So finden Devs innovative Lösungen
Wer erfolgreiche Softwareprodukte und Dienstleistungen anbieten möchte, muss die Anforderungen der Kunden möglichst genau kennen. Aber wie geht man besten vor, um kundenfreundliche, innovative Produkte zu entwickeln?
Value Proposition Canvas ist ein wertvolles Hilfsmittel für Entwickler, die ausgehend von der individuellen Anwendersicht Lösungen erarbeiten möchten.
Die etablierten Methoden zur Anforderungserhebung im Rahmen der Softwareentwicklung sind bekannt: Man beginnt mit der klassischen Analyse der Anforderungen, indem man Anwendungsfälle beziehungsweise User-Stories aufnimmt und dann immer weiter verfeinert. Irgendwann sind dann genügend Informationen für einen Systementwurf zusammengetragen.
Das mag eine effiziente Methode sein, doch sie fördert keine Innovationen. Wie sollten die auch entstehen? Vom Endanwender können sie kaum kommen, da der in der Regel nicht beurteilen kann, was sich umsetzen lässt. Die Softwareentwickler hingegen sind meistens damit beschäftigt, die Kundenaufgaben richtig zu verstehen und sinnvoll zu strukturieren.
Business Model Canvas
Um dieser Situation zu entkommen und zielgerichtet Innovationen zu fördern, muss man die ausgetretenen Pfade der traditionellen Methoden verlassen. Das hat etwa Alexander Osterwalder getan, als er vor Jahren die Business Model Canvas entwickelte. Sie dient dazu, ein Geschäftsmodell möglichst kompakt auf einem Blatt Papier zu beschreiben. Osterwalders Value Proposition Canvas baut auf der Business Model Canvas auf. Sie stellt ein Hilfsmittel für die Entwicklung von kundenorientierten Produkten und Dienstleistungen zur Verfügung, indem sie die Kundensicht in den Mittelpunkt der Analyse rückt.
Um die Anwendung und den Nutzen der Value Proposition Canvas zu verdeutlichen, möchte ich auf das Beispiel der Rechnungsprüfung zurückgreifen. Und darum geht es: Ein fiktives Reiseunternehmen soll über eine spezielle Rechnungsprüfung verfügen. Sie ist vor Jahren von der internen IT entwickelt worden. Dieses IT-System ist inzwischen technologisch und fachlich veraltet. Es ist schwer zu bedienen und bei einem Teil des Fachbereichs ausgesprochen unbeliebt. Da aber die Rechnungsprüfung aufgrund einer Vielzahl an falschen Rechnungsstellungen eine hohe Aufmerksamkeit genießt, soll sie verbessert werden. Das Unternehmen verspricht sich davon, möglichst viele fehlerhafte Rechnungen zu entdecken und dadurch Kosten zu sparen.
Problem: Veraltete Rechnungsprüfung
Die IT bekommt vom Fachbereich die Aufgabe, Vorschläge für ein neues System zu entwickeln. Im Rahmen von Workshops geht die Diskussion mit dem Fachbereich in verschiedene Richtungen: Soll man ein neues System individuell entwickeln, das vorhandene verbessern oder einfach eine Standardsoftware kaufen und einführen? IT und Fachbereich beschließen gemeinsam, dass ein Team zunächst die verschiedenen Pro- und Kontra-Aspekte in einer Designstudie analysieren soll. Grobe Zielrichtung: Der Zeitaufwand für eine einzelne Rechnungsprüfung soll verkürzt und die Fehleranfälligkeit gesenkt werden.
Das Team, das die Studie verfassen soll, beginnt zunächst mit einer SWOT-Analyse, um die Schwachpunkte der bisher eingesetzten Lösung zu ermitteln. In einem gemeinsamen Workshop mit den Rechnungsprüfern tragen IT-Experten die Stärken, Schwächen, Chancen und Bedrohungen in der für eine SWOT-Analyse typischen Matrixform zusammen (siehe Abbildung Seite 14). Aus der Analyse wird aber nicht besonders klar, wo die Mitglieder des Fachbereichs mehrheitlich Probleme haben und wie unterschiedlich die Sachbearbeiter die Lage sehen.
Zwei Personas mit verschiedenen Profilen
Um die individuellen Sichten der Mitarbeiter besser zu verstehen, beginnt die IT sogenannte Personas zu definieren. Dabei handelt es sich um Prototypen für einen Benutzerkreis, der mit einem Computer arbeitet. Zwei extreme Beispiele aus dieser fiktiven Analyse zeigen, worum es geht: Anne Schöler ist 21 Jahre alt, studiert BWL und hilft als Teilzeitkraft in der Rechnungsprüfung des Reiseunternehmens aus. Sie ist mit Computern und Smartphones vertraut und schätzt moderne Benutzeroberflächen und intelligente Software. Zu Hause hat sie einen Mac, verwendet daher lieber Maus als Tastatur und merkt sich un-
gern Tastenkombinationen, die nicht eingängig sind.
Ihre Kollegin Gisela Meyer ist 58 Jahre alt und hauptberuflich in der Rechnungsprüfung tätig. Sie steht mit Computern eher auf dem Kriegsfuß. Meyer hat Maschineschreiben gelernt, sie beherrscht das Zehnfingersystem und kennt noch den Vorläufer der momentanen Rechnungsprüfung mit 3270-Oberfläche. Die meisten Tastenkombinationen des derzeitigen Rechnungsprüfungssystems hat sie im Kopf, aber sie ist unsicher in der Bedienung einer Maus und würde am liebsten alle Aufgaben am Rechner mit der Tastatur erledigen. Größere Mengen an Rechnungen kann sie außerordentlich schnell und weitgehend fehlerfrei in die Rechnungsprüfung übernehmen. Die Profile
der beiden Sachbearbeiterinnen sehen Sie in der Abbildung Seite 15 („Profile der Sachbearbeiterinnen“). Sie zeigt jeweils rechts die Aufgaben, die beide Sachbearbeiterinnen angegeben haben, aber auch die Probleme mit der derzeitigen Rechnungspürfung und den Nutzen ihrer Arbeit. Der Vergleich der Darstellung mit der SWOT-Analyse zeigt Ähnlichkeiten, aber auch eine viel stärkere Berücksichtigung der individuellen Aussage jeder Person. Mit etwas Verständnis für die Situation ist zu erkennen, dass die Probleme mit der Rechnungsprüfung etwas mit dem Generationswechsel unter den Sachbearbeitern zu tun haben. Die derzeit verwendete Rechnungsprüfung ist für Fachkräfte ausgelegt, die viel mit der Tastatur schreiben und daher wenig automatisiert arbeiten.
IT muss Stellung beziehen
Genauso wie jede Person nun ihr Profil im Kontext ihrer Arbeit entwickeln konnte, wurde der internen IT-Abteilung die Chance gegeben, sich im Rahmen der Studie zu überlegen, welche Gewinnerzeuger, Problemlöser und Produkte beziehungsweise Dienstleistungen sie in das Projekt der neuen Rechnungsprüfung einbringen kann. Was hat die IT anzubieten, das die Probleme der beschriebenen Sachbearbeiterinnen lösen könnte? Das Ergebnis dieser IT-Analyse zeigt die Abbildung „IT-Portfolio“(Seite 16 oben). Auch hier ergeben sich Ähnlichkeiten zur SWOT-Analyse, aber eben auch deutliche Unterschiede, weil die IT im Bereich „Problemlöser“deutlicher als in der SWOT-Analyse zu den Problemen Stellung beziehen muss.
Im nächsten Schritt können Aufgaben, Probleme und Gewinnerzeuger der Sachbearbeiterprofile und die IT-Nutzenanalyse zu einem Bild zusammengesetzt werden. Das sollte aber nur dann geschehen, wenn sich die Profile – wie in diesem Fall – nicht zu stark unterscheiden. Keinesfalls sollten unterschiedliche Kundensegmente zusammengelegt werden, die die
Rechnungsprüfung verwenden, weil sich dadurch unterschiedliche Aussagen unter Umständen vermischen können. Man stelle sich vor, dass die Rechnungsprüfung zusätzlich vom Management verwendet wird, um Berichte zu erzeugen. Dieser Kundenkreis hat ganz andere Anforderungen, die nicht mit den Anforderungen der Sachbearbeiter vermengt werden sollten.
Die Abbildung „Zusammengesetzte Analyse“(Seite 16 unten) offenbart nun das Kundenprofil mit Aufgaben, Problemen und dem Nutzen sowie auf der anderen Seite das Pendant, das die IT anbietet, um die Situation zu verbessern. Damit sich die Entwickler nicht verzetteln und leichter mit einem festgelegten Budget zurechtkommen, sollten Aufgaben, Probleme und Nutzen gewichtet sein. Das ist im rechten Teil der Darstellung Seite 16 unten zu sehen. Hier sind Aufgaben, die nach Ansicht der Analysten wenig IT-Unterstützung benötigen, geringer priorisiert.
Der nächste Schritt der Analyse besteht darin, Übereinstimmungen beziehungsweise Defizite zwischen dem Leistungsangebot der IT und dem Profil des Sachbearbeiters zu suchen (Abbildung Seite 17). Zwischen den Aufgaben der Sachbearbeiter und den Produkten beziehungsweise Dienstleistungen besteht ein Zusammenhang. Genauso besteht ein Zusammenhang zwischen den Gewinnen, die die Sachbearbeiter für das Unternehmen erzielen, und den Gewinnerzeugern, die die IT anbietet. Und nicht zuletzt gibt es eine Beziehung zwischen den Problemen, die die Sachbearbeiter bei ihrer Arbeit behindern, und den Problemlösern, die die IT anbietet.
Beim letzten Punkt fallen die bestehenden Lücken zwischen der momentanen Lösung und der Erwartung des Fachbereichs deutlich auf. So gab es bisher zum Problem „Keine elektronische Rechnungsübermittlung“keinen Problemlöser der IT. Die IT-Analysten denken noch einmal darüber nach und versuchen, dem
Fachbereich eine Lösung in Form einer Systemerweiterung anzubieten. Diese sieht so aus, dass man den Hoteliers eine innovative Software zur Verfügung stellen möchte, mit der eine elektronische Übermittlung der Rechnungen erreicht wird. Durch diese Software kann der Hotelier seine Rechnungen direkt an die Rechnungsprüfung des Reiseunternehmens per Webservice übermitteln. Diese elektronische Rechnungsübermittlung soll die manuelle Eingabe vieler Rechnungen ablösen und beseitigt die Fehlerquellen einer manuellen Rechnungserfassung und das zeitraubende, teure Verfahren.