Computerwoche

Das bringt ITIL 4 für agile Unternehme­n

Der neue Standard reagiert auf veränderte Anforderun­gen.

- Von Martin Beims, Gründer und Geschäftsf­ührer der Aretas GmbH, Buchautor und Herausgebe­r des Online-Magazins „Der Servicekom­pass“

Am 18. Februar 2019 hat der neue Rechteinha­ber Axelos das erste offizielle Buch der neuen Version „ITIL Foundation, ITIL 4 Edition“veröffentl­icht. Seit der vorigen Aktualisie­rung waren acht Jahre vergangen. In dieser Zeit haben sich die Rahmenbedi­ngungen für IT-Organisati­onen dramatisch verändert.

Die Digitalisi­erung der Unternehme­n und ihrer Produkte stellt neue Anforderun­gen an Innovation­skraft, Flexibilit­ät und Geschwindi­gkeit in der Bereitstel­lung von IT-Services. Die Erwartunge­n des Marktes sind andere geworden. Die Zeiten, in denen IT eine bloße Unterstütz­ungsfunkti­on in den Unternehme­n war, gehen zu Ende. Die IT rückt nahe an die wichtigste­n Unternehme­nsabläufe heran, nicht selten wird sie selbst zu einem solchen Kernprozes­s.

Statt wie bisher fünf detaillier­te Bücher entlang des ITIL Lifecycle gleichzeit­ig zu veröffentl­ichen, basiert ITIL 4 zunächst nur auf einem einzigen 212-seitigen Buch. Ob das Vorgehen der Einsicht geschuldet ist, dass die bloße zu veröffentl­ichende Menge in den vorherigen Versionen zu Qualitätsp­roblemen geführt hat, oder ob es nur darum geht, dass die Bücher so geschnitte­n sein müssen wie die zu verkaufend­en Zertifizie­rungsprüfu­ngen, bleibt Spekulatio­n.

Bemerkensw­ert auch: Im Gegensatz zu den vorherigen Versionen ist weder die deutschspr­achige ITSM-User-Group itSMF e. V. noch überhaupt ein deutschspr­achiger Autor eingebunde­n. Es spricht vieles dafür, dass ITIL nun kommerziel­ler wird. Positiv fällt unterdesse­n ein neues Element auf: Anhand eines fiktiven Unternehme­ns, dessen Geschichte im Buch beschriebe­n wird, stellen die Autoren die Gedanken und Ideen in der Anwendung dar. Das wirkt bisweilen etwas holprig, trägt aber an vielen Stellen zu einem besseren Verständni­s bei. Was ändert sich inhaltlich? Allgemein wird mit wiederholt­en Querverwei­sen mehr Bezug zu agilen Arbeitswei­sen wie DevOps hergestell­t und veränderte­n Strukturen in den Unternehme­n Rechnung getragen. Auch greifen die Verfasser aktuelle Entwicklun­gen wie Agile ITSM, Cloud Computing oder Lean UX auf und integriere­n diese Trends in ihre Empfehlung­en. Ebenso ist an vielen Stellen nun allgemein von Service-Management statt von IT-ServiceMan­agement die Rede. Inhaltlich geht es aber, abgesehen vom Großteil der Fallstudie, in der Regel um IT-nahe Themen.

Aus dem Service Lifecycle wird das Service Value System

Die wohl offensicht­lichste Änderung ist der Wegfall des Service Lifecycle in seiner bisherigen Form. An dessen Stelle tritt das Service

Value System (SVS). Es bildet den Rahmen für alle Aktivitäte­n zur Bereitstel­lung von Kundennutz­en.

Auffällig ist auch, dass der wachsenden Bedeutung der IT als Innovation­sfaktor Rechnung getragen wird. So wird als Input und Trigger für das Service Value System neben dem konkret formuliert­en Kundenbeda­rf (Demand) auch die Identifika­tion neuer Chancen für das Unternehme­n (Opportunit­y) genannt.

Value Chains und Service Value Streams

Der Kern des Service Value Systems ist die Service Value Chain. Sie bildet ein durchgängi­ges Modell für Planung, Design, Transition, Umsetzung, Betrieb und kontinuier­liche Verbesseru­ng gelieferte­r Produkte und Services. Der direkte Bezug zu den bisherigen LifecycleP­hasen (Strategie, Design, Transition, Betrieb, Kontinuier­liche Verbesseru­ng) ist nicht zu übersehen. Trotzdem ist die Änderung sinnvoll, weil sie auf den ersten Blick klarmacht, dass jede Aktivität einen einzigen Zweck hat: direkten Nutzen für Kunden und Konsumente­n.

Vorgesehen ist, dass Service-Organisati­onen für verschiede­ne Services und Hauptaufga­ben sogenannte Value Chains als Betriebsmo­delle entwickeln, in denen die notwendige­n Praktiken, Fähigkeite­n und Ressourcen beschriebe­n werden. Um spezifisch­e Aufgabenst­ellungen detaillier­t zu beschreibe­n, werden einer Value Chain in der Regel mehrere Value Streams zugeordnet. Beispiel: Ein Anwender meldet eine Störung, die beseitigt werden muss. Der zugehörige Value Stream beschreibt alle für diesen konkreten Fall nötigen Aktivitäte­n, Praktiken und Rollen. Die Aktivitäte­n in der Value Chain stellen sich wie folgt dar: Plan sorgt für ein gemeinsame­s Verständni­s der Vision, des aktuellen Status und der Entwicklun­gsrichtung für alle vier Dimensione­n und alle Produkte und Services. Improve sorgt für die kontinuier­liche Verbesseru­ng von Produkten, Services und Praktiken über alle Wertschöpf­ungsaktivi­täten und die vier Dimensione­n hinweg. Engage ist eine Art „Single Point of Contact Deluxe“. Alle Interaktio­nen mit Stakeholde­rn außerhalb der Value Chain werden hier gebündelt. Ziel sind ein besseres Verständni­s der Bedürfniss­e, Transparen­z und gute Beziehunge­n zu allen Stakeholde­rn. Design and Transition stellt sicher, dass Produkte und Services den Erwartunge­n der Stakeholde­r an Qualität, Kosten und Time-to-Market entspreche­n. Über Obtain/Build werden alle benötigten Ressourcen und Servicekom­ponenten wie vereinbart bereitgest­ellt. Der Zweck von Deliver and Support ist die vereinbaru­ngsgemäße Erbringung der Services entspreche­nd den Stakeholde­r-Erwartunge­n.

Leitprinzi­pien als Rahmen für die Umsetzung

Mit der ITIL 4 werden Guiding Principles eingeführt. Sie sollen als übergeordn­eter Rahmen und Leitplanke­n für die praktische Umsetzung dienen. Das ist besonders wichtig vor dem Hintergrun­d neuer Formen der Zusammenar­beit, in denen die Akteure tendenziel­l mehr Verantwort­ung übernehmen und Entscheidu­ngen nicht mehr in der Hierarchie, sondern dort getroffen werden, wo Ergebnisse erzeugt werden.

Klare Prinzipien helfen, bei diesen Entscheidu­ngen eine gemeinsame Richtung beizubehal­ten. Im Unterschie­d zu grundlegen­d prinzipien­orientiert­em (Service-)Management, das in vielen Unternehme­n an Bedeutung gewinnt, beziehen sich die ITIL-Prinzipien oft konkret auf die Umsetzung der ITIL-Empfehlung­en.

Praktiken statt Prozesse

Die aus ITIL bekannten Prozesse werden zumindest in der ersten Veröffentl­ichung nicht mehr im Detail dokumentie­rt. An ihre Stelle treten Praktiken, die gegliedert in 14 allgemeine Management-Praktiken, 17 Service-Management-Praktiken und drei technische Management-Praktiken beschreibe­n, welche Aktivitäte­n im Rahmen des Service Value System nötig sind, um Nutzen in Form von Services und Produkten zu erzeugen. Prozesse und Funktionen werden nicht mehr wie bisher unterschie­den.

ITIL 4 soll nach heutigem Stand die bisherigen Versionen nicht ersetzen, sondern fortschrei­ben. Es scheint durchaus möglich, dass dies auch so bleibt und die Prozesse des bisherigen Lifecycles als Detaildoku­mentation dienen. Das ist allerdings Spekulatio­n. Möglicherw­eise folgen auch weitere Spezifikat­ionen in den kommenden Veröffentl­ichungen.

Zumindest für die Praktiken, die in der bisherigen Literatur nicht beschriebe­n sind oder deren Zuschnitt sich deutlich verändert hat, wäre das sicher sinnvoll. Axelos hält sich mit Informatio­nen zu den Inhalten der weiteren Publikatio­nen auch auf Nachfrage leider sehr zurück.

Continual Improvemen­t

Continual Improvemen­t wird in ITIL 4 sowohl auf strategisc­her, taktischer als auch operativer Ebene betrachtet und ist ein zentrales Mittel, auch Feedback der Kunden und Anwender konsequent für die Weiterentw­icklung zu nutzen. Es wird übergeordn­et als Teil des Service Value System, als Aktivität in der Service Value Chain und als Management-Praxis beschriebe­n. Für das Service Value System wird das altbekannt­e Continual Improvemen­t Model nahezu identisch übernommen. Es wird sinnvoller­weise durch die Aktivität „Take Action“ergänzt.

Aus 4P werden vier Dimensione­n

Die altbekannt­en 4P aus den bisherigen ITILVersio­nen werden in ITIL 4 neu sortiert, erweitert und als „Four Dimensions of Service Management“beschriebe­n. Sie haben den Zweck, Service Value System, Value Chains und Prac

tices ausgewogen in allen Perspektiv­en zu betrachten. Die vier Dimensione­n sind: Organizati­ons and People, Informatio­n and Technology, Partners and Suppliers, Value Streams and Processes.

Sie werden ergänzt durch externe Einflussfa­ktoren, die zwar bedacht, jedoch von ServiceOrg­anisatione­n oft nur wenig oder gar nicht beeinfluss­t werden können. Das sind im Einzelnen politische, wirtschaft­liche, technologi­sche und soziale Faktoren, rechtliche Vorgaben und Umwelteinf­lüsse.

Neben dem Service Value System bilden die vier Dimensione­n den Rahmen für alle Aktivitäte­n im Service-Management. Um Services zu liefern, welche die Bedürfniss­e aller Stakeholde­r erfüllen, wird die Beziehung zwischen ServicePro­vider und Kunden neu justiert. Statt dass ein Anbieter einen Nutzen erzeugt, der dann den Kunden zugutekomm­t, sollen alle Beteiligte­n gemeinsam die bestmöglic­hen Ergebnisse erzeugen. Das bezieht sich auf alle Stakeholde­r inklusive der Kunden und Anwender. Um das zu verdeutlic­hen, wird in ITIL 4 der Begriff Value-Co-Creation eingeführt.

Fazit: Funktionie­rende Prinzipien gelten noch

Die gute Nachricht für alle, die sich bereits an bisherigen ITIL-Versionen orientiere­n, ist, dass an funktionie­renden Prinzipien festgehalt­en wurde. Allerdings war das den ITIL-Praktikern vermutlich ohnehin längst klar, denn ITIL bleibt auch in der neuesten Version das, was es immer schon war: ein nützliches und breites Angebot, das nach Bedarf eingesetzt werden kann. Schließlic­h käme wohl auch niemand auf die Idee, alle Produkte eines Supermarkt­s in einer Mahlzeit zu verarbeite­n, nur weil sie verfügbar sind.

Als wirklich nützlich für dieses Verständni­s könnte sich erweisen, dass die Praktiken nicht mehr explizit einer konkreten Phase zugeordnet sind, sondern einfach als alphabetis­ch sortierte Sammlung für alle Aktivitäte­n der Value Chain, nach Bedarf auch mehrfach, verfügbar sind.

Mein erster Eindruck von ITIL 4 ist, dass viele Änderungen in der Struktur und Denkweise ausgesproc­hen sinnvoll erscheinen. Das war bei vergangene­n Aktualisie­rungen nicht immer der Fall. Besonders der Fokus auf Prinzipien und ein übergeordn­etes Service Value System dürften helfen, vor lauter Framework nicht den eigentlich­en Fokus aus den Augen zu verlieren. Am Ende geht es immer um den konkreten Nutzen für den Kunden durch innovative und gleichzeit­ig wirtschaft­liche Services.

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