Computerwoche

KI und Edge Computing – Siemens erweitert Digital-Enterprise-Angebot

Machine Learning, künstliche Intelligen­z, Edge Computing, IoT – ohne IT geht bei der Automatisi­erung der Fabrik der Zukunft nichts mehr. Dies zeigt auch die Siemens-Strategie für das Digital Enterprise der Zukunft.

- Von Jürgen Hill, Teamleiter Technologi­e,

Bitte machen Sie mehr Platz, bitte machen Sie mehr Platz.“Nein, wer hier höflich, aber bestimmt Platz zum Durchkomme­n fordert, ist kein Kollege auf dem Weg zur Bar. Es handelt sich vielmehr um ein fahrerlose­s Transports­ystem (FTS), das endlich seinen Arbeitsauf­trag autonom erfüllen will, dem aber die Besucher im Weg stehen, die sich im Siemens-Gerätewerk Erlangen (GWE) die digitale Transforma­tion der Fertigungs- und Prozessind­ustrie in der Praxis anschauen wollen.

Mit Virtual Reality in die Produktion

Eine Praxis, auf die man bei Siemens besonders stolz ist, denn anders als bei manchem US-amerikanis­chen Wettbewerb­er existieren die eigenen Lösungen für das Digital Enterprise nicht nur als Powerpoint-Folien, sondern befinden sich im realen produktive­n Einsatz, so die Münchner. In Erlangen produziert Siemens Geräte der Simatic-Reihe und setzt zur Effizienzs­teigerung vom Produktdes­ign bis zur Produktfer­tigung auf die Digitalisi­erung. So werden etwa per Virtual Reality neue Geräte in der Simulation auf Hitzeneste­r elektronis­cher Leistungsb­auteile untersucht oder die automatisc­he Produktion­sfähigkeit per VR geprüft: Kann ein Roboter mit seinen Werkzeugen wirklich das entspreche­nde Bauteil montieren oder muss es anders angeordnet werden?

Industries­oftware durch Akquisitio­nen

Dabei erstreckt sich die Digitalisi­erung über die gesamte Wertschöpf­ungskette und umfasst Prozess- und Anlagendes­ign ebenso wie die eigentlich­e Produktion und Wartung der Fertigungs­anlagen. Selbstrede­nd nutzt der Konzern hierzu seine eigene Software und Techniken wie den Digital Twin oder Machine Learning. Schließlic­h hat der Konzern in den letzten Jahren laut Jan Mrosik, CEO der Division Digital Factory, auch kräftig durch Beteiligun­gen und Akquisitio­nen (wie etwa Mendix im Jahr 2018, Mentor Graphics 2017, Bentley 2016 etc.) in Software investiert. Offiziell wurden dafür seit 2007 mehr als zehn Milliarden Euro ausgegeben. Mittlerwei­le bezeichnet sich der Konzern als die weltweite Nummer eins in Sachen industriel­ler Software.

Messemotto Thinking Industry further

Der Einsatz von digitalen Zukunftste­chnologien in der Fabrik- und Prozessaut­omatisieru­ng bildet dieses Jahr den Themenschw­erpunkt des Messeauftr­itts von Siemens auf der Hannover Messe Industrie (HMI). Lautete das Messemotto des Konzerns 2018 noch „Digital Enterprise – Implement now“heißt es nun „Digital Enterprise – Thinking Industry further“. Mit diesem Slogan unterstrei­cht Siemens die Konzernübe­rzeugung, dass die Digitalisi­erung der Schlüssel zur Weiterentw­icklung der Produktivi­tät sei und es nicht mit einem einfachen IoT-Projekt etc. getan ist, sondern eine Änderung der gesamten Prozessket­te vom Entwurf bis zum fertigen Produkt im realen Einsatz notwendig ist. Gleichzeit­ig will sich der Konzern als „Partner der Industrie für den digitalen Wandel“positionie­ren.

Hierfür zeigt der Konzern auf seinem MesseHaupt­stand in Halle 9 auf rund 4000 Quadratmet­ern zahlreiche Erweiterun­gen seines Digital-Enterprise-Angebots für die digitale Transforma­tion der Fertigungs- und Prozessind­ustrie. Großen Wert legt Siemens dabei auf branchensp­ezifische Lösungen. Insgesamt hat das Unternehme­n 21 Branchen in der Prozessund Fertigungs­industrie identifizi­ert, in denen man mit den eigenen Lösungen den digitalen Wandel vorantreib­en will.

Und künftig nicht nur mit Software und Automatisi­erungstech­nik, sondern auch mit Consultant-Leistungen. Dabei, so betont Mrosik, „ist unsere Beratungsl­eistung rein Shopfloorb­eziehungsw­eise fertigungs­bezogen“. Zum Selbstvers­tändnis von Siemens zählt auch, Kunden sowohl für Greenfield- als auch Brownfield­Anlagen zur richtigen Vorgehensw­eise für die digitale Transforma­tion zu beraten.

Branchenlö­sungen für das Digital Enterprise

Allerdings wird Siemens in Hannover keine Use Cases für alle 21 Branchen präsentier­en, sondern sich auf die sieben Segmente Food and Beverage (F+B), Automotive, Additive Manufactur­ing, Batteries, Chemicals, Pharma und Fiber konzentrie­ren. Am Beispiel der Automobili­ndustrie zeigt der Konzern etwa die Nutzung des Digital Twin, kombiniert mit additiver Fertigung sowie innovative­r Robotik. Genau betrachtet handelt es sich dabei um eine Zwillingsf­amilie mit drei Mitglieder­n: dem digitalen Zwilling des Produkts, dem Zwilling der Produktion sowie dem Zwilling der Performanc­e, die über Siemens‘ Collaborat­ion-Plattform Teamcenter verbunden sind

und so Informatio­nen zwischen realer und virtueller Welt austausche­n.

Als IoT-Betriebssy­stem kommt hierzu MindSphere zum Einsatz. Dessen Nutzergeme­inschaft „MindSphere World“zählt mittlerwei­le 90 Mitglieder, die ein Ökosystem aus IoT-Apps und -Modulen aufbauen. Zur einfachere­n Programmie­rung hat Siemens seit einigen Monaten den Low-Code-Spezialist­en Mendix an Bord. „Mit seiner Plattform und den dazugehöri­gen Tools und Services können Anwender ihre Apps bis zu zehnmal schneller erstellen“, zeigt sich CEO Mrosik begeistert.

Siemens setzt auf Edge Computing

Neben dem Cloud-basierten MindSphere entwickelt Siemens auch moderne Datenanaly­severfahre­n für das Edge Computing. Wie andere IT-Hersteller ist der Konzern zu der Überzeugun­g gelangt, dass es aus Performanc­e- und Kapazitäts­gründen wenig Sinn gibt, alle Daten direkt in der Cloud zu verarbeite­n. Vielmehr sei es effiziente­r, einen Teil der Informatio­nen direkt vor Ort, also am Edge, zu verwerten.

So fallen etwa alleine bei der Simatic-Produktion im Siemens-Werk Amberg pro Stunde ein Terabyte Daten an – geliefert von den verschiede­nen Sensoren und Aktoren der Maschinen. Zur Verarbeitu­ng dieser Daten will Siemens auf der Hannover Messe ein ganzes Produktpor­tfolio an Edge-Management-Lösungen, Edge Apps sowie Edge Devices vorstellen. Bislang ist lediglich bekannt, dass dazu auch eine neue Generation an Industrie-PCs gehören wird. Darauf angesproch­en, dass Siemens nun nicht gerade zu den ersten Anbietern zählt, denen der Gedanke des Edge Computing eingefalle­n ist, hält Mrosik entgegen, dass „wir über das entspreche­nde Prozess-Know-how der Leittechni­k verfügen und die diversen Industriep­rotokolle sehr gut kennen“.

Zu den Produktinn­ovationen rund um die digitale Prozessket­te der Produktion gehört

die neue Software NX mit Machine-Learning(ML-) und Artificial-Intelligen­ce-(AI-)Funktionen. Dadurch kann die Software anstehende Arbeitssch­ritte vorhersage­n und die Benutzerob­erfläche vorausscha­uend aktualisie­ren. Die Funktionen unterstütz­en laut Siemens den Benutzer dabei, die Software effiziente­r einzusetze­n, um so seine Produktivi­tät zu erhöhen. Ferner stellt Siemens mit dem Modul Electrical Design eine eigene E-CAD-Funktional­ität für das mechatroni­sche Engineerin­g von Maschinen und Produktion­slinien vor.

Ein anderer Showcase aus dem Bereich Greenfield wird in Hannover die virtuelle Abbildung einer chemischen Fabrik sein. Mit dem Digital Enterprise sei so eine Simulation einer kompletten Anlage mit Labor-, Automatisi­erungsund Steuerungs­technik für eine nachhaltig­e und ökologisch­e Produktion von Polyamiden aus Biomasse möglich. Damit diese Simulation möglichst wirklichke­itsnah ist, arbeitet Siemens intensiv an der Datengewin­nung aus Prozesslei­tsystemen wie Simatic.

Mit Hilfe der Software PlantSight können Anwender etwa Daten aus mehreren Datenquell­en zusammenbr­ingen und erhalten so einen schnellen Zugriff auf bisher unzugängli­che Informatio­nen. Durch die Synchronis­ation einer realen Anlage mit den dazugehöri­gen Engineerin­g-Daten entsteht auf diese Weise der digitale Zwilling der Produktion. Als weitere Innovation stellt Siemens auf der Messe seine neuen CloudConne­ct-Produkte vor, die eine Datenübert­ragung von der Feldebene an verschiede­ne Cloud-Plattforme­n ermögliche­n.

TIA als Automatisi­erungsbasi­s

Basis für die Digitalisi­erung der Automatisi­erung ist das bereits 1996 eingeführt­e Organisati­onskonzept TIA (Totally Integrated Automation). Als Weiterentw­icklung der Automatisi­erungstech­nik integriert Siemens zur Hannover Messe neue Technologi­en wie Edge Computing und Artificial Intelligen­ce in das TIA-Ökosystem. Dies soll eine neue Möglichkei­t zur Nutzung von Produktion­sdaten eröffnen und so zur Produktivi­tätssteige­rung beitragen.

Dass dies nicht nur graue Theorie ist, will Siemens in Hannover mit einem Anwendungs­fall aus seinem Werk in Amberg unter Beweis stellen: Bei der Produktion von Simatic-Produkten hat die Einbindung von Edge Computing, Artificial Intelligen­ce und MindSphere bei der Qualitätsp­rüfung von Leiterplat­ten durch Röntgenger­äte große Vorteile gezeigt. So konnte die Anzahl erforderli­cher Endkontrol­len, sprich das Röntgen der Platinen, deutlich gesenkt werden, weil die Software jetzt die Betriebspa­rameter der Anlage kontrollie­rt und dank Machine Learning erkennt, ob die Fehlerwahr­scheinlich­keit steigt. Nur wenn dies der Fall ist, wird wieder verstärkt auf die Röntgenkon­trolle zurückgegr­iffen.

Bei der Antriebste­chnik für die Maschinen selbst setzt Siemens ebenfalls stärker auf die Digitalisi­erung. Mit dem IoT-Digitalisi­erungsange­bot Sidrive IQ präsentier­t der Konzern Apps und Services zur Optimierun­g von Antrieben durch die Anbindung an MindSphere. Ferner will Siemens auf der Messe neue Softwarelö­sungen für Cloud- und Edge-Computing zur Datenanaly­se, Machine Learning und Performanc­e-Steigerung von Werkzeugma­schinen vorstellen. Ebenso wird der durchgängi­ge Einsatz von Software und Steuerungs­technik für die additive Fertigung in Kombinatio­n mit Werkzeugma­schinen und moderner Robotik ein Thema in Hannover sein.

3D-Druck in der industriel­len Fertigung

Ein weiteres Messethema ist für Siemens der industriel­le Einsatz von Additive Manufactur­ing. In den Augen der Münchner hat der 3D-Druck längst das Stadium des Rapid Prototypin­g verlassen und eignet sich in Verbindung mit der entspreche­nden Software für die Praxis in der industriel­len Fertigung. Um hier die Losgröße eins zu realisiere­n, setzt Siemens auf seine Software NX, um per Simulation das Konzept des „First Time, Right Printing“zu realisiere­n. Hierzu werden in der Software etwa erforderli­che Stützkonst­ruktionen, mögliche Hitzeneste­r, die zur Verformung des Bauteils führen, aber auch die späteren Beanspruch­ungen im Gebrauch berechnet.

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Jan Mrosik, CEO der Siemens-Division Digital Factory, verspricht Kunden mit Mendix eine zehnmal schnellere AppEntwick­lung.
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Siemens erweitert sein DigitalEnt­erprise-Portfolio um einen digitalen Service zur Anlagenins­tandhaltun­g.

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