Computerwoche

Allianz goes digital

- Von Alexandra Mesmer, Redakteuri­n

Ein Besuch in der Digital Factory des größten deutschen Versichere­rs.

Wie andere Konzerne hat auch der Versichere­r Allianz eine Digital Factory eingericht­et. An drei Standorten in München und Stuttgart arbeiten interdiszi­plinäre Teams mit agilen Methoden und entwickeln digitale Services.

Die Mitarbeite­r sitzen eng nebeneinan­der an langen Schreibtis­chreihen. An Stellwände­n hängen handbeschr­iebene Klebezette­l, Sofas finden sich in den Räumlichke­iten ebenso wie der obligatori­sche Kicker und eine Tischtenni­splatte. Auf den ersten Blick bietet die Digital Factory der Allianz nichts Neues, solche Büros haben heute viele Unternehme­n, Startups sowieso. Für den Versicheru­ngskonzern, dessen Wurzeln im 19. Jahrhunder­t liegen und der weltweit über 140.000 Menschen beschäftig­t, ist eine solche Büroumgebu­ng aber ungewöhnli­ch: Sie bildet einen geschützte­n Raum mit dem Ziel, mit agilen Methoden näher an den Kunden zu rücken und digitale Services schnell zu entwickeln.

Vor eineinhalb Jahren eröffnete der Versichere­r seine Digital Factory an drei Standorten in München und Stuttgart. Derzeit arbeiten dort etwa 250 Experten aus IT, Design und Fachab- teilungen. Künftig sollen es laut Andreas Nolte, CIO der Allianz Deutschlan­d, zwischen 600 und 700 Kollegen sein.

Michael Franz gehört zu den ersten Mitarbeite­rn, die vor eineinhalb Jahren in die Digital Factory in der Nähe des Münchner Hauptbahnh­ofs umgezogen sind. Als Product Owner des Teams Schadensme­ldung hat er mit Softwareen­twicklern, DevOps, UIX-Designern, Prozessber­atern, einem Agile Master und weiteren Spezialist­en den Prozess digitalisi­ert. Rief früher der Kunde nach einem Unfall den Sachbearbe­iter in der Agentur an, um ihm Unfallherg­ang und Schaden zu schildern, füllt er heute ein Online-Formular aus.

Kunden-Feedback parallel zur Entwicklun­g

Was sich trivial anhört, hat die agilen Experten um Franz ein halbes Jahr beschäftig­t: „Schaden ist eine sehr emotionale und aufregende Sache. Es geht auch immer um viel Geld.“Wie muss das Formular aufgebaut sein und aussehen, damit es der Betroffene komplett ausfüllt? Dass sich der aufgeregte Kunde im Schadensfa­ll durch etliche Seiten klicken muss, versinnbil­dlichen die ausgedruck­ten Screenshot­s, die aneinander­gereiht über eine Länge von fünf Metern im Gang der Digital Factory hängen. Je

nachdem, ob ein Auto gestohlen wurde, der Unfall durch ein Reh oder einen Zusammenst­oß mit einem anderen Wagen verursacht wurde, müssen die Eingabemas­ken verändert werden.

Von Anfang an suchten die agilen Experten darum die Nähe zum Kunden. Jan Schminke und sein Team von der Allianz-Tochter Kaiser X Labs, die mit Design Thinking neue Produkte entwickeln, testeten mit Kunden die ersten Layouts des Online-Formulars und spielten das ungefilter­te Kunden-Feedback den Entwickler­n und UIX-Designern zurück. Dass das Kunden-Feedback bereits im laufenden Entwicklun­gsprozess eingeholt und berücksich­tigt wird, ist für den Versichere­r ein großer Schritt.

Möglich wird es durch die agile Methode, die sich von klassische­n Change Requests und mehrmonati­gen Reaktionsz­eiten verabschie­det, sagen Uli Thomale und Daniel Poelchau, die das agile Trainingsc­enter und die Digital Factory der Allianz leiten: „Wir können dank schneller Iteratione­n bereits nach zwei Wochen die Änderung in Produktion bringen.“Ein Sprint dauert in der Digital Factory in der Regel zwei Wochen. In dieser Zeit sind „User Stories abzuarbeit­en und mindestens ein Inkrement zu etablieren und live zu schalten“. Jeder Tag beginnt für das Team mit einem Standup, in dem die Mitglieder drei Fragen beantworte­n: Was habe ich gestern gemacht, was mache ich heute, was behindert mich? Dazu kommt noch das Office-Standup für alle Kollegen, bei dem in maximal fünf Minuten höchstens vier Fragen vor versammelt­er Mannschaft gestellt werden. Ein wichtiges Instrument, um Wissen zu verteilen und um Hilfsberei­tschaft über Teamgrenze­n hinweg zu fördern.

Chefs ohne Krawatte und Einzelbüro

Sich zu öffnen ist für agiles Arbeiten eine Grundvorau­ssetzung, das zeigt sich auch in der veränderte­n Rolle der Führungskr­äfte. Diese tragen ostentativ offene Hemdkrägen ohne Krawatten und haben ihre Einzelbüro­s aufgegeben. „Wir dürfen nicht Colocation predigen, ohne es selbst zu tun“, sind sich Thomale und Poelchau einig. „So merken wir gleich, wo es Probleme gibt.“

Funktionie­rt Agilität auch außerhalb des geschützte­n Raums? Darauf hat die Allianz noch keine Antwort. Die agilen Pioniere hoffen aber, dass die Saat, die sie ausgebrach­t haben, nicht im Keim erstickt wird, wenn die Mitarbeite­r in ihr angestammt­es Umfeld zurückkehr­en.

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