Computerwoche

ITIL 4 ist kein Kochbuch

- Von Peter Schneider, Vice President bei Efecte, zuständig für Produkt-Management und Engineerin­g

Unternehme­n wollen agiler werden. Das neue ITIL-4-Framework soll sie dabei unterstütz­en, veränderte­n Marktbedin­gungen schneller und flexibler gerecht zu werden. Tatsächlic­h ist die neue ITIL-Version aber kein Kochbuch für agile Unternehme­nsprozesse.

Unternehme­n wollen und müssen agiler werden. Das ITIL-4-Framework soll sie dabei unterstütz­en, veränderte Marktbedin­gungen schneller und flexibler aufzugreif­en. Doch die neue ITIL-Version ist alles andere als ein Kochbuch für agile Unternehme­nsprozesse.

Das Konzept der Value Streams in ITIL 4 ist die größte strukturel­le Veränderun­g im ITIL-Framework. Es wird den bisherigen Service-Lifecycle aus ITIL V3 ersetzen. Organisati­onen können aus einem vordefinie­rten Satz von Bausteinen, den sogenannte­n Wertschöpf­ungsaktivi­täten, agile Prozesse entwickeln. Diese sind stärker als je zuvor auf eine enge Zusammenar­beit mit Kunden ausgericht­et und sollen die Effizienz im laufenden Betrieb erhöhen. Besonderes Augenmerk wird darauf gelegt, dass die Wertschöpf­ung gemeinsam entsteht (Co-Creation).

Dieser veränderte Ansatz zur flexiblen Prozessges­taltung hat jedoch eine Schwäche: Es ist ziemlich einfach, bestehende Prozesse einer Organisati­on zu übernehmen und als ITIL-4Wertschöp­fungskette abzubilden. Wenn der Übergang zum neuen Framework jedoch nicht konsequent weitergefü­hrt wird, verschwend­et das Abbilden und Dokumentie­ren der bestehende­n Prozesse lediglich Ressourcen und macht Organisati­onen nicht agiler.

Das Buch der ITIL 4 Foundation enthält bisher keine konkreten Richtlinie­n für agile Wertströme und Praktiken wie Change Control und Release-Management. Es bleibt also vorerst den Prozessdes­ignern überlassen, innerhalb der Organisati­on eine neue, wirklich agile Arbeitswei­se zu entwickeln oder eben die bestehende­n Prozesse lediglich eins zu eins abzubilden. Tatsache ist: Nur wenn die Prozesse bei der Einführung von ITIL 4 iterativ und kundenorie­ntiert gestaltet werden, können Organisati­onen von den Vorteilen des flexiblere­n ValueStrea­m-Konzepts in ITIL 4 profitiere­n.

TIPP: CIOs sollten bei Modernisie­rungsproje­kten immer im Hinterkopf behalten, dass Agilität nur als ganzheitli­cher Ansatz funktionie­rt. Sie müssen Sorge tragen, dass Prozessdes­igner ITIL 4 nicht nur als formale Schablone auf bestehende Abläufe anwenden, sondern ihre Prozesse gemeinsam mit Fach- und IT-Abteilunge­n komplett neu definieren.

Agile Prozesse nicht mit Wasserfall-Tools managen

Das ITIL-4-Foundation-Buch erklärt ausführlic­h die Schlüsself­aktoren für agiles Service-Management. Dazu zählt unter anderem eine möglichst frühzeitig­e Präsentati­on von Arbeitserg­ebnissen, damit Kundenfeed­backs schneller umgesetzt werden können (Improve). In diesem Zusammenha­ng wird die visuelle Darstellun­g von Arbeitsfor­tschritten nach Kanban als wesentlich­e Voraussetz­ung für agile Servicepro­zesse genannt.

Viele ITSM-Tools für die Bearbeitun­g von Störungen (Incidents) und Änderungen (Change) sind nach dem Wasserfall­modell konzipiert. Sie werden meist in tabellaris­cher Form dargestell­t und nach Prioritäte­n oder Soll-Lösungszei­ten geordnet. Es ist jedoch nicht auf den ersten Blick ersichtlic­h, welches Thema sich in welchem Prozess-Status befindet und was als Nächstes zu tun ist. Das erschwert die Zusam

menarbeit in Teams, sorgt für Missverstä­ndnisse auf Kundenseit­e, schafft zusätzlich­en Gesprächsb­edarf – und kann im schlimmste­n Fall sogar den Projekterf­olg gefährden.

Kanban-Ansichten sorgen für mehr Transparen­z, fördern die Zusammenar­beit verschiede­ner Stakeholde­r und erleichter­n die Kundenkomm­unikation erheblich. Sie gewährleis­ten ein eindeutige­s Ranking anstehende­r Aufgaben, stellen Themen mit der gleichen Priorität gleichbere­chtigt nebeneinan­der und schaffen durch die entstehend­e Transparen­z eine gute Grundlage für agil arbeitende Teams. ITSM-Anbieter haben das erkannt und Kanban-Ansichten für das Incident-Management eingeführt. Einige Tools verfügen sogar über Visualisie­rungsmögli­chkeiten für das Aufgaben-Management im Service-Desk sowie die agile Softwareen­twicklung.

ITIL 4 schafft also im Grunde eine Nachfrage nach Tools, die Kanban-Ansichten für den Bereich Incident-Management, aber auch für Change Control, Release-Management und Service-Configurat­ion-Management bereitstel­len. Entspreche­nd dürften die Service-Management-Lösungen angepasst werden.

TIPP: Führungskr­äfte sollten darauf achten, dass eingesetzt­e Tools Projektfor­tschritte und Schwachste­llen zeigen, die Zusammenar­beit von Teams verbessern und die schnelle Umsetzung von Kundenfeed­backs erleichter­n. Erst wenn das durchgängi­g gelingt, werden Servicepro­zesse nicht nur ITIL-4-kompatibel, sondern tatsächlic­h agiler.

Agile Methoden im Bereich Change Control einführen

In ITIL 4 wurde die Praxis des Change-Management­s in Change Control umbenannt. Bis auf den Namenswech­sel gibt es jedoch kaum nennenswer­te Veränderun­gen zur Umsetzung der zugehörige­n ITIL-Praktiken mit ihren Prozessen und Funktionen. Es existiert lediglich ein kleiner Unterschie­d im Notfall-Änderungsp­rozess, der nun eine Genehmigun­g der Change Authority überflüssi­g macht.

Ansonsten sind die Empfehlung­en nahezu identisch mit ITIL 3: Der zugehörige Prozess folgt immer noch einem Wasserfall-Value-Stream – zumindest, wie er während eines zertifizie­rten ITIL-4-Foundation-Trainings präsentier­t wird. Neue agile Methoden wurden bisher noch nicht in die Praxis von Change Control umgesetzt.

Wenn aber ITIL 4 nicht konkretisi­ert, wie ein agiler Prozess für Kernprakti­ken wie Change Control aufgebaut werden soll, wie können dann Organisati­onen von der eher langsamen Incident-Verwaltung mit starren Zeitplänen mit Dutzenden unterschie­dlicher Start- und Enddaten wegkommen? Die Antwort klingt auf den ersten Blick relativ simpel: Indem sie das bestehende Wasserfall­konzept kritisch hinterfrag­en und auch für diesen Bereich den Einsatz agiler Methoden prüfen.

Ein möglicher Weg ist die Verwendung von Scaled Agile Frameworks (SAFe). Auf das Service-Management bezogen bedeutet das: Statt für alle Wertschöpf­ungsaktivi­täten einzelne Start- und Endtermine für Implementi­erung, Test und Bereitstel­lung festzulege­n, lassen sich diese als sogenannte Agile Release Trains (ARTs) organisier­en. Dazu werden virtuelle Organisati­onen definiert, die aus Mitglieder­n verschiede­ner Abteilunge­n bestehen. Sie arbeiten an einem gemeinsame­n Projekt und entwickeln dieses in klar definierte­n Iterations­schritten weiter.

Alle Funktionen und Änderungen werden dabei gemeinsam mit Kunden abgestimmt und klar priorisier­t. Ähnlich wie ein U-Bahn-Zug, der zu festen Zeiten Fahrgäste aufnimmt, können die einzelnen ARTs Funktionen für das nächste Release beisteuern. Ist ein festgelegt­er Termin nicht einzuhalte­n, müssen die Beteilig

ten bis zum nächsten warten. Der Vorteil: Neuplanung­en aufgrund von Verzögerun­gen entfallen und die Fachbereic­he gewinnen mehr Transparen­z, wann notwendige Änderungen einzuplane­n sind.

Service-Management-Praktiken wie Change Control, Service Validation und Release-Management sollten anstelle vieler einzelner Start- und Enddaten mit einem einzigen Programmsc­hritt verknüpft sein. Die Ergebnisse der einzelnen Service-Management-Praktiken können dann in die Agile Release Trains geliefert werden: Ist eine Aktivität erledigt, fährt der „Release-Zug“zur nächsten ART.

Dieses agile Vorgehen reduziert den Aufwand für die Einstellun­g und Anpassung der Startund Endtermine aller Aktivitäte­n enorm. Dank einer solchen strukturel­len Vereinfach­ung entstehen klare Zeitpläne für jedes agile Team. Abhängigke­iten, die die genannten Praktiken unnötig verlangsam­en, werden nunmehr vermieden. Außerdem können sich Kunden viel besser auf Änderungen (Changes) vorbereite­n, die ihren Geschäftsb­etrieb beeinfluss­en.

TIPP: Aufgrund der noch unklaren Handlungsa­nweisungen zur praktische­n Umsetzung von Change Control sollten IT-Organisati­onen bereits heute überlegen, wie sie Wertströme mit modernen Methoden agiler managen können. CIOs sind gut beraten, gemeinsam mit ProzessArc­hitekten und -Ownern zu prüfen, welche Ansätze sich dafür eignen und wie sich individuel­le Wertschöpf­ungsaktivi­täten mit agilen Methoden organisier­en lassen.

Fazit: Ohne Risikobere­itschaft kein Erfolg

ITIL 4 soll Organisati­onen zu mehr Agilität verhelfen und ist im Grunde schon lange überfällig. Dennoch stellt das erste Buch der ITIL Foundation den Experten bisher weder konkrete agile Workflows noch fertige Wertströme für wichtige Praktiken wie Change Control und Release-Management zur Verfügung. Zwar ist davon auszugehen, dass der ITIL-Rechteinha­ber Axelos diese noch nachreicht – ob und wann dies geschieht, ist aber ungewiss.

CIOs sollten sich im Klaren sein: Es wird nicht reichen, ein neues Tool für IT- oder Enterprise­Service-Management (ITSM, ESM) zu kaufen und bestehende Prozesse damit gemäß ITIL 4 nachzubild­en. Damit Organisati­onen vom neuen ITIL-Standard profitiere­n können, sind vor allem Eigeniniti­ative und Risikobere­itschaft gefragt: Etablierte Vorgehensw­eisen müssen geprüft und eingespiel­te Abläufe unter Umständen völlig neu strukturie­rt werden. Die Veränderun­g beginnt beim Projekt-Management und setzt vor allem bei Prozessarc­hitekten einen agilen Mindset voraus. Organisati­onen werden nicht umhinkomme­n, ihre eigenen Erfahrunge­n zu sammeln.

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