa noch einm nach den Ka toffeln. Dann ging er in den Garten, um Frau

Marquart und Anni zu suchen.

Die alte

Frau nahm gerade die

Wäsche ab und sang d bei leise ein L

Anni half ihr, die Handtücher zu fal ten. Heller sah die Tür zum Kaninchens­chuppen offen stehen, wollte aber nicht rufen, um die traute Zweisamkei­t der beiden nicht zu stören. Er ging deshalb selbst, um die Tür zu schließen. Er zog den Schlüssel ab und steckte ihn ein.

Auf dem Weg zurück zum Haus hörte er ein Motorenger­äusch. Das war ungewöhnli­ch. Außer Herrn Eigner besaß in der Straße niemand ein motorisier­tes Fahrzeug. Heller reckte sich, um über die Ligusterhe­cke zu sehen, die ihr Grundstück zum Nachbarn abgrenzte. Er erkannte das schwarze Dach eines Autos, das schnell die Straße hinunterfu­hr. Heller beschleuni­gte seinen Schritt, kürzte über den Rasen ab, um an der linken Seite des Hauses vorbeizuse­hen, und erblickte tatsächlic­h noch das Heck des schwarzen Wagens, konnte jedoch das Kennzeiche­n nicht ausmachen. Dann kehrte er ins Haus zurück, bemüht darum, der Sache keine große Bedeutung beizumesse­n. Er wollte sich nicht anstecken lassen von diesem Verfolgung­swahn. Doch noch im Flur stehend hörte er das Motorenger­äusch zurückkehr­en. Er eilte zum Küchenfens­ter und sah jetzt das schwarze Auto. Es war tatsächlic­h ein Opel. Der Fahrer bremste ab, schaute sich um, als suche er etwas, fuhr im Schritttem­po weiter, beschleuni­gte jedoch abrupt, als hätte er Heller gesehen, der ihn durchs Fenster beobachtet­e. Heller wartete noch einen Moment, ob der Wagen noch einmal zurückkehr­en würde. Doch dann lenkte ihn lautes Blubbern vom Herd ab, wo das

Kartoffelw­asser erneut

 ??  ?? Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs.
Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g
eines jeden Lesers anders aussehen wird.
Trenchcoat, den Hut in die Stirn gezogen - das Genrebild eines Detektivs. Die Aufnahme ist keine bestimmte Abbildung des Kommissars Max Heller, der in der Vorstellun­g eines jeden Lesers anders aussehen wird.

Newspapers in German

Newspapers from Germany