Capgemini-Chef im Interview
Michael Schulte über den digitalen Umbau – wie er wirklich verläuft.
CW: Digitale Innovationen sind für Sie wie für die ganze Wirtschaft gerade besonders wichtig. In welcher Relation steht dieser Bereich zum klassischen Geschäft von Capgemini mit Anwendungsentwicklung und -pflege, SAP-Einführung oder Outsourcing?
SCHULTE: Global betrachtet ist unser Geschäft zu rund einem Drittel in der digitalen Welt angekommen – ein stark wachsender Bereich. Rund ein Viertel entfällt auf Managed Services, weitere rund 40 Prozent auf Projekte, die nicht unbedingt digital sind, zum Beispiel ERPEinführungen. Da haben übrigens alle Anbieter unterschiedliche Definitionen, aber für uns ist das nicht digital.
CW: Digital Labs helfen sicher, neue Ideen auszubrüten. Aber wie gelingt es, die entstehenden Innovationen nachhaltig in die Unternehmen hineinzutragen?
SCHULTE: Um kreative Lösungen zustande zu bringen, ist so ein Lab hilfreich. Wir führen Experten vom Kunden mit Leuten zusammen, die so etwas schon mal gemacht haben, auch mit Technologiepartnern, Startups etc. Früher hat man dann ein Proof of Concept gemacht, aber das will heute keiner mehr haben. Jetzt wird versucht, eine Lösung gleich über ein Minimum Viable Product umzusetzen. Die Definition eines solchen MVP ist allerdings immer ein Drama. Es gibt unterschiedliche Sichten darauf, was „Minimum“in dem Zusammenhang bedeutet. Hier braucht es Führung, jemand muss sagen: Das ist mein Produkt, ich setze das jetzt durch. Das funktioniert in vielen Organisationen nicht wirklich rund. Geschäftsführung und Marktorganisation haben häufig ihre eigenen Sichten auf ein MVP. Um ein MVP zu definieren und durchzusetzen, braucht man den Rückhalt des Topmanagements. Auch ein Produkt-Management ist wichtig, es geht ja auch um die Frage: Wie wird das MVP über Releases weiter ausgebaut?
CW: Unternehmen arbeiten heute oft bewusst an MVPs, die ihr eigenes Geschäftsmodell disruptiv angreifen.
SCHULTE: Ja, und das ist der Grund dafür, dass viele MVPs nicht skalieren. Das hat damit zu tun, dass das neue Produkt das alte auffressen würde. Viele Kunden sagen sich: Den heutigen Umsatz habe ich sicher, aber eine Wette auf das neue Produkt ist erstmal nur eine Wette. Da ist ja auch was dran. Aber nichts zu tun, ist auch keine Alternative.
Tatsächlich läuft es heute so, dass jemand zum Vorstand geht und sagt: Ihr müsst euch mal Blockchain anschauen, da liegen Potenziale für euch. Der Vorstand hört aber auch: Die Technologie ist komplex, das Ganze ist risikobehaftet, es gibt noch viele offene Fragen bezüglich Performance und Use Cases. Also sagen sich viele: Wir müssen nicht immer der First Mover sein. Sollen sich andere erstmal die Hörner abstoßen. Blockchain ist nur ein Beispiel.
CW: Das kann dann aber böse Überraschungen geben.
SCHULTE: Ja, ich glaube man muss die Diskussion umdrehen. Welches Risiko gehe ich ein, wenn ich hier nicht dabei bin? Oder wenn ich zu spät starte? Eine konstante Risikoanalyse findet tatsächlich meistens nicht statt. Es gibt nur eine Positivdiskussion über potenzielle zusätzliche Umsätze. Aber die Risiken müssen mit gleichem Gewicht gewertet werden.
CW: Die Digitalisierung erschöpft sich nicht mit der Einrichtung eines Digital Labs. Wo setzen Sie an, um Ihre Kunden insgesamt in der Transformation zu unterstützen?
„Auch in der digitalen Welt müssen wir von fehlerfreien Endprodukten ausgehen. Keiner will ein fehlerbehaftetes Produkt haben.“Michael Schulte, Capgemini
SCHULTE: Ich habe einen Kunden, der gerne ausführt, man müsse über drei Herausforderungen nachdenken, wenn es um digitale Fitness geht: über Kosten, über Time-to-Market und darüber, frischer und agiler im Kundenkontakt zu werden – vibrant sozusagen. Das sind auch nach meiner Meinung die drei wichtigsten Baustellen. Wenn es um Kosten geht, reden wir im Wesentlichen über Automatisierung. Das kann mit Robotern geschehen, die bestimmte Tätigkeiten übernehmen – insbesondere auf der prozessualen Ebene mit Robotic Process Automation.
Der zweite Aspekt Speed verlangt, die installierte Basis zu optimieren. Das hat viel mit digitalen Techniken und Methoden zu tun, beispielsweise beim Thema Digital Twin. Und zum Thema Agilität im Kundenkontakt: Hier investieren viele Unternehmen, um besser zu werden. Viel wird von DevOps gesprochen. Jedoch: Wenn man DevOps wirklich durchziehen will, muss man die Anwendungslandschaft umbauen. Man braucht eine Service-orientierte Architektur, eine skalierbare, gut adaptierte CloudInfrastruktur und DevOps-Prozesse.
CW: Im Zusammenhang mit digitaler Innovation wird oft eine tolerantere Fehlerkultur eingefordert. Was halten Sie davon?
SCHULTE: Das ist immer so ein Reflex: Wir müssen mehr Fehler zulassen! In der agilen Entwicklung ist ja auch das, was herauskommt, am Anfang fehlerhaft. Man probiert Dinge aus, verwirft sie wieder und lernt aus der Fehlerbehebung. Wahr ist aber, dass wir auch in der digitalen Welt von fehlerfreien Endprodukten ausgehen. Keiner will ein fehlerbehaftetes Produkt haben. Und wir würden wohl auch nicht autonom fahren wollen, wenn die entsprechende Software fehlerbehaftet sein könnte.
CW: Viele Unternehmen möchten mehr ITAufgaben ins Business verlagern und die Mit-
arbeiter in den Fachabteilungen befähigen, selbst zu entwickeln oder sich zu Data Scientists fortzubilden. Können Sie als Capgemini dazu einen Beitrag leisten?
SCHULTE: Wenn wir heute Plattformen beim Kunden aufbauen, dann wird erwartet, dass die Softwareentwicklung – aufbauend auf diesen Plattformen – einfacher wird. Wir entwerfen gerade für einen Handelskonzern eine Plattform für das Financial Reporting. Dabei gehen wir so vor, dass wir zuerst eine gewisse Anzahl an Reports erstellen und dabei die Fachabteilung darauf trainieren, weitere Reports selbst zu generieren.
CW: Sind die Fachbereiche nicht überfordert?
SCHULTE: Einfache Reports können sie meist selbst generieren, aber je mehr dort gemacht wird, desto mehr Wildwuchs resultiert daraus. Das ist kein industrialisiertes Vorgehen. Die Analysten sagen, dass künftig 40 Prozent der IT-Themen ins Business wandern. Wir verkaufen auch tatsächlich mehr Projekte ans Business, aber oft ist es schwierig zu sagen, wer überhaupt unser zentraler Ansprechpartner ist. Dass müssen wir jedes Mal neu herausfinden. Meistens ist am Ende ein Dreigestirn von IT, Business und Einkauf zuständig.
Wir beobachten zum Beispiel bei einem großen Automobilkonzern, dass er immer mehr Aufgaben aus seiner IT-Organisation herausnimmt und ans Business übergibt. Das ist ein Trend, aber in der Regel sitzt immer noch die IT mit am Tisch. In der digitalen Welt steigt die Heterogenität für die IT-Organisation wieder, deshalb braucht es eine ordnende Hand. An einer starken IT-Organisation führt kein Weg vorbei. Denken Sie etwa an Datensicherheit und Compliance. Wenn Sie Ihre IT komplett dezentralisieren, ist das nicht mehr einzufangen.
CW: Capgemini ist breit aufgestellt, Sie bedienen alle wichtigen Branchen. Welche Indus-
trien sind aus Ihrer Sicht vom digitalen Wandel am stärksten betroffen?
SCHULTE: Die Digitalisierung beschäftigt alle Industrien stark, aber ich würde sagen, Unternehmen der Versicherungswirtschaft sind besonders intensiv betroffen. Kundeninteraktion und Vertriebsmodelle ändern sich in dieser Branche komplett, und die Automatisierung wird in allen Bereichen, in denen es keinen direkten Kundenkontakt gibt, heftig sein. Die Versicherungen werden sich komplett umstellen müssen.
Ansonsten trifft die Digitalisierung vor allem Industrieunternehmen stark. Das Thema Industrie 4.0 ist ja nicht mehr ganz neu. Die Produktion verändert sich, hybride Produkte entstehen – ein Auto etwa, wo Maschine, Elektronik und IT das Produkt ausmachen. Aber die Automatisierungseffekte, wie wir sie in den Versicherungen sehen werden, wird es dort nicht so geben.