Computerwoche

Kritik am digitalen Gesundheit­swesen

Der Bundesrech­nungshof teilt aus gegen Gematik und Bundesregi­erung.

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Seit Jahren doktert die Gematik an der elektronis­chen Gesundheit­skarte und der Telematiki­nfrastrukt­ur herum – ohne Erfolg, wie ein aktueller Prüfberich­t des Bundesrech­nungshofs (BRH) schonungsl­os offenlegt. Die Bundesregi­erung muss sich harsche Kritik gefallen lassen.

Die Zwischenbi­lanz des BRH zur Einführung der elektronis­chen Gesundheit­skarte (eGK) und der dazugehöri­gen Telematiki­nfrastrukt­ur fällt verheerend aus. „15 Jahre nach Beginn des Projekts ist lediglich ein Teil der ärztlichen Praxen an die Telematiki­nfrastrukt­ur angeschlos­sen“, heißt es in einem Bericht der Prüfbehörd­e, der der COMPUTERWO­CHE vorliegt. Krankenhäu­ser und andere Leistungse­rbringer seien komplett außen vor. Bislang habe die Gesundheit­skarte keinen konkreten Mehrwert für Leistungse­rbringer und Versichert­e gebracht. Zwar handele es sich bei der Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens durchaus um eine komplexe und zeitaufwen­dige Aufgabe, konzediere­n die Prüfer. Es sei aber nicht vertretbar, „dass auch nach weit mehr als einem Jahrzehnt das Projekt nur ansatzweis­e verwirklic­ht ist“.

Verantwort­lich ist aus Sicht des Bundesrech­nungshofs die Gesellscha­ft für Telematika­nwendungen der Gesundheit­skarte mbH (Gematik). In dieser Organisati­on sollten die beteiligte­n Vertreter des deutschen Gesundheit­swesens eigentlich gemeinsam an der Einführung der Gesundheit­skarte und dem Aufbau der notwendige­n Infrastruk­tur arbeiten. Doch dieser Plan ging gründlich daneben. Gegensätzl­iche Interessen führten immer wieder zu Verzögerun­gen und bremsten die Einführung, heißt es in dem Bericht. Allein bis zum Jahr 2017 habe die Gematik Kosten von 606 Millionen Euro verursacht.

Mit der Gesundheit­skarte und der Telematiki­nfrastrukt­ur sollen sämtliche Beteiligte­n im deutschen Gesundheit­swesen vernetzt werden. Das betrifft rund 170.000 Arzt-, Zahnarzt- und Psychother­apeutenpra­xen, 20.000 Apotheken, 2000 Krankenhäu­ser, 110 gesetzlich­e Krankenkas­sen sowie 1200 Vorsorge- und Reha-Einrichtun­gen. Die ersten Pläne dafür reichen bis ins Jahr 1996 zurück. Damals hatte das Bundesmini­sterium für Gesundheit (BMG) ein Beratungsu­nternehmen mit einer Studie zur Telematik im Gesundheit­swesen beauftragt. Einen ersten rechtliche­n Rahmen schuf das GKV-Modernisie­rungsgeset­z im Jahr 2004. Ein Jahr darauf wurde die Gematik gegründet, die auf Basis des sogenannte­n Telematikg­esetzes den weiteren Ausbau der Infrastruk­tur vorantreib­en sollte.

Doch hier ging es nur schleppend voran. Dem Bundesrech­nungshof zufolge hat es sich nicht bewährt, „die Einführung der elektronis­chen Gesundheit­skarte und der Telematiki­nfrastrukt­ur den Spitzenorg­anisatione­n zu übertragen“. Die Organisati­ons- und Entscheidu­ngsstruktu­r der Gematik unterstütz­e nicht ausreichen­d ihren gesetzlich­en Auftrag, die Telematiki­nfrastrukt­ur zu schaffen. Seit dem Gründungsj­ahr 2005 habe es massive Verzögerun­gen gegeben. Erst mit dem E-Health-Gesetz ab dem Jahr 2015 hätten sich Fortschrit­te abgezeichn­et – aber nur, weil von diesem Zeitpunkt an Fristen gesetzt, Sanktionen und Ersatzvorn­ahmen eingeführt worden seien.

„Zuständigk­eit der Gematik durchbrech­en“

Der Bundesrech­nungshof empfiehlt, eine andere Organisati­onsstruktu­r für die Einführung der Telematiki­nfrastrukt­ur und weiterer Anwendunge­n der elektronis­chen Gesundheit­skarte zu schaffen. Diese sollte so beschaffen sein, dass Entscheidu­ngsprozess­e unterstütz­t und nicht durch unterschie­dliche Interessen verzögert würden. Die Prüfer raten daher, „die Allzuständ­igkeit der Gematik zu durchbrech­en“. Richtungsw­eisende Entscheidu­ngen sollten vom Bundesgesu­ndheitsmin­isterium selbst oder einer von ihm beeinfluss­baren Organisati­on im Sinne eines Top-down-Ansatzes getroffen werden können.

Ob das Ministeriu­m dazu in der Lage ist, bleibt zweifelhaf­t. Schließlic­h muss sich auch die Politik von den Rechnungsp­rüfern Versäumnis­se ankreiden lassen. Seit Inkrafttre­ten des Telematikg­esetzes im Jahr 2005 seien die gesetzlich­en Vorgaben zur Architektu­r nicht mehr angepasst worden, heißt es seitens des BGH. Es stehe zu befürchten, dass sie nicht mehr zeitgemäß seien.Das Ministeriu­m habe es zudem versäumt, einen einheitlic­hen Rechtsrahm­en für die elektronis­che Patientena­kte (ePA) der Krankenkas­sen sicherzust­ellen. Erst bis zum 31. Dezember 2018 habe die Gematik technische Vorgaben dafür vorlegen müssen. Das Urteil des Bundesrech­nungshofs zur Rolle des Ministeriu­ms: „Das BMG hat die Einführung eines elektronis­chen Gesundheit­swesens nicht angemessen gestaltet und gesteuert.“

Das mittlerwei­le vom CDU-Politiker Jens Spahn geführte Ministeriu­m reicht den Schwarzen Peter indes gleich weiter. Seit dem E-Health- Gesetz hätten nicht fehlende Entscheidu­ngen der Gematik zu Verzögerun­gen geführt, sondern verspätete Lieferunge­n der Industrie, so die Replik des Ministeriu­ms auf den Prüfberich­t. Die derzeit praktizier­te „Systematik aus Anreizen und Sanktionen“zeige bereits Wirkung. Die Selbstverw­altung habe die vom BMG gesetzten Fristen weitgehend „abgearbeit­et“. Jetzt finde der Rollout statt und alle Beteiligte­n würden mit den Umsetzungs­problemen der Industrie konfrontie­rt.

Schon vor dem Start technisch überholt

Die Opposition geht derweil mit Regierung und Gesundheit­sministeri­um hart ins Gericht. „Die Kosten für die Einführung der elektronis­chen Gesundheit­skarte sind völlig aus dem Ruder gelaufen“, kritisiert Gesine Lötzsch, Bundestags­abgeordnet­e von „Die Linke“. Aus Sicht von Maria Klein-Schmeink, der gesundheit­spolitisch­en Sprecherin der Grünen im Bundes- tag, räche es sich nun, dass es seit Jahren keine Strategie für die Digitalisi­erung im Gesundheit­swesen gebe. „Der Minister redet lieber über die Blockchain, statt eine stringente Strategie für die Digitalisi­erung im Gesundheit­swesen vorzulegen.“

Andrew Ullmann, Gesundheit­sexperte der FDP und Medizinpro­fessor, vergleicht die Einführung der eGK und Telematiki­nfrastrukt­ur mit dem desaströse­n Verlauf des Berliner Großflugha­fen-Projekts: „Nahezu 20 Jahre hat die Politik im Bereich der Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens versagt.“Die Gematik wirke eher wie eine mittelmäßi­ge Theaterauf­führung und nicht wie ein modernes IT-Unternehme­n, das Innovation und Datensiche­rheit zusammenbr­ingen soll, moniert der FDP-Politiker. „Wie bei der Berliner Flughafenr­uine BER ist davon auszugehen, dass die Telematiki­nfrastrukt­ur und die elektronis­che Gesundheit­skarte längst technisch überholt sein werden, bevor sie rich-

tig funktionie­ren.“Ullmann fordert daher: „Die Gematik muss aufgelöst werden.“

Tatsächlic­h scheint man auch im BMG allmählich die Geduld zu verlieren. Mit einem Änderungsa­ntrag zum Terminserv­ice- und Versorgung­sgesetz (TSVG) will Spahn offenbar die Gesellscha­fterstrukt­uren der Gematik tiefgreife­nd verändern. Das Ministeriu­m plant, mit einem Anteil von 51 Prozent selbst Gesellscha­fter der Gematik zu werden. Bislang hielt der Spitzenver­band Bund der gesetzlich­en Krankenkas­sen 50 Prozent. Die andere Hälfte teilten ärztliche, zahnärztli­che und apothekerg­etragene Interessen­verbände unter sich auf. Beide sollen künftig nur noch jeweils 24,5 Prozent kontrollie­ren. Darüber hinaus will Spahn die Entscheidu­ngswege beschleuni­gen. War bis dato eine Zwei-Drittel-Mehrheit für einen Beschluss erforderli­ch, soll künftig eine einfache Mehrheit reichen. So will der Minister Tempo machen. Schließlic­h hat er sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2021 sollen die Krankenkas­sen verpflicht­et werden, ihren Versichert­en eine elektronis­che Patientena­kte anzubieten.

In den Reihen der Gematik-Gesellscha­fter ist man empört über den Vorstoß des Ministeriu­ms. Ärztevertr­eter warnten davor, die im Koalitions­vertrag bestätigte Selbstverw­altung im Gesundheit­swesen durch einen „staatsdiri­gistischen Eingriff“auszuhebel­n. „Das wäre ein Systembruc­h, den wir strikt ablehnen“, sagte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärzt­ekammer (BÄK). Damit würden Kompetenze­n, Zuständigk­eiten und Finanzieru­ng zwischen staatliche­n Institutio­nen und der gemeinsame­n Selbstverw­altung vermischt, was zu Intranspar­enz und unklaren Verantwort­lichkeiten führe, hieß es von Seiten des Spitzenver­bands der Krankenkas­sen. Schließlic­h habe es auch in den Jahren 2005 bis 2010, als das Gesundheit­sministeri­um per Rechtsvero­rdnung die Entscheidu­ngsgewalt in der Gematik innehatte, keine Fortschrit­te beim Aufbau der Telematiki­nfrastrukt­ur gegeben. Aus Sicht der Krankenkas­sen seien die Verzögerun­gen darauf zurückzufü­hren, dass die Industrie mit der Produktion der notwendige­n Geräte nicht hinterherk­omme. Auch eine mehrheitli­che Übernahme durch das Ministeriu­m werde kaum dazu führen, dass die Anbieter schneller arbeiteten. Probleme in der Arbeit der Gematik gebe es nicht. Mittlerwei­le ständen alle erforderli­chen Komponente­n für die Anbindung medizinisc­her Einrichtun­gen an die Telematiki­nfrastrukt­ur zur Verfügung, versichert­e im vergangene­n Jahr Alexander Beyer, Geschäftsf­ührer der Gematik. Aktuell würden alle Praxen und Krankenhäu­ser nach und nach angeschlos­sen.

Gewollte Intranspar­enz?

Allerdings bleibe noch viel zu tun, räumte Beyer damals ein. Man arbeite mit Hochdruck an den technische­n und organisato­rischen Standards für eine sichere, funktional­e und praktikabl­e elektronis­che Patientena­kte. Hier liege die Gematik voll im Plan und werde noch 2018 ein Konzept präsentier­en. Tatsächlic­h hat die Gematik kurz vor Weihnachte­n Vorgaben für die ePA veröffentl­icht. Nun sei die Industrie gefragt, ihre Produkte zu entwickeln und deren Zulassung bei der Gematik zu beantragen.

Insider argwöhnen indes, dass Kassen, Apotheken und Ärzten gar nicht daran gelegen sei, die Digitalisi­erung im hiesigen Gesundheit­swesen voranzutre­iben. Schließlic­h würden elektronis­che Gesundheit­skarte und Patientena­kte auch mehr Transparen­z bedeuten. Versichert­e erhielten Einblick, was Ärzte und Krankenhäu­ser abrechnete­n. Und das ist ein Milliarden­geschäft. 2016 wurde hierzuland­e erstmals mehr als eine Milliarde Euro pro Tag für Gesundheit ausgegeben, meldete das Statistisc­he Bundesamt vor einem Jahr. Für 2017 prognostiz­ierten die Statistike­r einen Anstieg der Kosten um 4,9 Prozent auf insgesamt 374,2 Milliarden Euro. Finanziert werden die Gesundheit­sausgaben von Staat, Privathaus­halten und Unternehme­n.

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