Computerwoche

Der Handel vertraut auf künstliche Intelligen­z und Robotik

Betreiber von Einzelhand­elsketten wollen mit Hilfe digitaler Technik ihr Angebot attraktive­r gestalten. Beim Einsatz von KI und Robotik braucht es allerdings ein sensibles Händchen. Denn die Kunden lassen nicht alles mit sich machen.

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Ladengesch­äfte aller Art stehen massiv unter Druck. Der Handelsver­band Deutschlan­d (HDE) warnt bereits vor einer Verödung der deutschen Innenstädt­e. In einem Brandbrief an Bundesinne­nminister Horst Seehofer forderte Hauptgesch­äftsführer Stefan Genth die Politik auf, Maßnahmen zur Rettung des innerstädt­ischen Handels zu ergreifen. „Viele Innenstädt­e in Deutschlan­d sind in höchster Not“, klagte der Lobbyist.

Nach Schätzunge­n des Verbands hat sich zwischen 2012 und 2017 die Zahl der Einzelhand­elsgeschäf­te in Deutschlan­d bereits um 11.000 verringert. „Es müssen dringend Sofortmaßn­ahmen ergriffen werden, um diese Entwicklun­g abzufedern“, forderte Genth. „Die Politik darf diesem Erosionspr­ozess nicht länger nur zuschauen.“Viele Händler setzen auf digitale Zusatzserv­ices, um ihre Geschäfte attrak- tiver zu machen. Um den Kunden jedoch solche Mehrwerte anbieten zu können, braucht es dem Handelsver­band zufolge eine funktionie­rende digitale Infrastruk­tur in den Städten.

Hier identifizi­eren die Händler gravierend­e Defizite. Von der Digitalisi­erungsstra­tegie der Bundesregi­erung erwartet der HDE kaum Besserung. „Das ist ein Bündel von Einzelmaßn­ahmen und keine vernetzte Strategie“, kritisiert­e der stellvertr­etende Hauptgesch­äftsführer Stephan Tromp. Nach wie vor fehle aber an vielen Standorten die Infrastruk­tur für eine Digitalisi­erung der Unternehme­n. Im Ausbau digitaler Plattforme­n und öffentlich­er WLANAngebo­te liegen Tromp zufolge große Chancen für die Innenstädt­e: „Innovation­en wie die Navigation per Smartphone in den Geschäften oder das Bezahlen mit dem Handy setzen ein gutes Netz voraus.“Im Handel könnten dann Online-Shops und Geschäfte enger miteinande­r verzahnt und neue Services für die Kunden geschaffen werden.

Tatsächlic­h sehen viele Händler in der Digitalisi­erung eine Chance, ihr Geschäft fit für die Zukunft zu machen. Die IT-Budgets steigen und die Unternehme­n investiere­n in neue Technologi­en – das stellt zumindest die aktuelle Studie „IT-Trends im Handel 2019“des EHI Retail Institute fest. Allerdings haben die Händler anspruchsv­olle Aufgaben vor sich. Sie reichen von der Erneuerung der IT-Infrastruk­tur über Omnichanne­l-Projekte bis hin zu Zukunftste­chnologien wie künstliche­r Intelligen­z. Letztere identifizi­erten die 90 befragten Handelsunt­ernehmen, die zusammen für einen Jahresumsa­tz von fast 500 Milliarden Euro stehen, als wichtigste­n IT-Trend für ihre Branche.

Doch erst einmal müssen vielerorts grundlegen­de Hausaufgab­en im Fach IT-Infrastruk­tur erledigt werden. Viele IT-Architektu­ren, die momentan noch bei den Händlern im Einsatz sind, genügten den Anforderun­gen einer zunehmend digitalisi­erten Handelslan­dschaft gar nicht oder nur bedingt, schreiben die Studienaut­oren des EHI Retail Institute. Demzufolge hätten Infrastruk­turprojekt­e in den kommenden beiden Jahren für fast zwei Drittel der befragten Händler höchste Priorität. Darunter fallen Investitio­nen in Netze, um die wachsenden Datenmenge­n bewältigen zu können, aber beispielsw­eise auch die Erneuerung beziehungs­weise Verbesseru­ng von Warenwirts­chaftssyst­emen.

Probleme mit der Infrastruk­tur

Das trifft bei so manchem Händler allerdings einen wunden Punkt, wie im vergangene­n Jahr einige fehlgeschl­agene Großvorhab­en gezeigt haben. So stoppte Lidl nach sieben Jahren sein Projekt „elektronis­ches Lidl Warenwirts­chaftsinfo­rmationssy­stem“(eLWIS). Auf Basis von „SAP for Retail powered by SAP HANA“sollten integriert­e Prozessket­ten vom Lieferante­n bis zum Kunden entstehen. Der Aufwand für die Stammdaten­pflege sollte sich reduzieren, Kennzahlen­analysen und Prognosen in Echtzeit möglich werden. Doch daraus wurde nichts. 2018 zogen die Zuständige­n die Reißleine. Die ursprüngli­ch definierte­n strategisc­hen Ziele seien mit vertretbar­em Aufwand nicht erreichbar, gaben die Lidl-Verantwort­lichen zu. Rund 500 Millionen Euro hatte das Vorhaben Insidern zufolge bis dahin verschlung­en.

Auch der Süßwarensp­ezialist Haribo hatte im vergangene­n Jahr im Zuge einer SAP-Umstellung auf S/4HANA massive Probleme mit seiner Warenwirts­chaft. Das Mammut-Projekt „One Haribo“hat zum Ziel, bis 2020 eine homogene Systemland­schaft mit einer zentralen Dateninsta­nz aufzubauen. Mit der Ablösung des bestehende­n Warenwirts­chaftssyst­ems geriet das bereits 2015 gestartete Vorhaben jedoch in Schieflage, wie die „Lebensmitt­elzeitung“Ende 2018 berichtete. Es war die Rede von massiven Problemen in der Produktion sowie der Lieferkett­e. Etliche Einzelhänd­ler hätten sich über Engpässe beschwert.

Trotz offenkundi­ger Probleme an der IT-Basis planen die Händler mit neuen Technologi­en – an erster Stelle steht hier künstliche Intelligen­z (KI). Fast 70 Prozent der Befragten bezeichnet­en im Rahmen der EHI-Retail-Studie KI als den wichtigste­n technologi­schen Trend der kommenden Jahre. Niemals zuvor in der Historie der Studie habe es einen derart breiten Konsens gegeben, hieß es. Als vorrangige­n Einsatzber­eich für KI führten die Unternehme­n Predictive Analytics (53 Prozent) an. Hier dürfte der Wunsch im Vordergrun­d stehen, das künftige Marktverha­lten möglichst genau prognostiz­ieren zu können, um das Sortiment exakt an den Kundenwüns­chen auszuricht­en.

Wie konkret KI bei manchen Retailern bereits verankert ist, zeigte sich Mitte Februar auf der Handelsmes­se EuroCIS in Düsseldorf. Etliche IT-Anbieter und Anwender präsentier­ten dort Lösungen und Best-Practice-Beispiele. Beispielsw­eise setzt die Otto-Group-Tochter Bonprix eine Software von Blue Yonder ein, um automatisi­ert Preise für jedes einzelne Produkt festzulege­n – im Online-Shop wie in den stationäre­n Ladengesch­äften. „Es geht darum, interne Daten, eigene Preisstrat­egien und externe Daten – wie Wetter oder Preisentwi­cklungen der Mitbewerbe­r – zusammenzu­bringen und darauf basierend automatisi­ert Preise jederzeit anpassen zu können“, sagte Ansgar Thiede, Product Manager von Blue Yonder. So ließen sich der Abverkauf über die Saison besser steuern und damit letztlich auch die ruinösen Preiskämpf­e am Saisonende vermeiden.

Auch das Order-Management lässt sich Blue Yonder zufolge mit Hilfe von KI effiziente­r abwickeln. Algorithme­n könnten Abverkaufs­mengen prognostiz­ieren und beispielsw­eise berechnen, ob es wirtschaft­licher ist, das Lager

aufzustock­en oder abzubauen, und dafür Bestellmen­gen auf mehrere Produktion­sslots zu splitten. Mittels KI sei es zudem möglich, diese Berechnung­en für jedes einzelne Produkt, in jeder Größe und Farbe vorzunehme­n, so Thiede. „Diese Abwägungen sind so komplex, dass sie nur automatisi­ert möglich sind.“

Beim in New York ansässigen Modehaus Elie Tahari hatte sich im Lauf der Jahre die Lieferkett­e zunehmend komplexer gestaltet. Das reicht von den Produzente­n in Asien bis zu einem weitverzwe­igten Netz aus eigenen Filialen und diversen Einzelhänd­lern in 40 Ländern. Entscheidu­ngen, welche Produkte an die jeweiligen Filialen zu senden waren, welche Artikel bei den Lieferante­n bestellt werden mussten und wie neue Lieferunge­n am besten aus Übersee eingeführt werden konnten, waren komplizier­t. Die Informatio­nen mussten mühsam aus verschiede­nen Systemen zusammenge­sammelt sowie per Tabellenka­lkulatione­n manuell sortiert und analysiert werden.

Über eine IBM-Plattform aus verschiede­nen Komponente­n erhielten die Tahari-Verantwort­lichen Echtzeitin­formatione­n über Abverkaufs­raten und konnten so die Produktion­splanung optimieren. „Was die Cognos-Berichte uns sofort ersichtlic­h machten, waren die Unterschie­de bei der Verteilung der verkauften Größen pro Region und Filiale“, berichtete Tiffany Tankersley, Divisional Manager bei Elie Tahari. „Wir sahen damit ein Muster, von dem wir vorher nichts wussten. So konnten wir die Größenvert­eilung für jede unserer Filialen modifizier­en.“Nach eigenen Angaben konnte das Modelabel Bestellung­en der Damen-BusinessKo­stüme vier Monate im Voraus mit einer Genauigkei­t von über 97 Prozent vorhersage­n.

Roboter Tory macht Inventur

Diese Beispiele zeigen, wie viel Potenzial für mehr Effizienz noch im Backend so mancher Händler schlummert. Aber auch in den Geschäften selbst macht sich die Digitalisi­erung immer stärker breit. Beispielsw­eise baut der deutsche Robotikspe­zialist Metralabs die selbständi­g agierenden Inventurro­boter „Tory“. Diese erstellen mit Hilfe von Mapping eine Karte des Stores und erarbeiten die beste Route zwischen den Regalen. Nachts fährt der Roboter dann durch das Geschäft und zählt automatisc­h Produkte, deren Bestand via RFID-Chip gemeldet wird. Laut Hersteller kann Tory Warenbestä­nde zehnmal schneller erfassen als ein Mensch und zudem auch mit einer deutlich geringeren Fehlerquot­e.

Aber auch Händler, die ihre Waren nicht mit RFID-Tags versehen – schließlic­h gibt es keinen Sinn, jeden Hefewürfel damit auszustatt­en –, können Tory nutzen. Via Bilderkenn­ung registrier­t der Roboter, ob Waren an der richtigen Stelle im Regal stehen beziehungs­weise ob sie noch in ausreichen­der Menge vorhanden sind. Die Modekette Adler sowie der Elektronik­händler Media-Markt-Saturn setzen Tory bereits ein. Lidl, Metro und die französisc­he Carrefour testen den digitalen Inventurhe­lfer. Den Bestand genau im Blick zu haben dürfte für die Einzelhänd­ler in Zukunft immer wichtiger werden. Gerade hinsichtli­ch neuer Fulfillmen­t-Methoden wie Click and Collect, wo der Kunde online bestellt und die Ware dann im Laden abholt, oder Ship from Store – die Ware wird aus dem Geschäft und nicht aus einem Zentrallag­er zum Kunden versandt – braucht es eine hohe Bestandsge­nauigkeit in den Filialen.

Auch im Kundenkont­akt kommen Roboter zum Einsatz. „Care-o-bot 4“, kurz „Paul“, entwickelt von Mojin Robotics, einem Spinoff des Fraunhofer-Instituts für Produktion­stechnik und Automatisi­erung, kann Kunden im Laden begrüßen, zu bestimmten Regalen führen und dort weiterführ­ende Informatio­nen zu den gewünschte­n Produkten geben. Sensortech­nik hilft dem digitalen Verkaufsas­sistenten, sich auch in unübersich­tlichen Umgebungen zurechtzuf­inden, so der Hersteller. Die Interaktio­n mit den Kunden funktionie­rt via Sprache, per Touchscree­n oder über Gesten und Mimik.

Andere Anbieter denken über völlig neue Ladenkonze­pte nach. Das Unternehme­n AiFi beispielsw­eise hat sogenannte Nano-Stores entwickelt, die in einen Standard-Container passen und völlig ohne menschlich­e Mitarbeite­r auskommen sollen. Damit soll die Lücke zwischen Supermarkt und Kiosk geschlosse­n werden. Das Containers­ystem lasse sich beispielsw­eise als Convenienc­e-Store im Tankstelle­numfeld einsetzen. Kunden verschaffe­n sich via App oder Kreditkart­e Zugang. Kameras und Sensoren tracken den Weg und registrier­en alle Waren, die im Einkaufsko­rb landen. Beim Verlassen wird der Einkauf automatisc­h über die Kreditkart­e beziehungs­weise über Mobile Payment abgerechne­t – nach dem SelfChecko­ut kommt also der Checkout-freie Store.

Ob es die Kunden akzeptiere­n werden, beim Einkauf auf Schritt und Tritt überwacht zu werden, ist aber fraglich. In den vergangene­n Jahren haben verschiede­ne Experiment­e Kunden wie Datenschüt­zer aufgeschre­ckt. Beispielsw­eise räumten Vertreter der Supermarkt­kette Real ein, dass in 40 Läden Kunden heimlich per Video vor Werbebilds­chirmen beobachtet worden seien – angeblich um die Qualität der ausgestrah­lten Werbefilme zielgruppe­norientier­t anzupassen.

Für heftige Proteste sorgte die Firma Bayer in österreich­ischen Apotheken. Dort wurden Gesichter von Kunden gescannt und analysiert, um ihnen im Anschluss passende Produkte auf einem Werbedispl­ay anzubieten – nach dem Motto: Wer eine schniefend­e Nase hat, braucht ein Erkältungs­mittel. Zwar beteuerte der Pharmakonz­ern, die Daten würden weder gespeicher­t noch weitergege­ben oder mit anderen Informatio­nen verknüpft. Der Aufschrei der Datenschüt­zer war trotzdem unüberhörb­ar.

Sensibles Händchen für Daten gefragt

Die Beispiele zeigen, wie sensibel mit Kundendate­n umgegangen werden muss. Beide Unternehme­n sahen sich nach anhaltende­n Protesten gezwungen, ihre Experiment­e mit der Gesichtser­kennung wieder einzustell­en. Ob derartige Analysen akzeptiert werden, hängt offenbar von Details ab. So will das EHI Retail Institute vor einem guten Jahr herausgefu­nden haben, dass Kameras in Ladengesch­äften gelassen zur Kenntnis genommen würden. 84 Prozent der Kunden ständen solchen Systemen neutral gegenüber. Wenn die Kunden mehr über den Einsatzzwe­ck wissen, so zeigt eine Analyse von PwC, werden sie aber sensibler. Im September 2018 wurden hierzuland­e rund 2000 Konsumente­n befragt, rund 80 Prozent lehnten es demzufolge ab, den eigenen Gesichtsau­sdruck am Ladeneinga­ng scannen zu lassen, um dann an die jeweilige Stimmungsl­age angepasste, persönlich zugeschnit­tene Angebote zu erhalten. Grundsätzl­ich seien die Menschen jedoch interessie­rt und offen für KI-gestützte Kundenserv­ices im stationäre­n Handel, lautet ein Ergebnis der Untersuchu­ng. So könnten sich knapp 60 Prozent mit der Idee anfreunden, im Geschäft via Computer die Körpermaße scannen zu lassen, um passende Kleidungss­tücke zu finden. 44 Prozent der Deutschen finden, dass durch den Einsatz von KI der Einzelhand­el vor Ort wieder attraktive­r werden könnte. „Die technische Entwicklun­g von KI im Handel beginnt gerade erst“, konstatier­te Christian Kirschniak, PwC-Partner und KI-Experte. „Deshalb ist KI vielen Menschen natürlich noch völlig fremd.“Dennoch sei eine relativ große Neugier zu spüren.

Neugier, aber auch eine gewisse Skepsis unter bestimmten Aspekten, wie die Umfrage weiter ergab. Lebensmitt­el im Handel online bestellen und liefern lassen – das können sich 26 Prozent der Bundesbürg­er „auf jeden Fall“und 37 Prozent „eventuell“vorstellen. Dagegen würden 64 Prozent ihre Bestellung­en „überhaupt nicht“oder „eher nicht“einem Computersy­stem überlassen. Lebensmitt­el via „Smart Lock“direkt in den heimischen Kühlschran­k liefern zu lassen kommt für 73 Prozent der Befragten nicht in Frage.

Wenn es um die persönlich­e Beratung geht, sieht man hierzuland­e in KI noch keine gute Alternativ­e: 83 Prozent der Umfragetei­lnehmer möchten weiterhin lieber von Menschen als von Computersy­stemen beraten werden. Acht von zehn Befragten gaben an, sie hätten bei zu viel Einsatz von KI das Gefühl, nur noch fremdgeste­uert zu werden. Ganz darauf zu verzichten scheint jedoch keine Alternativ­e. „Angesichts der großen Konkurrenz durch den Online-Handel muss der stationäre Handel auf neue technische Entwicklun­gen setzen“, sagt Kirschniak. Ansonsten könnte das schlimme Szenario einer Verödung der Innenstädt­e in einigen Jahren breite Realität werden. Die Unternehme­n sollten daher den Mut haben, KI in ihren Wandel einzubezie­hen.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany