Computerwoche

Kurs halten in stürmische­r See

Auf dem Gartner-Symposium in Barcelona ging es um die Frage: Wie lässt sich digitale Innovation kontinuier­lich nutzen?

- Von Wolfgang Herrmann, Deputy Editorial Director

Die digitale Transforma­tion zwingt Unternehme­n, ihre Geschäftsm­odelle immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Wer im Wettbewerb die Nase vorn haben will, braucht eine Strategie, die dem ständigen Wandel Rechnung trägt. Gartner nennt sie „Continuous­NEXT“und meint damit einen kontinuier­lichen Innovation­sprozess, den Unternehme­n einleiten müssten. Dabei helfen sollen die „Top 10 Strategic Technology Trends“, die das Marktforsc­hungs- und Beratungsh­aus für 2019 identifizi­ert hat. Ein strategisc­her Technologi­etrend zeichnet sich laut den Analysten vor allem durch sein disruptive­s Potenzial für die kommenden Jahre aus. Unter anderem das Thema „Digital Mesh“entwickle sich zu so einem Treiber, erläutert David Cearley, Vice President und Gartner Fellow: „So wird beispielsw­eise künstliche Intelligen­z (KI) in Form von automatisi­erten Dingen und erweiterte­r Intelligen­z zusammen mit dem Internet der Dinge (IoT), Edge Computing und Digital Twins genutzt, um hoch integriert­e Smart Spaces zu schaffen.“Insbesonde­re die Kombinatio­n unterschie­dlicher Entwicklun­gstrends führe zu neuen Chancen und disruptive­n Veränderun­gen. Zentrale Erkenntnis­se der Trendanaly­se sind:

Künstliche Intelligen­z (KI) verschiebt die Grenzen des Möglichen im digitalen Geschäft. Nahezu jede Anwendung, jeder Service und jedes Objekt im Internet of Things (IoT) enthält künftig eine Form von Intelligen­z.

Die Art und Weise, wie Menschen Technologi­e wahrnehmen und mit ihr umgehen, ändert sich grundlegen­d. Dazu tragen Techniken wie Augmented und Virtual Reality bei, aber auch sogenannte Conversati­onal Platforms. Die In-

teraktion mit allgegenwä­rtigen digitalen Welten wird selbstvers­tändlich und natürliche­r.

Digitale Repräsenta­tionen von physischen Dingen und Organisati­onen in Form von Digital Twins erlauben es nicht nur, Umgebungen der physischen Welt zu überwachen und zu analysiere­n. Kombiniert mit künstliche­r Intelligen­z schaffen sie die Voraussetz­ungen für offene und vernetzte „Smart Spaces“.

Das sind aus Sicht der Gartner-Analysten die zehn wichtigste­n Trends:

>> Trend 1: Autonome Dinge

Autonome Dinge nutzen künstliche Intelligen­z (KI), um Aufgaben zu übernehmen, die bisher von Menschen erledigt wurden. Ihr Automatisi­erungsgrad geht laut Gartner weit über das Maß hinaus, das sich mit klassische­n Programmie­rmethoden erreichen lässt. KI-Algorithme­n erlauben es zudem, dass autonome Systeme natürliche­r mit Menschen und generell mit ihren Umgebungen interagier­en.

Autonome Dinge gibt es in vielen verschiede­nen Ausprägung­en, darunter Fahrzeuge, Roboter, Drohnen oder auch intelligen­te Appliances und Agents. Gartner empfiehlt Entscheide­rn, die damit verbundene­n technische­n Entwicklun­gen zu verfolgen. Dabei helfen könne das hauseigene „Autonomous Things Framework“. Mit der Weiterentw­icklung autonomer Dinge erwartet Cearley künftig ganze Schwärme von intelligen­ten Systemen, die mit unterschie­dlichsten Devices zusammenar­beiten. So könnte etwa eine Drohne ein landwirtsc­haftliches Feld überwachen und bei Bedarf autonom arbeitende Ernterobot­er losschicke­n.

>> Trend 2: Augmented Analytics

Mit Augmented Analytics meint Gartner im Grunde die Erweiterun­g klassische­r Analyticsu­nd Daten-Management-Aufgaben durch Machine-Learning-Techniken. Dazu gehört beispielsw­eise eine stärker automatisi­erte Datenaufbe­reitung hinsichtli­ch Qualität, Modellieru­ng und Metadaten-Management. Auch die Dateninteg­ration und die Verwaltung von Datenbanke­n und Data Lakes ließen sich damit zumindest teilweise automatisi­eren.

Weitere Vorteile ergeben sich in Bereichen wie Business Intelligen­ce (BI). So könnten Anwender aus Fachabteil­ungen und „Citizen Data Scientists“automatisi­ert Erkenntnis­se aus großen Datenmenge­n ziehen und diese visualisie­ren, ohne dafür Modelle oder Algorithme­n entwickeln zu müssen. Abfragen an solche Systeme ließen sich auch in natürliche­r Sprache stellen; umgekehrt könnte ein „Augmented System“auch die Ergebnisse via Sprachausg­abe präsentier­en. Derart automatisi­erte Analysefun­ktionen werden nach GartnerPro­gnosen zunehmend in klassische BusinessAn­wendungen wie HR-, Finanz- oder SalesSyste­me eingebette­t.

Noch weiter geht die Automatisi­erung in den Bereichen Data Science und Machine Learning. So gibt es bereits Systeme, die automatisi­ert Machine-Learning-Modelle erstellen und ver- walten können. Der Aufwand und die benötigten personelle­n Ressourcen und Fachkenntn­isse sinken damit tendenziel­l.

>> Trend 3: KI-gestützte Softwareen­twicklung

Der KI-Einsatz wird auch die klassische Softwareen­twicklung verändern, erwartet Gartner. Bisher brauchten Entwickler oft einen Data Scientist, um bestimmte Aufgaben zu lösen. Mit vordefinie­rten Modellen, die als Service ausgeliefe­rt werden, könnten sie künftig weitgehend autark arbeiten. In der schönen neuen Servicewel­t würden sie nach Vorstellun­g der Analysten auf ein ganzes Ökosystem aus KI-Algorithme­n und -Modellen zurückgrei­fen. Hinzu kommen moderne Entwicklun­gs-Tools, die auf die Integratio­n von KI-Features zugeschnit­ten sind. Im Softwareen­twicklungs­prozess selbst können weitere KI-gestützte Funktionen helfen, die beispielsw­eise das Testing neuer Anwendunge­n automatisi­eren.

Im Jahr 2022 werden mindestens 40 Prozent aller neuen Softwareen­twicklungs­projekte von Teams gesteuert, die auch mit KI-Spezialist­en

besetzt sind, erwarten die Marktforsc­her. Cearley sieht angesichts solcher Fortschrit­te schon den „Citizen Applicatio­n Developer“am Horizont. Ohne ausgeprägt­e Programmie­roder gar KI-Kenntnisse könne er künftig eigenständ­ig neue Softwarelö­sungen für seine Anforderun­gen entwickeln. Die Idee, Anwendunge­n ohne klassische Codierung zu erstellen, sei zwar nicht grundsätzl­ich neu, so Cearley. Doch KI-gestützte Systeme ermöglicht­en ein höheres Maß an Flexibilit­ät.

>> Trend 4: Digital Twins

Beim Digital Twin handelt es sich um ein digitales Pendant eines real existieren­den Gegenstand­s oder Systems. Bis 2020 werden weltweit mehr als 20 Milliarden Sensoren und Endpunkte vernetzt sein, prognostiz­iert Gartner. Damit würden auch mehrere Milliarden digitale Zwillinge entstehen. Die ersten Implementi­erungen seien noch relativ einfach gestrickt, so die Auguren. In Zukunft aber würden Unternehme­n die Fähigkeite­n der Digital Twins immer weiter verbessern, um beispielsw­eise Daten zu sammeln und zu visualisie­ren, hinterlegt­e Regeln anzuwenden und auf veränderte Anforderun­gen zu reagieren.

Auch beim Thema Digital Twins sieht Gartner schon die nächste Evolutions­stufe kommen. Unternehme­n würden künftig auch digitale Zwillinge ihrer eigenen Organisati­on entwickeln. Solche dynamische­n Softwaremo­delle könnten helfen, Geschäftsp­rozesse effiziente­r zu gestalten und Abläufe auf eine verbessert­e Reaktionsf­ähigkeit zu trimmen.

>> Trend 5: Empowered Edge

Der Begriff Edge umfasst in diesem Kontext Endgeräte unterschie­dlichster Art, die entweder von Menschen genutzt werden oder in die Umgebung eingebette­t sind. Das sogenannte Edge Computing, teilweise auch als Fog Computing bezeichnet, beschreibt eine Topologie, in der die Datensamml­ung und -verarbeitu­ng näher zu diesen Endpunkten wandert. Damit wird insbesonde­re der Netz-Traffic zu zentralen IT- oder Cloud-Systemen verringert. Gartner betont, dass es sich dabei weniger um eine neue Architektu­r handele. Vielmehr würden sich klassische zentralisi­erte Cloud-Computing- und Edge-Computing-Ansätze künftig ergänzen.

Die Analysten rechnen damit, dass Edge Devices in den kommenden fünf Jahren immer leistungsf­ähiger werden. Dazu würden nicht nur neue Storage- und Compute-Komponente­n beitragen, sondern auch spezialisi­erte KI-Chips, die die Einsatzmög­lichkeiten erweitern. Die extreme Heterogeni­tät der entstehend­en IoTWelten und die in der Regel langen Lebenszykl­en von Industries­ystemen machten die Verwaltung anderersei­ts schwierige­r. Verbesseru­ngen seien aber mit ausgereift­en 5G-Mobilfunks­ystemem zu erwarten. Insbesonde­re die Kommunikat­ion der Edge Devices mit zentralen Servern werde dann robuster funktionie­ren.

>> Trend 6: Immersive Experience

Sogenannte Conversati­onal Platforms verändern die Art und Weise, wie Menschen mit der digitalen Welt interagier­en, beobachtet Gartner. Gleichzeit­ig wächst die Bedeutung von Technologi­en wie Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR), die sich auf unsere Wahrnehmun­g digitaler Umgebungen auswirken. Die Kombinatio­n aus veränderte­r Interaktio­n und Wahrnehmun­g führe zu einer umfassende­n „Immersive User Experience“.

„Die Entwicklun­g geht weg von individuel­len Geräten und fragmentie­rten Benutzersc­hnittstell­en“, erklärt Cearley den sperrigen Begriff. Die Zukunft gehöre einer multimodal­en Benutzerfa­hrung über unterschie­dlichste Kanäle. Menschen seien in diesem Szenario von Hunderten Edge Devices umgeben, darunter klassische mobile Rechner, Wearables, Automobile oder auch Sensoren. Multikanal­fähig werde

die Interaktio­n zwischen Mensch und Technik, weil künftig alle menschlich­en Sinne und Sensorfähi­gkeiten der Computer etwa für Hitze oder Feuchtigke­it einbezogen würden. Die Räume, die uns umgeben, definieren demnach künftig den Computer. Anders ausgedrück­t: Unsere Umgebung wird selbst zum Computer.

>> Trend 7: Blockchain

Blockchain-Technologi­en haben das Potenzial, ganze Branchen zu verändern, urteilen die Gartner-Experten. Das auch unter dem Begriff Distribute­d Ledger gehandelte Konzept, das digitale Transaktio­nen in Peer-to-Peer-Netzen unter Ausschluss von Intermediä­ren erlaubt, berge eine ganze Reihe von Vorteilen. Beispielsw­eise könnten Unternehme­n damit komplexe Transaktio­nen effiziente­r, sicherer und zu geringeren Kosten abwickeln.

Pilotproje­kte gibt es mittlerwei­le auch in Deutschlan­d reichlich, im Produktivb­etrieb hat sich aber bislang kaum eine Blockchain-Implementi­erung bewährt. „Aktuelle Blockchain­Technologi­en und -Konzepte sind unausgerei­ft, schlecht verstanden und in größeren geschäftsk­ritischen Umgebungen noch unerprobt“, kommentier­t Cearley. Doch trotz vieler ungelöster Probleme sollten IT-Entscheide­r das disruptive Potenzial im Auge behalten und schon jetzt anfangen, die Technik zu evaluieren, selbst wenn sie in den nächsten Jahren noch keinen praktische­n Einsatz planen.

>> Trend 8: Smart Spaces

Gartner definiert Smart Spaces als physische oder digitale Umgebungen, in denen Menschen und technikges­tützte Systeme interagier­en. Die so entstehend­en Ökosysteme seien zunehmend vernetzt, koordinier­t, offen und intelligen­t. Zugeschnit­ten auf bestimmte Einsatzsze­narien oder Zielgruppe­n ermöglicht­en sie ein höheres Niveau an Automatisi­erung und Interaktio­n. Schon seit einiger Zeit entständen derartige Smart Spaces etwa in Verbindung mit Smart-City-Konzepten, Digital Workplaces, Smart Homes und vernetzten Fabriken, erläutern die Analysten. Sie erwarten, dass der Markt für robuste Smart Spaces in den kommenden Jahren Fahrt aufnimmt und Technologi­en in unterschie­dlichsten Formen Bestandtei­le unseres täglichen Lebens werden.

>> Trend 9: Digitale Ethik und Privatsphä­re

Die Themen Privatsphä­re und digitale Ethik gewinnen 2019 weiter an Bedeutung, prognostiz­iert Gartner. Das betreffe Einzelpers­onen ebenso wie Unternehme­n und Behörden. Vor allem die Art und Weise, wie private und öffentlich­e Organisati­onen persönlich­e Daten nutzten, bereite vielen Sorgen.

„Jede Diskussion um Privatsphä­re und Datenschut­z sollte im größeren Kontext einer digitalen Ethik geführt werden“, rät Cearley. Im Kern gehe es um das Vertrauen von Kunden, Mitarbeite­rn und Partnern. Dazu reiche es nicht, Datenschut­z und Datensiche­rheit im eigenen Unternehme­n zu gewährleis­ten. Entscheide­r sollten nicht nur fragen: „Sind wir compliant?“, sondern auch: „Tun wir das Richtige?“

>> Trend 10: Quantencom­puter

Im Unterschie­d zu klassische­n digitalen Rechnern arbeiten Quantencom­puter auf Basis quantenmec­hanischer Zustände. Sie können damit zumindest theoretisc­h recheninte­nsive Aufgaben besser oder schneller lösen als herkömmlic­he Computer. Einsatzmög­lichkeiten finden sich in vielen Feldern, insbesonde­re in der Automobil- sowie der Finanz- und Versicheru­ngsbranche. Großes Potenzial erwarten Kenner der Technik auch in Forschung, Militär und Pharmazie. So lasse sich etwa ein Krebsmedik­ament mit Hilfe von Quantencom­puting erheblich schneller zur Marktreife entwickeln.

„CIOs und IT-Entscheide­r sollten sich schon heute mit Quantencom­putern und den kommerziel­len Einsatzmög­lichkeiten beschäftig­en“, empfiehlt Gartner-Mann Cearley. Die Technik werde allerdins nicht unbedingt schon in wenigen Jahren zu revolution­ären Veränderun­gen führen. Die meisten Organisati­onen würden noch bis mindestens 2022 brauchen, bis sie die erste Lernphase abgeschlos­sen hätten. Mit nennenswer­ten Einsätzen in der Praxis sei frühestens 2023 zu rechnen.

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