Analytics ohne Konsequenzen
Viele Unternehmen sind experimentierfreudig, doch sie wollen das Labor nicht verlassen.
Es gibt nicht nur eine Wahrheit über Analytics, und das macht mir Mut“– dieses Resümee zog Gregor Stöckler, CEO von Datavard, nach 90 Minuten engagierter Diskussion. Mit sieben weiteren Experten analysierte Stöckler die Ergebnisse der IDGStudie „Real Analytics“im Rahmen eines Roundtable-Gesprächs der COMPUTERWOCHE. Die Studie, die auf den Angaben von 359 Entscheidern basiert, hatte das Ziel, herauszufinden, wie weit Unternehmen in Sachen Analytics in Deutschland sind. Die Ergebnisse zeigen: Die Unterschiede zwischen Firmen und Branchen sind beträchtlich. Grundsätzlich bescheinigen die Studienteilnehmer dem Thema Analytics einen hohen Stellenwert im Rahmen ihrer eigenen Firmenstrategie. Aus 20 IT-Themen durften sie bis zu fünf auswählen, mit denen sich ihr Unternehmen im kommenden Jahr beschäftigen wird. Vor Analytics, Big Data und Daten-Management (27 Prozent) landeten nur die Digitalisierung von Geschäftsprozessen (39 Prozent) sowie Security und Cybersecurity (33 Prozent).
Der Vorsprung der Prozessdigitalisierung fällt auf. Wie wäre es, die Neuausrichtung der Geschäftsprozesse gleich auf die bestmögliche Analyse vorhandener und zu beschaffender Daten zu stützen? In der Praxis denken viele Unternehmen offenbar nicht darüber nach. Bei der Frage, welche Themen die Verantwortlichen auf ihrer Agenda haben, springt ferner ins Auge, dass das eigentlich mit dem Analytics-Aspekt verknüpfte Thema Business Intelligence mit knapp 15 Prozent der Nennungen nur im hinteren Mittelfeld landet.
Was unterscheidet BI von Data Analytics?
Das könnte alles eine Frage der Definition sein, mutmaßen die Teilnehmer des Roundtables. „Unterscheiden die Kunden überhaupt zwischen Business Intelligence und Data Analytics?“, überlegt Jürgen Boiselle, Director Technology and Innovation bei Teradata. Manch anderer Diskussionsteilnehmer geht noch weiter: Digitalisierung der Prozesse, Virtualisierung – das gehöre aus Anwendersicht doch zusammen. Shayan Faghfouri, Managing Director bei DextraData, fragt in die Runde: „Wie lautet denn Ihre Definition?“Auch hier
brachten die Antworten verschiedene Aspekte auf den Tisch: „BI ist rückwärtsgerichtet, Data Analytics vorwärts“, sagte Stöckler. Für Boiselle liegt der Unterschied in den Skills. „Die, die das neue Analytics machen, haben alle grüne Haare!“Die Runde lacht zustimmend.
Das definitorische Feintuning ging noch weiter. Die ebenfalls im Analytics-Kontext stehenden Themen In-Memory-Computing und Realtime Enterprise wurden von nicht einmal sechs Prozent der Befragten als relevant für die eigene IT-Agenda eingestuft. Dennoch glaubt Fabian Veit, Head of Operations bei Celonis: „Realtime-Tools werden sich mit dem Mehrwert, den ihre Funktionen bieten, durchsetzen. Auch wenn wir bisher erleben, dass mancher Kunde realtime als tagesaktuell versteht.“Diese Einschätzung deckte sich mit der Erfahrung von Lars Milde, Marketing-Manager bei Tableau: „Die Definition von Realtime hängt vom jeweiligen Prozess und dem Anwender ab.“Und Faghfouri kennt viele Kunden, die offen sagen: „Ich bin froh, wenn ich die Vergangenheit sauber darstellen kann!“
Tools müssen mit Schmodder umgehen
Doch eben daran hapert es oft, berichtete Datavard-CEO Stöckler: „Datenbereinigung wird als Erstes aus dem Angebot gestrichen.“Damit rannte er in der Diskussionsrunde offene Türen ein. Nur zu bekannt sei das Beispiel eines weltweit agierenden Lebensmittelkonzerns, der 15 Prozent Dubletten bei 80 Millionen Kundendaten für eine „sehr gute“Quote halte. „Tools und Algorithmen müssen auch mit Schmodder umgehen können!“, kommentierte Lars Schwabe, Associate Director Lufthansa Industry Solutions, trocken.
Der Hemmschuh, den Analytics-Betreiber im Rahmen der Befragung am häufigsten nannten, ist so alt wie die Datenverarbeitung selbst: mangelnde Datenqualität (33 Prozent). Es fol- gen im Ranking der Hindernisse ein mangelndes Verständnis für Datennutzung (31 Prozent) und fehlende analytische Skills im Unternehmen (26 Prozent). Auch auf die dedizierte Frage nach technischen Mankos der derzeitigen Analytics-Lösungen nennen die Studienteilnehmer am häufigsten zwei Punkte, die unter Umständen mehr mit Skills und Politik als mit Tools zu tun haben: Fehler im Daten-Management und fehlenden Zugriff auf Datenquellen. Erst danach folgen eindeutig technische Probleme wie nicht intuitiv zu bedienende Benutzeroberflächen und die aus Anwendersicht fehlende Skalierfähigkeit der AnalyticsLösungen.
An dieser Stelle betonte Stefan Knopf, Head of Analytics Middle and Eastern Europe bei SAP: „Wir haben den Kunden über Jahre beigebracht, Daten zu sammeln und sie anschließend sinnvoll auszuwerten.“Mit der Folge einer Neiddebatte, wie Boiselle feststellte: „Jetzt hören wir oft die Frage, wem die Daten denn gehören. Damit ist aber immerhin der erste Punkt verstanden – Daten haben einen Wert!“Verstanden wird zunehmend auch die Arbeit mit Use Cases. Faghfouri berichtete von Cannabis-Farmern in Colorado, die ihre Felder mit der Kamera beobachten. „Ich dachte zuerst, es gehe nur um den Diebstahlschutz“, sagte er, „aber tatsächlich nutzen sie Analytics zur Ermittlung der effektivsten Züchtung.“
Zwischen Hands-on und Bedenkenträgerei
Amerikanische Kiffer als digitale Vorreiter? Offenbar ist da was dran. Jeder in der Runde beobachtete einen Unterschied zwischen der „Hands-on“-Mentalität der Amerikaner und der deutschen Bedenkenträgerei. Wobei niemand die Schutzwürdigkeit personenbezogener Daten in Abrede stellte. Einig waren sich die Experten aber auch darin, dass der Gesetzgeber in Deutschland an manchen Stellen
offenbar in den 1970er Jahren stehen geblieben ist. Da seien nicht nur die USA weiter, sondern beispielsweise auch die Schweiz.
„Das ist hier in Deutschland eine Frage der Unternehmenskultur“, sagte SAP-Mann Knopf. Doch die hiesigen Anwender schmähen wollte niemand. Dass gut zwei von drei Studienteilnehmern mit Analytics auf Kostensenken und Effizienz abzielen, zeige Verantwortungsbewusstsein, bescheinigten sie den hiesigen Unternehmen. So konstatierte Heiko Packwitz, Chief Marketing und Communications Officer bei Lufthansa Industry Solutions: „Die Prozesse zu optimieren, das ist ,Analytics for growth‘ über Bande gespielt.“Stöckler pflichtete bei: „Wer durch Prozessoptimierung Geld einspart, kann Skeptiker überzeugen.“
Das spiegelt sich auch in den Umfrageergebnissen wider. Höhere Kosteneffizienz (35 Prozent), Optimierung betrieblicher Prozesse (32 Prozent) und besseres Kundenverständnis (30 Prozent) sind die Ziele, mit denen die Unternehmen ihre Analytics-Aktivitäten am häufigsten begründen. Analytics soll bisher vor allem das verbessern, was man ohnehin hat – Kosten, Prozesse, Kunden. Neue Produkte und Geschäftsmodelle wollen dagegen erst 18 Prozent der Unternehmen mit Analytics entwickeln. Elf Prozent denken dabei an die Entwicklung datengetriebener Geschäftsmodelle. Analysieren – Transformieren – Digitalisieren
Dabei ist das Stichwort Prozessoptimierung im Grunde ein Thema für sich. LufthansaMann Schwabe umriss das folgendermaßen: „Viele verstehen Prozessoptimierung nach dem Motto: Wir nehmen die Prozesse und digitalisieren sie. Möglicherweise verändern sich aber die Prozesse ganz erheblich.“Trotzdem bildet die Verbesserung der Abläufe eine Bedingung dafür, Analytics überhaupt nutzen zu können. Im Versuch einer logischen Ordnung kristallisierte sich im Laufe der Diskussion die Kette Analysieren – Transformieren – Digitalisieren heraus. „Visualisierung speziell als Self-Service für Realtime-Entscheidungen nicht zu vergessen“, ergänzte SAP-Manager Knopf.
Doch die Firmen sind laut Studie unterschiedlich weit mit ihren Analytics-Bemühungen. 22 Prozent der Unternehmen haben erste Analytics-Aktivitäten oder Pilotprojekte betrieben, zwölf Prozent haben Ergebnisse implementiert, sieben Prozent verfügen über ein umfangreiches Analytics-System. Allgemein sind die Großen weiter als die Kleinen. Doch immerhin sechs Prozent der kleinen Unternehmen gehören zu den Avantgardisten, die schon über ein umfangreiches AnalyticsSystem verfügen. Das sind auch bei den Großen nur zehn Prozent.
Auch die Herangehensweise an das Thema unterscheidet sich von Fall zu Fall. 21 Prozent der Unternehmen arbeiten mit einem AnalyticsDienstleister zusammen, 35 Prozent gleich mit mehreren. Auch hier stellt sich Analytics oft als Experimentier- und Aufbauthema heraus. In der Hauptsache sollen die Dienstleister Analytics-Lösungen einführen oder dazu beraten, die internen Mitarbeiter weiterbilden und nach Personal suchen. Die meisten Unternehmen wollen Analytics nicht auslagern, sondern selbst besser darin werden.
Digitale Initiativen bleiben in der Petrischale
Im realen Unternehmensalltag sind jedoch längst nicht alle Prozesse innovativ, betonte Boiselle. So wird ein großer Konzern auch nicht unbedingt „zweitausend agile Leute“in seiner IT-Abteilung brauchen, wie Stöckler anmerkte. Er kenne Banken und Versicherungen mit digitalen Initiativen „bis zum Abwinken“– 90 Prozent davon blieben jedoch „in der Petrischale“. Tableau-Mann Milde schmunzelte. Er wisse von Firmen mit monatlichen Innovations-Castingshows: „Die bauen ihre Digital Labs möglichst weit ab vom Unternehmenssitz.“
Digital Labs hin oder her: Analytics entwickelt sich laut der IDG-Studie für gut drei Viertel der Befragten zum strategischen Thema. 76 Prozent der Studienteilnehmer glauben,
dass die Geschäftsführung ihres Unternehmens Analytics als strategisch wichtiges Thema erkannt hat, 24 Prozent bescheinigen ihr das „in starkem Maße“. In den meisten Unternehmen der D-A-CH-Region wissen die Verantwortlichen also, dass es ohne Analytics auf Dauer nicht geht. Besonders gilt das für die großen und mittleren Unternehmen und für Firmen mit einem hohen IT-Budget.
An der Tatsache, dass die strategische Bedeutung von Analytics wächst, wollte auch in der Diskussionsrunde niemand Zweifel anmelden. Als gutes Beispiel für eine gelungene Analytics-Strategie, in deren Rahmen sich auch das Geschäftsmodell massiv gewandelt hat, gilt der Landmaschinenhersteller Claas, der für seine Kunden eine digitale Mehrwertplattform entwickelt hat. Der US-Gigant John Deere mag in dieser Branche ein weltweit dominierender Platzhirsch sein, doch der Familienbetrieb aus dem Ostwestfälischen schläft nicht. Claas rüstet technologisch auf. „Gerade kleine deutsche Firmen können Hidden Champions sein“, kommentierte LufthansaManager Schwabe.
Analytics-Wunder aus den Fachabteilungen
Damit das funktioniert, gilt es Analytics gut im eigenen Betrieb zu organisieren. Jedes fünfte Unternehmen hat der Umfrage zufolge ein eigenes Competence Center eingerichtet, das für die Fachbereiche Daten analysiert; die größeren und reicheren Firmen liegen auch hier vorn. Fehlt ein solcher Servicebereich, muss sich am häufigsten (40 Prozent) die IT-Abteilung um die Analysen kümmern. Von den ITlern selbst sieht das sogar jeder zweite so. Dieser Unterschied zwischen Selbstund Fremdwahrnehmung ist typisch: C-Level, ITler und Fachbereiche beurteilen manche Leistungen stark unterschiedlich und sind auch nicht immer auf dem gleichen Kenntnisstand.
Doch wie diffundiert nun der notwendige Analytics-Spirit in die deutschen Unternehmen? In der Praxis vor allem über die Fachbereiche. „So machen es die erfolgreichen Firmen“, stellte Teradata-Manager Boiselle fest. „Dort fängt das mit kleinen Fragestellungen und Projekten an. Sobald die gut gelaufen sind, wollen die anderen Abteilungen das auch haben.“Milde stimmte zu und ergänzte: „Geben Sie die Tools in die Hände der Fachanwender, die vollbringen Wunder!“
So zogen die im Rahmen der Studie befragten Unternehmen denn auch eine positive Zwischenbilanz ihrer Analytics-Initiativen. Sehr zufrieden, zufrieden oder eher zufrieden äußerten sich insgesamt 85 Prozent der Teilnehmer damit, wie Analytics in ihrem Unternehmen bisher betrieben worden ist. Die Kosten-Nutzen-Relation bewerteten 60 Prozent sehr oder eher positiv. Der Vergleich dieser Werte zeigt, dass Analytics als strategisch gilt: Das Konzept kann auch dann positiv beurteilt werden, wenn es sich noch nicht rentiert hat. Der C-Level ist deutlich häufiger sehr zufrieden (22 Prozent) als die ITler (sechs Prozent) und die Fachbereiche (drei Prozent). Noch häufiger (51 Prozent) vergab das Führungs-Management das wirtschaftliche Spitzenurteil „sehr gelohnt“(ITler: zwölf Prozent, Fachbereiche: elf Prozent).
Genau diese konkreten Erfahrungen bestärkten die Experten im Roundtable auch in ihrer Einschätzung, dass sich Data Analytics – oder wie auch immer die Anwender die Technologie nennen wollen – durchsetzt. Zumal auch der private Endverbraucher langsam ein Bewusstsein für seine Rolle als „Prosumer“entwickelt – als Person also, die sowohl Daten konsumiert als auch produziert und diese etwa ihrer Versicherung bereitstellt, wenn dafür Kostenvorteile drin sind. Teradata-Mann Boiselle fasste das so zusammen: „Unternehmensentscheidern wie privaten Konsumenten wird klar, dass ihre Daten eine Geschichte erzählen!“