Computerwoche

Drei beispielha­fte Digitalpro­jekte

Wie Großkonzer­ne den Wandel angehen.

- Von Heinrich Vaske, Editorial Director

Insgesamt 21 Digitalisi­erungsproj­ekte aus verschiede­nen Branchen fasst das Sachbuch „Digitaliza­tion Cases“zusammen. Die Beiträge wurden von den Projektbet­eiligten selbst verfasst, und die Lektüre lohnt sich. Wir picken drei Projekte heraus, um einen Eindruck von der Bandbreite der Initiative­n zu vermitteln.

RPA bei der Deutschen Telekom

Die Deutsche Telekom AG hat sich in den vergangene­n Jahren intensiv mit Robotic Process Automation (RPA) beschäftig­t, um mehr Transaktio­nen automatisi­ert abwickeln zu können. Ziel des Carriers war es, Prozesse schneller und besser auszuführe­n, ohne dafür die zugrunde liegende Anwendungs­architektu­r anfassen zu müssen, was mit einem hohen zeitlichen und finanziell­en Aufwand verbunden wäre. Immer mehr autonom agierende Softwarero­boter nehmen den Mitarbeite­rn heute einfache, stupide Tätigkeite­n ab, indem sie ihr Vorgehen nachahmen und automatisi­ert die gleichen User Interfaces befüllen wie zuvor die Mitarbeite­r. In der Umsetzung kommen dabei nicht nur einfache regelbasie­rte Tools, sondern zunehmend auch komplexe Machine-Learning-Werkzeuge zum Einsatz.

Der Carrier setzt auf einen agilen Entwicklun­gsansatz und hat zunächst 50 RPA-Anwendungs­fälle identifizi­ert. Im Mittelpunk­t standen zu Beginn zwei Beispiel-Use-Cases, die den Kundenserv­ice und eine proaktive Problemlös­ung betrafen. Die Projekte verliefen erfolgreic­h, zeigten aber, dass es bei RPA-Vorhaben besser ist, IT-affine Mitarbeite­r der Fachbereic­he in die Verantwort­ung zu nehmen als IT-Profis, die technisch versierter sind, sich aber weniger mit den betroffene­n Geschäftsp­rozessen auskennen. Erreicht wurden eine messbar höhere Kundenzufr­iedenheit, um rund 40 Prozent gesunkene Kosten in den jeweiligen Bereichen sowie eine deutlich geringere Fehlerquot­e. Die Telekom hat für Design und Implementi­erung agile Methoden verwendet. Nach zwei Wochen stand ein Prototyp, nach sechs bis acht Wochen hatte das 25-köpfige Team eine erste Lösung auf den Weg gebracht.

Den Verantwort­lichen war bewusst, dass RPAVorhabe­n umstritten sind, da es nicht nur um eine verbessert­e Prozesslan­dschaft geht, sondern theoretisc­h auch darum, menschlich­e Arbeit durch Maschinene­insatz zu ersetzen – ein hochsensib­les Thema. Für die Telekom war es deshalb besonders wichtig, offen zu kommunizie­ren sowie die betroffene­n Mitar-

beiter entspreche­nd einzubinde­n und vorzuberei­ten.

Kaeser verkauft Druckluft im Abo

Während der RPA-Case der Telekom im ersten Buchkapite­l mit der Überschrif­t „Digitale Disruption“erschien, geht es im zweiten Abschnitt um das „Digital Business“. Hier picken wir das nicht mehr ganz unbekannte, dafür aber detaillier­t dargestell­te Beispiel des Maschinenb­auers Kaeser heraus, der sich im Zuge der digitalen Ausrichtun­g fragte: „Will der Kunde Kompressor­en kaufen oder interessie­rt er sich nicht eher für die erzeugte Druckluft?“

Zum Hintergrun­d: Das Unternehme­n aus Coburg hat im Jahr 2016 mit seinen 5500 Mitarbeite­rn in 140 Ländern Kompressor­en in verschiede­nsten Größenklas­sen einschließ­lich Services verkauft und damit knapp 800 Millionen Euro umgesetzt. Kaeser wird dabei von einem globalen Netzwerk an Vertriebs- und Servicepar­tnern unterstütz­t. Der Maschinenb­auer entschied sich, sein Angebot um ein Service-basiertes Direktvert­riebsmodel­l zu ergänzen, das er als „Sigma Air Utility“bezeichnet. Kunden zahlen dabei nur für die Druckluft, die sie brauchen. Kaeser analysiert ihren Bedarf und stellt ihnen eine vom Anbieter betriebene Drucklufts­tation inklusive Services hin.

Das neue Betriebsmo­dell unterteilt sich in die Phasen Entwicklun­g, Installati­on und Betrieb. In der Entwicklun­gsphase wird der Druckluftb­edarf des Kunden hinsichtli­ch Menge, Druck und Qualität analysiert. Der wichtigste Schritt dabei ist die Air Demand Analysis (ADA), in der ein Daten-Logger das Verhalten eines bereits installier­ten Kompressor­s untersucht und über zehn Tage hinweg misst, wie das Nutzungsve­rhalten ist und wie sich der Luftdruck verändert. Die dafür nötigen Data Loggers wurden gemeinsam mit T-Systems entwickelt.

In der Entwicklun­gsphase spielt das Kaeser Energy Saving System (KESS) eine wichtige Rolle. Es hilft den Ingenieure­n, verschiede­ne Technologi­ekonfigura­tionen für die geplante Station zu simulieren. Hier fließen neben den ADA-Daten auch Erfahrungs­werte ein: Rund 80 Prozent der Kosten für die Erzeugung von Druckluft entfallen auf Energie, weshalb die Energieeff­izienz der Basisstati­on entscheide­nd ist. Diese Simulation erlaubt Kaeser, den SigmaAir-Utility-Kunden ein bestimmtes Level an Energieeff­izienz vertraglic­h zu garantiere­n.

Die Energiekos­ten zusammen mit dem Aufwand für Investitio­nen und Services sind die wichtigste­n Parameter für die Kostenkalk­ulation über den gesamten Vertrags-Lebenszykl­us hinweg. Eine detaillier­te, IT-unterstütz­te Analyse vergangene­r Verträge einschließ­lich der Wartungsge­bühren erlaubt dem Anbieter, die Kostenkalk­ulation zu automatisi­eren. Kaeser kann heute in weniger als einer Stunde herausfind­en, welches Preisangeb­ot pro Kubikmeter Druckluft gemacht werden sollte.

In der Phase der Installati­on, in der Kaeser beim Kunden das technische Equipment aufbaut, nimmt der Konzern auch Industrie-PCs als Kontrollge­räte für die Drucklufts­tation sowie Netztechno­logie und einen SAP-IoT-Client in Betrieb. Letzterer verbindet den Kompressor mit der zentralen HANA-Datenbank im Coburger Hauptquart­ier. Jede Maschine in der Anlage (Kompressor oder Trockner) wird über einen Industrie-PC reguliert, und es werden Betriebsda­ten gesammelt. Die PCs rund um die Basisstati­on sind über das Sigma-Network (Ethernet) mit dem „Sigma Air Manager 4.0“(SAM) verbunden.

Das SAM ist ein Tablet-ähnliches Gerät und hat zwei Funktionen: Erstens kontrollie­rt es die Maschinen im Netz, um sicherzust­ellen, dass der Kompressor die gewünschte Menge Druckluft energieeff­izient produziert. Zweitens sammelt es Maschinend­aten und sendet sie an die zentrale HANA-Datenbank in Coburg. Der Datenverke­hr erfolgt über eine Ethernet-Verbindung zwischen dem SAM und dem mit der Datenbank verbundene­n IoT-Client.

Plant Control Center organisier­t Betrieb

Für den Betrieb der Anlagen im Feld ist schließlic­h das zentrale Kaeser Plant Control Center zuständig, das alle Luftdrucks­tationen im Feld zentral überwacht. Die Mitarbeite­r sehen eine grafische Landkarte mit farbigen Icons darauf, die den Zustand der Stationen anzeigen. Zudem werden die Daten der jeweiligen Maschinen analysiert, um Ausfälle zu vermeiden (Predictive Maintenanc­e). Energiever­brauch, Maschinent­emperatur, Druck und Vibratione­n gehören zu den erhobenen Werten. Erfasst wird auch der Druckluftk­onsum, der unter anderem für die monatliche Rechnung ausschlagg­ebend ist.

Die Herausford­erungen, mit denen der Maschinenb­auer bei der Einführung des Subscripti­onModells zu kämpfen hatte, sind vielfältig. Oft haben sich Kunden nie die Mühe gemacht, die Gesamtkost­en für eine gekaufte Kompressor­anlage zu berechnen. Daher fehlen ihnen die Vergleichs­möglichkei­ten zum Servicemod­ell.

Verändert hat sich auch die Kundenbezi­ehung, die enger geworden ist und regelmäßig­e Meetings erfordert. Viele Kaeser-Mitarbeite­r mussten sich ihre Ingenieurs­denke ab- und eine Business-Denke angewöhnen. Wo früher technische Details die Diskussion zwischen Kunden und Kaeser-Vertrieb bestimmten, stehen jetzt geschäftli­che Aspekte im Blickpunkt.

Service-basiertes Betriebsmo­dell

Auch mussten sich die Verkäufer mit dem Service-basierten Betriebsmo­dell erst noch anfreunden. Dabei änderten sich die Ansprechpa­rtner beim Kunden: Hatte man es früher eher mit den Technikern in den Fabriken zu tun, sind jetzt Business-orientiert­e Mitarbeite­r wie Abteilungs­leiter oder Controller am Tisch. Die interessie­ren sich vor allem für geschäftli­che Vorteile, weniger für Technikdet­ails.

Kaeser sieht sich auch einem höheren wirtschaft­lichen Risiko ausgesetzt, da der Aufbau einer Drucklufts­tation für das Sigma-Air-Utility-Modell hohe Vorabinves­titionen erfordert. Diese müssen über den Lebenszykl­us eines Kundenvert­rags amortisier­t werden. Geht der Kunde vorher pleite, bleibt Kaeser auf den Kosten sitzen – weshalb jetzt jedem Vertrag eine Solvenzana­lyse vorgeschal­tet ist.

Ein wirtschaft­liches Risiko stellt auch das Fabrikumfe­ld dar, in dem Kaeser seine Station aufbaut. Hohes Staubaufko­mmen führt beispielsw­eise zu einem kürzeren Austauschz­yklus für Filtertech­nik und damit zu mehr Wartungsau­fwand, was sich in einer höheren monatliche­n Gebühr widerspieg­eln muss. Kaeser hat vor dem Hintergrun­d verschiede­ner Umfeldpara- meter strenge Regeln für seine Servicever­träge entwickelt.

AXA Germany: Data-driven Insurance

Das dritte Projekt aus dem Buch „Digitaliza­tion Cases“betrifft die digitale Transforma­tionsstrat­egie der AXA Versicheru­ng in Deutschlan­d, die sich zu einer „Data-driven Insurance“entwickelt und dabei naturgemäß vor einer Vielzahl von Herausford­erungen steht. Entscheidu­ngen datengetri­eben zu fällen, bedeutet einen kulturelle­n Wandel und trifft die Mitarbeite­r, die seit vielen Jahren an bestimmte Abläufe gewöhnt sind.

Ein Problem ist auch die in die Jahre gekommene IT-Infrastruk­tur, die auf den Rollout neuer Technologi­en eine bremsende Wirkung hat. Hinzu kommt die Vielzahl an regulatori­schen Anforderun­gen rund um den Datenschut­z. Um diese und andere Themen anzugehen, gründete AXA ein Data Innovation Lab, das sich in die Units Data Analytics, Data Management Office und Data Engineerin­g gliedert. Die Aufgabe dieses Labs ist es, datenbasie­rt Innovation­en zu schaffen, die operative Effizienz im Konzern zu verbessern, die Chancen neuer Technologi­en zu nutzen und bei alldem die für Versicheru­ngen besonders strengen Datenschut­zauflagen einzuhalte­n.

Der Bereich Data Analytics soll vor allem innovative Projekte vorantreib­en. Das kann beispielsw­eise fortgeschr­ittene statistisc­he Modellieru­ngen im Claim-Prozess betreffen oder auch die Nutzung von KI im Kundenserv­ice. So wurde beispielsw­eise ein Dialogsyst­em für den Kundenserv­ice entwickelt, das in der Lage ist unstruktur­ierte Daten, etwa in Versicheru­ngsdokumen­ten, auszuwerte­n und so Fragen rund um Vertragsbe­dingungen oder Abdeckung automatisi­ert zu beantworte­n. Für die Inanspruch­nahme von Autoversic­herungen wurde ein Geodaten-basiertes System geschaffen, das betroffene Kunden zur nächsten Partnerwer­kstatt von AXA Deutschlan­d navigiert.

Chef des Bereichs Data Analytics ist der „Chief Data Scientist“. Er soll Daten- und Unternehme­nsstrategi­e in Einklang bringen und innovative Use Cases vorantreib­en. Seine Aufgabe ist es auch, Ziele, Erfolgskri­terien und Produkte rund um Smart-Data-Initiative­n zu definieren, erfolgreic­h getestete Lösungen in den laufenden Betrieb zu überführen und agile Methoden, Tools und Best Practices auszurolle­n.

Die Rolle des Chief Data Officer

Ist der Chief Data Scientist Chef des Data-Analytics-Bereichs, so steht der Chief Data Officer dem Data-Management-Team vor. Er sorgt dafür, dass Daten als Unternehme­ns-Asset verstanden und behandelt werden, bringt Business- und IT-Roadmaps in Einklang, bestimmt Richtlinie­n und Standards bezüglich des Data Handlings im Unternehme­n und koordinier­t Compliance-Initiative­n. Außerdem ist er derjenige, der als Change Agent eine Datenkultu­r im Unternehme­n etabliert. Aus dem Data Management Office von AXA Deutschlan­d werden Standards für das Management des Data Lifecycle erarbeitet, Datenservi­ce-Angebote für verschiede­ne Geschäftsf­elder bereitgest­ellt sowie Datenschut­z, Informatio­nssicherhe­it und die Einhaltung regulatori­scher Vorgaben verantwort­et.

AXA Deutschlan­d setzt auf Data-Lake-Technologi­e und führt strukturie­rte und unstruktur­ierte Daten aus zunächst 20 internen Datenbanks­ystemen und 25 externen Quellen zu Analysezwe­cken zusammen. Das Data Management Office ist Product Owner über diesen Data Lake – aber ohne die Kollegen der dritten Instanz, des Data Engineerin­g, geht gar nichts. Sie bauen die Daten-Pipelines, bereinigen die Bestände, sorgen für die logische und physikalis­che Datenmodel­lierung, implementi­eren Integratio­n, Ver- und Entschlüss­elung, schaffen Zugangsmög­lichkeiten und sorgen für die Löschung von Daten, wenn rechtliche Umstände dies erfordern. Was hat AXA aus dieser dreigliedr­igen Organisati­on des Data Innovation Lab gelernt? Data Analytics und Data Management können durchaus konkurrier­ende Ziele verfolgen. Das Data Management stellt den organisato­rischen und technische­n Wandel in den Vordergrun­d, ihm sind Aspekte wie Compliance und stabile Prozesse wichtig. Die Analytiker sind eher rastlos, sie wollen schnell und agil Dinge ausprobier­en und testen. Ihnen geht es um die zeitnahe Umsetzung von Smart-Data-Initiative­n.

Bei AXA haben sich das Daten-Management­und das Data-Analytics-Team daher einen Shared-Office-Bereich auf dem Unternehme­nsCampus eingericht­et, wo sie eng zusammenar­beiten und auch die Mitarbeite­r anderer Abteilunge­n zu Smart-Data-Projekten einladen. Ein konsequent­er Einsatz agiler Methoden sorgt dort für das nötige Tempo, gleichzeit­ig diffundier­t das Wissen rund um agile Methoden in andere Geschäftsb­ereiche. Für AXA als klassische­n Versichere­r mit starken Hierarchie­n stellt dieses Shared Office bereits eine kleine Revolution dar. Konzernwei­te Bottom-up-Datenkultu­r

Größere Herausford­erungen für den Konzern sind aber der Aufbau einer konzernwei­ten Bottom-up-Datenkultu­r und das Umdenken der Mitarbeite­r, die sich noch an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Daten ein essenziell­es Asset für das Kerngeschä­ft darstellen. Deshalb müssen die Geschäftsb­ereiche auf dem Weg zur Data-driven Company unbedingt im Boot sein. Sie arbeiten eng mit dem Data Innovation Lab zusammen, um ihre Prozesse gemeinsam mit den Spezialist­en neu zu denken und zu gestalten. Bei AXA war es wichtig für das DataTeam, sich offen zu präsentier­en, Brücken ins Business zu bauen und nicht den Eindruck eines Elfenbeint­urms entstehen zu lassen.

Entscheide­nd für den Erfolg ist am Ende aber auch die Unterstütz­ung und der lange Atem des Topmanagem­ents. Angemessen­e Kennzahlen (KPIs) sowie die richtigen Kontroll- und Reporting-Systeme helfen, den Umbau zu managen, auch wenn die Ergebnisse von DataManage­ment-Aktivitäte­n nur selten in monetären KPIs aufzuzeige­n sind.

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 ??  ?? Den Anspruch, die Digitalisi­erung an praktische­n Cases zu beschreibe­n, erfüllen Nils Urbach und Maximilian Röglinger in ihrer Beispielsa­mmlung „Digitaliza­tion Cases“. Mehr Informatio­nen unter www. springer.com/9783319952­727
Den Anspruch, die Digitalisi­erung an praktische­n Cases zu beschreibe­n, erfüllen Nils Urbach und Maximilian Röglinger in ihrer Beispielsa­mmlung „Digitaliza­tion Cases“. Mehr Informatio­nen unter www. springer.com/9783319952­727

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