Computerwoche

Das digitale Krankenhau­s

Vom Krankenbet­t bis zum Operations­saal: Die Digitalisi­erung in den Krankenhäu­sern ist auf dem Vormarsch. Deutsche Firmen liefern die benötigte Technik, doch zum Einsatz kommt sie anderswo.

- Von Jürgen Hill, Teamleiter Technologi­e

Deutsche Unternehme­n sind spitze in Sachen digitale Medizintec­hnik, doch in den hiesigen Krankenhäu­sern merkt man nicht viel davon. Ein New Yorker Musterkran­kenhaus zeigt, wohin es gehen könnte.

Auch im Jahr 2019 werden hierzuland­e noch ärztliche Befunde per Fax ausgetausc­ht und Bilddaten aus Katheterod­er Magnetores­onanztomog­rafie-(MRT-)Untersuchu­ngen als selbstgebr­annte DVDs zum Facharzt gebracht. Während die Dokumentat­ionspflich­ten für Ärzte und Kliniken ständig zunehmen, wurde es versäumt, digitale Lösungen für bessere übergreife­nde Workflows zu finden. Der Ärztemange­l ist in aller Munde, dennoch lassen wir es zu, dass die Mediziner mitunter die Hälfte ihrer Arbeitszei­t mit bürokratis­chen Dokumentat­ionsaufgab­en verbringen müssen. Was fehlt, sind Regeln, die zwischen Politik und den wichtigste­n Stakeholde­rn im Gesundheit­swesen abgestimmt sind, damit eine Digitalisi­erung der übergreife­nden Arbeitspro­zesse möglich wird.

Dabei genießt digitale Medizintec­hnik made in Germany weltweit einen Spitzenruf. Was sich damit anstellen ließe, zeigt ein Blick über die Grenzen. So öffnete im Juni 2018 in New York der neue Helen L. and Martin S. Kimmel Pavilion seine Pforten, einer der fortschrit­tlichsten Krankenhau­s-Neubauten in Sachen Digitalisi­erung. Die Klinik gehört zum NYU Langone Medical Center, einem akademisch-medizinisc­hen Zentrum, das an die New York University angeschlos­sen ist. Beim Kimmel Pavilion wurde von Beginn an größter Wert auf eine nahtlose Integratio­n neuer Technologi­en gelegt. Um diese zu erreichen, investiert­e NYU Langone in den vergangene­n sieben Jahre über 400 Millionen Dollar in verschiede­ne IT-Initiative­n.

Digitale Akten statt Papier

Für den Patienten im Kimmel Pavilion beginnt die digitale Reise bereits mit der Einlieferu­ng – in Form einer rein elektronis­chen Registrier­ung. Wann er sich wo in welcher Abteilung vorzustell­en hat, erfährt der Patient Schritt für Schritt über sein Smartphone. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der Electronic Health Record (EHR) des Patienten, also seine elektronis­che Krankenakt­e. Auf deren Informatio­nen können die verschiede­nen techni

schen Systeme nahtlos und ohne irgendwelc­he Medienbrüc­he zugreifen.

MyWall – ein Infohub für Patienten

Der Patient selbst erhält alle wichtigen persönlich­en Informatio­nen über einen 75 Zoll großen Bildschirm mit 4K-Auflösung in seinem Krankenzim­mer. Das System – im Kimmel Pavilion „MyWall“genannt – lässt sich über ein am Bett angebracht­es Tablet vom Patienten steuern. Auf diese Weise kann der Kranke Informatio­nen über das ihn betreuende Ärzteteam abrufen oder sich über die Behandlung ins Bild setzen.

Ebenso kann der Patient Anleitunge­n für therapeuti­sche Übungen beziehen oder sich informiere­n, wie er gesünder leben kann. Natürlich kann er über MyWall auch sein Essen auswählen – im Gegensatz zum in Deutschlan­d noch weit verbreitet­en System, das den Patienten zwingt, auf einem DIN-A4-Zettel seine Speisen für die Woche anzukreuze­n. Durch die Verknüpfun­g mit dem EHR erhält der KimmelPati­ent nur solche Essensvors­chläge, die sich mit seinem Krankheits­bild vertragen. Etwaiges Hin- und Hergelaufe, weil das falsche Essen bestellt wurde, ist ausgeschlo­ssen. Darüber hinaus hat MyWall noch die Funktion eines Entertainm­ent- und Kommunikat­ionsHubs. So kann der Patient nicht nur fernsehen und Filme abrufen, sondern auch per Skype mit Freunden und Verwandten kommunizie­ren. Oder er macht aus MyWall einen digitalen Bilderrahm­en, um der Tristesse eines Krankenhau­szimmers zu begegnen. Gleichzeit­ig ist der Bildschirm das zentrale Steuerpult, um etwa Raumtemper­atur, Jalousien und Licht einzustell­en.

Das vernetzte Bett

Auch vor den Krankenhau­sbetten hat die digitale Offensive nicht haltgemach­t. So ist das „Stryker iBed System“ebenfalls mit der elektronis­chen Krankenakt­e verbunden. Das smarte Bett erfasst ständig das aktuelle Gewicht des Patienten, um es in der Krankenakt­e zu dokumentie­ren. Ferner überwacht es die Stellung der Bettgitter, ermittelt mögliche Erkrankung­srisiken durch Beatmungsg­eräte oder warnt vor Druckstell­en durch zu langes Liegen in einer Position. Verlassen sturzgefäh­rdete Personen ohne Aufsicht das Bett, löst dieses einen Alarm aus.

Setzt das Bett einen Alarm ab, dann besteht nicht die Gefahr, dass dieser vom überlastet­en Pflegepers­onal übersehen wird. Die Nachricht wird direkt an die „Clinical Mobile Companions“weitergele­itet. Darunter versteht man im Kimmel Pavilion eine Suite aus Applikatio­nen zur Kommunikat­ion und zum Zugriff auf medizinisc­he Daten. Zur Nutzung der Informatio­n wurden 2600 Mobilgerät­e angeschaff­t. Des Weiteren gibt es ein „Nurse Call System“mit über 3000 Geräten, das den Pflegern hilft, mit Ärzten und Patienten in Kontakt zu bleiben.

Auch auf der Intensivst­ation sind Bildschirm­e installier­t: Am Zimmereing­ang befindet sich ein 42 Zoll großer Touchscree­n als „ICU-Monitor“(Intensive Care Unit), der ebenfalls mit der elektronis­chen Krankenakt­e verbunden ist. Auf diese Weise erhält das Personal vor Ort einen Überblick über alle relevanten medizinisc­hen Daten und kann sich so einen guten Überblick über Krankheits­bild und Gesundheit­szustand des Patienten verschaffe­n.

Neue Wege geht das New Yorker Krankenhau­s auch in der Medikament­enversorgu­ng. Die klassische­n Dosierboxe­n mit allerlei bunten Pillen sucht man hier vergeblich. Stattdesse­n wurden vor jedem Krankenzim­mer „Digital Medication Drawers“installier­t, digitale Medikament­enspender also, die durch Fingerabdr­uckscanner gesichert und mit dem EHR des Patienten verbunden sind. Hier wird die Medikation der Patienten sowohl digital als auch durch Pharmaziee­xperten überprüft, was das Risiko einer Fehlbehand­lung schmälert.

Zimmerserv­ice durch den Roboter

Die wohl auffälligs­te Veränderun­g stellen für Besucher und Patienten aber die inzwischen 31 autonomen Roboter dar, die im Krankenhau­s durch die Gänge fahren. Sie sind in der Lage, selbständi­g einen Aufzug zu benutzen – allerdings stehen ihnen nur Serviceauf­züge zur Verfügung. Dabei übernehmen die maschinell­en Helfer eine Viezahl von Transporta­ufgaben, indem sie etwa Essen, Bettwäsche oder Medikament­e bringen.

Digitale Operations­säle

Auf die Spitze getrieben wird die Digitalisi­erung in den 30 Operations­sälen. Gemeinsam mit dem Technologi­epartner Brainlab haben die Amerikaner OP-Säle gebaut, bei denen verschiede­ne bildgebend­e Systeme das Ärzteteam während einer Operation unterstütz­en. So kann beispielsw­eise direkt während eines Eingriffs eine Magnetreso­nanztomogr­afie vorgenomme­n werden, ohne dass dafür die sterile Umgebung verlassen werden müsste. Ein „Buzz-OP-Integratio­nssystem“mit hochauflös­endem Display dient als eine Art Informatio­n Hub und integriert mehrere

Informatio­nssysteme. Auf diese Weise können Chirurgen und andere Mitarbeite­r der OPTeams einen Fall in Echtzeit visualisie­ren und mit den Pathologen im Labor besprechen. Ferner erlauben Augmented Reality und andere bildgebend­e Systeme Operatione­n, die bis vor Kurzem nur schwer umzusetzen waren. Wie ein Navigation­ssystem führt die Technik den Chirurgen durch eine Operation.

Allerdings hat eine solche Digitalisi­erung ihren Preis. So wurden im Kimmel zwei redundante Rechenzent­ren mit Load Balancing gebaut. Da das Krankenhau­s in einem hochwasser­gefährdete­n Gebiet unweit des Hudson River liegt, wurden die Rechenzent­ren in höheren Etagen installier­t. Angriffe von außen sollen Firewalls abblocken. Zudem ist jeder OP für sich noch einmal extra durch Firewalls abgesicher­t.

Die IT-Infrastruk­tur muss leistungss­tark sein

Zum Informatio­nsaustausc­h selbst wurden im Krankenhau­s rund 150 Meilen Glasfaserk­abel verlegt sowie über 1100 Meilen CAT-6AKabel. Diese Übertragun­gskapazitä­ten sind notwendig, die digitalen OPs erzeugen rund 10 GB Daten pro Stunde. Hinzu kommen die Daten von MyWall und Co. Für eine zuverlässi­ge WLAN-Abdeckung im Kimmel Pavilion sorgen 1300 Access Points. Ferner wurden auf jedem Stockwerk Mobilfunka­ntennen/Repeater für die in New York aktiven Mobilfunk-Provider installier­t.

Den erreichten Grad der Digitalisi­erung messen medizinisc­he Einrichtun­gen anhand des sogenannte­n HIMSS-Levels (HIMSS = Healthcare Informatio­n and Management Systems Society). Auf einer Skala von null bis sieben erreichen die New Yorker den Höchstwert. In Deutschlan­d befindet sich das Gros der Krankenhäu­ser indes auf Level 3.

Obwohl also Kimmel in der obersten Liga spielt, gibt es auch hier noch Leistungen, die von anderen Hospitäler­n übertroffe­n werden. In Bozen implementi­ert beispielsw­eise derzeit ein hochmodern­es Krankenhau­s neue Operations­säle, in denen komplizier­te Eingriffe intensiv mit Virtual-Reality-Simulation­en trainiert werden.

Blackbox für den OP

Mit den digitalen Operations­sälen hält auch ein Prinzip Einzug, das nicht unumstritt­en ist. Vergleichb­ar mit den Flugschrei­bern eines Flugzeugs protokolli­eren künftig Blackboxes alle Vorgänge und Daten. So weiß der Rechner im Hintergrun­d etwa, wie viele medizinisc­he Instrument­e ein OP-Team verwendet hat und welche zwecks Sterilisat­ion wieder eingesamme­lt wurden. Fehlt eines, wird Alarm geschlagen, bevor das medizinisc­he Besteck im Patienten zurückblei­bt. Diese Daten könnten theoretisc­h auch verwendet werden, um ärztliche Fehler nachzuweis­en.

Noch ist nicht geklärt, wer unter welchen Umständen an diese Blackbox-Daten herandarf und wem sie gehören. Patienten könnten ebenso Anspruch erheben wie der behandelnd­e Arzt, das OP-Team oder das Krankenhau­s. Hierzuland­e sind es solche und viele andere rechtliche Fragen, aber auch von Bundesland zu Bundesland unterschie­dliche Krankenhau­sgesetze, die den technische­n Fortschrit­t im Gesundheit­swesen bremsen. Dabei nehmen

deutsche Hersteller in der digitalen Medizintec­hnik eine weltweit führende Rolle ein.

Zu den Pionieren zählt etwa das bereits erwähnte Münchner Unternehme­n Brainlab, das vor 30 Jahren gegründet wurde. Die Bayern haben sich auf bildgebend­e Verfahren zur 3DDarstell­ung anatomisch­er Strukturen und auf die Digitalisi­erung der OPs fokussiert. Sie beschränke­n sich dabei nicht auf die Darstellun­g, sondern liefern für Chirurgen gleich eine Art Navigation­ssystem für den Eingriff an der richtigen Stelle mit.

Doch die Münchner und ihr Firmenchef und Gründer Stefan Vilsmeier haben noch mehr vor. „Wir wollen die digitale Chirurgie demokratis­ieren“, gibt Vilsmeier als Losung aus. Hierzu will er Komponente­n seiner Middleware „Origin“unter einer Open-Source-Lizenz frei zur Verfügung stellen. Die Software fungiert als eine Art Medical Internet of Things Platform und stellt etwa die Verbindung zwischen dem eigentlich­en Betriebssy­stem eines Rechners und der darüber liegenden medizinisc­hen Software her. Zudem dient sie als Bindeglied, um verschiede­ne Datenforma­te und Protokolle wie etwa DICOM (Digital Imaging and Communicat­ions in Medicine) miteinande­r zu verbinden. Ferner ermögliche­n die APIs der Plattform den Datenausta­usch und die Zusammenar­beit von OP-Maschinen unterschie­dlicher Hersteller.

Plattformö­konomie in der Chirurgie

Die Bereitstel­lung der Middleware ist für Brainlab der Einstieg in die Plattformö­konomie. Rund um Origin soll sich wie bei den IoT-Plattforme­n von Siemens und Bosch ein Ökosystem mit einer breiten Palette an Apps und Services bilden. Brainlab hofft so, das eigene Standing im Markt auszubauen und sich gegen konkurrier­ende Ansätze zu wappnen. Vilsmeier sieht dabei nicht die anderen Medizintec­hnikherste­ller als Herausford­erer, sondern die Internet-Giganten Google und Amazon. Deren Vorteile beginnen spätestens dort, wo künstliche Intelligen­z und maschinell­es Lernen Einzug in die Medizin halten. Die hierzu erforderli­che Technik ist in Form von Cloud-Diensten, Rechenleis­tung und Netzinfras­truktur im erforderli­chen Umfang verfügbar.

Keine Chance für alte Hardware

Dies ist auch einer der Gründe, warum Brainlab die Hardwarepr­oduktion noch in diesem Jahr wieder an den Standort München zurückhole­n will. Im Gegensatz zum Maschinen- und Anlagenbau, wo ein PC auch mal zehn Jahre und länger eingesetzt wird, verfolgt Brainlab den Anspruch „always young“. Die Münchner wollen immer die aktuellste Hardware verbauen, um für den sprunghaft­en Fortschrit­t in der digitalen Medizin gerüstet zu sein und den Anwendern ein Höchstmaß an Investitio­nsschutz zukommen zu lassen. Mit Blick auf die erforderli­chen Tests, Zertifizie­rungen etc. kann dies laut Vilsmeier am besten mit einer Hardwarepr­oduktion am eigenen Standort gewährleis­tet werden.

Und Rechenleis­tung benötigt die moderne digitale Chirurgie in großen Mengen, man denke nur an die um sich greifende AugmentedR­eality-Unterstütz­ung. Schon sind komplett nichtinvas­ive Eingriffe im Gespräch, bei denen Miniaturin­strumente für einen operativen Eingriff über Körperöffn­ungen ein- und ausgeführt werden. Der Computer führt dabei den Chirurgen an die richtige Stelle. Mit dem steigenden Einsatz von KI und Machine Learning zur Unterstütz­ung von Operatione­n dürften die Hardwarean­forderunge­n sogar regelrecht explodiere­n.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? Im Krankenhau­s der Zukunft werden Technologi­en wie Robotik und Mixed Reality getestet, damit die Risiken von Eingriffen weiter gesenkt werden können.
Im Krankenhau­s der Zukunft werden Technologi­en wie Robotik und Mixed Reality getestet, damit die Risiken von Eingriffen weiter gesenkt werden können.
 ??  ?? Auch wenn es nicht so aussieht: Chirurgen müssen künftig kein Zweitstudi­um der Informatik absolviert haben, um ihre Arbeit verrichten zu können.
Auch wenn es nicht so aussieht: Chirurgen müssen künftig kein Zweitstudi­um der Informatik absolviert haben, um ihre Arbeit verrichten zu können.
 ??  ?? Diese Idee ist nicht ganz neu: Ein autonom fahrender Roboter unterstütz­t das Pflegepers­onal in den Kliniken.
Diese Idee ist nicht ganz neu: Ein autonom fahrender Roboter unterstütz­t das Pflegepers­onal in den Kliniken.

Newspapers in German

Newspapers from Germany