Wie viel wollen wir trinken?
Der Rausch
Kein Film für Schnapsgegner: Voller Empathie beobachtet der Däne Thomas Vinterberg vier Lehrer auf ihrem Weg in die alkoholinduzierte Bewusstlosigkeit.
Mittelalte Männer, die sich zwei Stunden lang betrinken. Das klingt nach derbem, wenig subtilem „Hangover“. Doch dem Regisseur
und einstigem Dogma95-Miterfinder Thomas Vinterberg („Das Fest“) geht es in seiner längst mit einigen Auszeichnungen (darunter der Oscar für den besten internationalen Film) bedachten Dramödie um die Überprüfung einer These: Ist der Mensch leicht angetrunken tatsächlich besser drauf?
Im Mittelpunkt steht Martin (ein wunderbarer Mads Mikkelsen). Der frustriert-gelangweilte Lehrer sitzt seine Stunden vor nicht minder gelangweilten Pennälern ab. Auch auf der Geburtstagsfeier eines Kollegen stellt Martin zunächst seine faltige Miene zur Schau. Dann steht die auf einen norwegischen Psychiater zurückgehende Idee mit dem konstanten Dauerschwips im Raum. Das Ziel: „entspannterer Gesamtzustand“. Das Mittel: Alkohol. Vorbild: Hemingway.
Schon an diesem Abend glätten sich Martins Gesichtszüge. Bald muss er konstatieren: „Lange her, dass es mir so gut ging.“Auch seine Schüler lernen ihn neu kennen. Martin ist plötzlich inspirierend und lustig. Die drei Kollegen, die beim Experiment mitmachen, berichten Ähnliches.
Nach einer guten Dreiviertelstunde aber kursiert die bange Frage: „Sind wir Alkoholiker?“Eindeutige Antwort: Nein, wir bestimmen ja selbst, wann wir trinken. Dass es so einfach nicht ist, auch das zeigt Vinterberg in seinem
Film. Das Alkoholexperiment droht aus dem Ruder zu laufen; irgendwann werden die im Geräteraum der Schule versteckten Pullen entdeckt.
Vinterberg enthält sich eines moralischen Urteils. Nie geht der Zeigefinger nach oben. Für eine unreflektierte Verharmlosung des Trinkens ist der Däne zu klug. Und doch: Ob sich (trockene) Alkoholiker in diesem Film wirklich wohlfühlen, sei einmal dahingestellt. Letztlich ist der Film erbaulich, teils sogar vergnüglich: Es geht um Lebensfreude, um wirkliche Spontaneität, die Feier des Moments, ums Loslassen.
Fazit: Überraschend mitreißende Buddy-Tragikomödie.
Matthias von Viereck