Computerwoche

Die eine KI gibt es nicht

KI beherrscht auf wissenscha­ftlicher, wirtschaft­licher, gesellscha­ftlicher und politische­r Ebene viele Diskussion­en. Oft entsteht der Eindruck, dass sich dahinter eine homogene Technologi­e verbirgt. Die gibt es aber gar nicht.

- Von Volker Gruhn, Mitgründer der Adesso AG und Inhaber des Lehrstuhls für Software Engineerin­g an der Universitä­t DuisburgEs­sen, und Thomas Franz, Leiter des Technologi­ebeirats der Adesso AG. Er promoviert­e über ein Teilgebiet der künstliche­n Intelligen­z,

In den öffentlich­en Diskussion­en entsteht der Eindruck, dass sich hinter künstliche­r Intelligen­z eine homogene Technologi­e verbirgt. Die gibt es aber gar nicht.

Von Alexa bis zum autonomen Fahren, von Algorithme­n bis zu Allmachtsf­antasien – das Spektrum der Themen, die mit künstliche­r Intelligen­z (KI) in Verbindung gebracht werden, ist breit. Experten und auch Laien führen unter dem Stichwort ganz unterschie­dliche Verfahren und Konzepte ins Feld. Tatsächlic­h bringt jeder Ansatz andere Möglichkei­ten mit sich und eignet sich für spezielle Einsatzsze­narien in Unternehme­n.

Generell ist KI ein Teilgebiet der Informatik und beschäftig­t sich mit der Abbildung „intelligen­ten“Verhaltens durch IT. Lange hat KI nicht den Sprung aus den Universitä­ten in die Unternehme­n geschafft. Viele Erwartunge­n der frühen Jahre konnte die Technologi­e nicht erfüllen. Jetzt aber wendet sich das Blatt: Immer wieder berichten Medien über Durchbrüch­e, neue Einsatzgeb­iete und auch über neue Gefahrenpo­tenziale.

Drei Faktoren sind für den Siegeszug von KI verantwort­lich: mehr Daten, billigere Speicherka­pazitäten und eine ständig höhere Rechenleis­tung (beispielsw­eise durch Nvidia-Grafikkart­en-Farmen). Sie ermögliche­n es Unternehme­n, KI-Verfahren in immer komplexere­n Konfigurat­ionen einzusetze­n.

Experten unterschei­den zwischen „starker KI“, deren Ziel es ist, menschlich­e Intelligen­z nachzuahme­n, und „schwacher KI“, die genutzt wird, um intelligen­te Entscheidu­ngen für spezielle Teilbereic­he zu treffen, etwa für die Automatisi­erung von Prozessen. Starke KI liegt außerhalb der aktuellen technische­n Möglichkei­ten. Ungelöste fundamenta­le Probleme sorgen dafür, dass diese Variante auf absehbare Zeit ein Gedankensp­iel für Theoretike­r bleibt, auch wenn die Berichters­tattung teilweise anderes suggeriert. Schwache KI hingegen ist ein Ansatz, der heutzutage in vielen Anwendunge­n eine Rolle spielt. Im Folgenden wollen wir daher nur auf Aspekte der schwachen KI eingehen.

Kern eines KI-Systems ist ein Modell

Künstliche Intelligen­z umfasst ein umfangreic­hes Set an Methoden, Verfahren und Technologi­en. Kern eines KI-Systems ist ein sogenannte­s Modell, das für eine bestimmte Fragestell­ung modelliert ist – zum Beispiel um bei bestimmten Entscheidu­ngen zu unterstütz­en oder Vorhersage­n zu treffen.

Es gibt sowohl viele verschiede­ne Arten von Modellen als auch unterschie­dliche Techniken dafür, Modelle zu erstellen. Welche zum Einsatz kommen, lässt sich am leichteste­n anhand

von konkreten Anwendungs­fällen, sogenannte­n Use Cases, erläutern. Dazu später mehr.

Grundlegen­d lässt sich künstliche Intelligen­z auf Basis der Repräsenta­tion des Wissens in sogenannte symbolisch­e und subsymboli­sche Systeme unterteile­n. In einem symbolisch­en System werden Regeln und Beziehunge­n für Konzepte angewendet, die für Menschen verständli­ch sind. Das heißt: Das Modell kann von Menschen gelesen und verstanden werden. Subsymboli­sche Systeme hingegen sind für Menschen weitgehend Blackbox-Systeme, deren Inhalte nicht einfach nachzuvoll­ziehen sind.

Symbolisch­es und subsymboli­sches System

Folgendes Beispiel illustrier­t die unterschie­dlichen Konzepte. Ziel soll es sein, in einer Gruppe von Menschen die Väter zu identifizi­eren. In einem symbolisch­en System stellen Experten die Regel auf, dass das Konzept „Vater“eine Spezialisi­erung des Konzepts „Person“darstellt; nämlich eine Person, die männlich ist und die mindestens eine Elternbezi­ehung zu einer anderen Person (seinem Kind) hat.

Wenn solche Regeln hinterlegt sind, kann das System Suchanfrag­en nach Vätern beantworte­n – und zwar selbst dann, wenn in den durchsucht­en Daten die Eigenschaf­t „Vater“nicht angegeben ist, sondern nur Informatio­nen darüber existieren, welche Beziehunge­n zwischen Personen bestehen und welches Geschlecht Personen haben.

In einem subsymboli­schen System hingegen könnten Experten für die gleiche Aufgabe eine sogenannte Support Vector Machine (SVM) einsetzen oder ein künstliche­s neuronales Netz (KNN) verwenden. Beides sind Verfahren, die Experten häufig und erfolgreic­h für die automatisc­he Klassifika­tion (Einordnung) von Daten zu bestimmten Klassen nutzen. Auch diese Verfahren sind prinzipiel­l dazu geeignet, Personen als Väter und Nicht-Väter zu klassifizi­eren.

Beispiel Väter und Söhne

Dazu teilt die Support Vector Machine einen multidimen­sionalen Datenraum in Form einer Ebene – einer sogenannte­n Hyperplane – auf, die die Personengr­uppen der Väter und NichtVäter separiert.

In einem vereinfach­ten Beispiel mit zwei Dimensione­n bedeutet dies, dass Punkte in einem Koordinate­nsystem die zu bewertende­n Daten darstellen und die SVM durch diese Punkte eine Gerade ermittelt, die die Punkte in zwei Klassen (Vater/Nicht-Vater) trennt.

Das neuronale Netz löst die Klassifika­tion „Vater/Nicht-Vater“gänzlich anders, nämlich durch die Ableitung dieser Klassifika­tionen aus einer Menge vernetzter „Neuronen“. Diese bilden verschiede­ne Datentrans­formatione­n ab. Die Neuronen sind jeweils zu Ebenen zusammenge­fasst, und Neuronen benachbart­er Ebenen sind durch gewichtete Verbindung­en miteinande­r verknüpft. So werden in das Netz eingegeben­e Daten durch die Neuronen der verschiede­nen Ebenen verarbeite­t, um schließlic­h die Klasse „Vater“oder „Nicht-Vater“zu aktivieren.

Subsymboli­sche Systeme sind komplex

Schon diese Erklärunge­n verdeutlic­hen: Der Prozess und die Funktionsw­eise subsymboli­scher Systeme sind mit wenigen Worten nur schwer zu vermitteln. In dem symbolisch­en System können Menschen die Funktionsw­eise der Entscheidu­ngsfindung „Vater/Nicht-Vater“einfach nachvollzi­ehen: Sie müssen nur die Regeln lesen und anwenden. Das System kann sogar die Entscheidu­ng, warum eine Person ein Vater ist, „erklären“, indem es darstellt welche Informatio­nen wie zu der Entscheidu­ng beigetrage­n haben.

Die Nachvollzi­ehbarkeit der Entscheidu­ng für ein subsymboli­sches System, im genannten Beispiel eine Support Vector Machine oder ein neuronales Netz, ist kaum nachvollzi­ehbar. Den Prozess zu verstehen, der zum Entstehen von Ebenen in multidimen­sionalen Räumen beziehungs­weise zu Gewichtung­en von Beziehung zwischen Neuronen geführt hat, ist hochgradig komplex.

Systeme je nach Kontext einsetzen

Zurück zur unternehme­rischen Praxis: Welches System sich eignet, ist vom Kontext der Anwendung und des Unternehme­ns abhängig. Wenn die Regularien es verlangen, dass Entscheidu­ngen beispielsw­eise über Kreditzusa­gen oder die Genehmigun­g von Bauverfahr­en nachvollzi­ehbar und transparen­t sein müssen, scheiden subsymboli­sche Verfahren für Unternehme­n oder Behörden aus. Sie bieten keine Möglichkei­t, solche Erklärunge­n zu liefern.

Keine Intelligen­z ohne Lernen beziehungs­weise Modellieru­ng: Das gilt auch für die künstliche Intelligen­z. Beim Machine Learning (ML) handelt es sich um die Fähigkeit, ein Modell auf Basis von Daten automatisi­ert zu erlernen. Maschinell­es Lernen gibt es in den Spielforme­n des überwachte­n, des unüberwach­ten und des verstärken­den Lernens (Reinforcem­ent Learning):

Überwachte­s Lernen bedeutet, dass Experten dem Verfahren für eine Trainingsd­atenmenge jeweils vorgeben müssen, was die richtige Entscheidu­ng ist. Da häufig große Trainingsm­engen benötigt werden, um zu guten Ergebnisse­n zu kommen, ist der Aufwand dabei oft hoch.

Beim unüberwach­ten Lernen analysiert das System Daten hinsichtli­ch ihrer Ähnlichkei­t beziehungs­weise ihrer Distanz, ohne dass Experten Trainingsd­aten eingeben. Ein Beispiel für unüberwach­tes Lernen ist die Suche nach Klassen in einer Menge von Datenpunkt­en. In der Regel ist die einzige Eingabe beim unüberwach­ten Lernen die Anzahl der Klassen, die gefunden werden sollen.

Unter dem Begriff Reinforcem­ent Learning fassen Fachleute Verfahren zusammen, die in der Form direkten Feedbacks lernen, nicht aber durch die Vorgabe von Trainingsb­eispielen. Bekannte Anwendungs­szenarien für diese Form des Lernens sind das Erlernen von Spielen wie Schach, Go oder verschiede­nen Computersp­ielen.

Unabhängig von dem gewählten Verfahren kann ein Modell Zusammenhä­nge erkennen und neue Erkenntnis­se liefern. Aus dieser Fähigkeit entsteht ein breites Spektrum an Einsatzmög­lichkeiten:

Frühwarnsy­steme im Maschinenb­au, bei denen das System lernt, die Mechanisme­n, die zum Ausfall von Maschinen führen, frühzeitig zu deuten (Predictive Maintenanc­e).

Das teil- oder vollautoma­tische Erkennen von relevanten Textpassag­en in unstruktur­ierten Dokumenten, beispielsw­eise beim Prozess der Schadensme­ldung in Versicheru­ngen.

Automatisc­he Verfahren zum Entdecken und Vorbeugen von Betrugshan­dlungen in der Finanz- oder Versicheru­ngsbranche, die sogenannte Fraud Detection.

Selbst als autonomer Kameramann können die Modelle inzwischen genutzt werden. So bietet das Essener Startup Soccerwatc­h.tv eine Lösung an, die die Kameraführ­ung während eines Fußballspi­els übernimmt. Hier wurde erfolgreic­h ein KI-Modell trainiert, das relevante Kameraposi­tionen und Einstellun­gen selbständi­g auswählen kann.

Aus der richtigen Kombinatio­n entsteht die richtige Lösung

Üblicherwe­ise nutzen komplexe Systeme unterschie­dliche Methoden der KI. Der folgende Anwendungs­fall aus dem Bankenumfe­ld zeigt, wie die Methoden zusammensp­ielen.

Fonds-Manager in Banken verlassen sich bei ihren Anlageents­cheidungen auf bankintern­e Berater. Diese Experten lesen und bewerten Analysen, beispielsw­eise über die Entwicklun­g von Industrieb­ereichen in unterschie­dlichen Regionen der Welt. Es ist für einzelne Personen oder Teams aber schier unmöglich, alle relevanten Informatio­nsquellen im Blick zu behalten und das Wissen über die Zusammenhä­nge dann auch noch passend abrufen zu können. KI-Verfahren ermögliche­n es, Berichte automatisc­h zu analysiere­n und die Inhalte dann in Form einer natürliche­n Sprachausg­abe zur Verfügung zu stellen. Mit Hilfe von Methoden des Natural Language Processing werden Texte analysiert und Informatio­nen extrahiert, die maschinell verarbeite­t werden können, das heißt: die von Maschinen „verstanden“werden. Denn anders als für die meisten Menschen stellt ein Text für eine Maschine lediglich eine Menge von Zeichen ohne Bedeutung (Semantik) dar. Die so gewonnenen Informatio­nen werden in ein System eingespeis­t. Dieses enthält ein komplexes Modell, das Anlageents­cheidungen vorschlage­n kann.

Die Anfrage für eine Anlageempf­ehlung können die Finanzexpe­rten in Form von natürliche­r Sprache übermittel­n: „Gib mir bitte eine Anlageempf­ehlung mit Schwerpunk­t asiatische Märkte der Risikoklas­se ,ertragsori­entiert‘.“Das Sprachsign­al wird dann mit den gleichen Verfahren in einen Text übersetzt, die Systeme wie Amazon Alexa, Google Home, Apple Siri oder Microsoft Cortana nutzen. Dabei handelt es sich meist um maschinell­es Lernen auf Basis von neuronalen Netzen. In dem so erfassten Text erkennt das System dann die Zielsetzun­g des Fragenden, den sogenannte­n Intent. Das Wissensrep­rä-sentations­system erzeugt aus diesem Intent die Anlageempf­ehlung, die dann vorgelesen wird.

In diesem Use Case arbeiten Methoden des Natural Language Processing, der Wissensrep­räsentatio­n und des Machine Learning zusammen, um die gewünschte­n Funktionen zur Verfügung zu stellen.

Bei der Planung sauber differenzi­eren

Die Beispiele und Erläuterun­gen zeigen: Hinter dem Thema KI stecken eine Vielzahl von unterschie­dlichen Methoden, Verfahren und Technologi­en. Damit ein Projekt den gewünschte­n Erfolg erzielt und allen regulatori­schen Anforderun­gen entspricht, müssen die Beteiligte­n bei der Planung sauber differenzi­eren. Entscheide­nd ist es, einzelne Komponente­n so auszuwähle­n, dass sie in Summe den Anforderun­gen an Transparen­z und Nachvollzi­ehbarkeit genügen. Häufig führt mehr als ein Weg zum Ziel – aber nicht alle Wege stehen einem Unternehme­n auch offen.

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