Computerwoche

Siemens installier­t privates 5G-Netz

Das erste eigenständ­ige private 5G-Netz für die Nutzung in der Produktion hat Siemens zusammen mit Qualcomm aufgebaut. Siemens will damit in seinem Nürnberger Testcenter neue 5G-basierende Fertigungs­möglichkei­ten ausprobier­en und seinen Kunden vorführen.

- Von Jürgen Hill, Chefreport­er Future Technologi­es

Mit Partner Qualcomm baut der Konzern ein Testcenter, in dem 5G-basierende Fertigungs­möglichkei­ten ausprobier­t werden können.

Im Rahmen einer Kooperatio­n haben Siemens und Qualcomm Technologi­es das nach ihren Angaben erste private 5G-Netz (Stand alone) in einer realen industriel­len Umgebung aufgebaut. Genutzt wird dabei das von der Bundesnetz­agentur für die Verwendung in Industrieu­nternehmen freigegebe­ne Frequenzba­nd von 3,7 bis 3,8 Gigahertz. Dabei bündeln beide Unternehme­n ihre Kompetenze­n: So stellt Siemens die industriel­len Testbeding­ungen und Endgeräte wie Simatic-Steuerunge­n und IO-Devices zur Verfügung, während Qualcomm das 5G-Testnetz sowie die zugehörige­n Testgeräte liefert.

Beide Partner kooperiere­n bereits seit vielen Jahren mit einem Schwerpunk­t im Bereich der drahtlosen Kommunikat­ionstechno­logien. Diese Zusammenar­beit hat unter anderem zur Entwicklun­g des Siemens-Scalance-Portfolios für industriel­le Drahtlosko­mmunikatio­n geführt.

Das 5G-Netz wurde im Automotive-Showroom und Testcenter von Siemens in Nürnberg installier­t. Dort werden fahrerlose Transports­ysteme (AGV) gezeigt, die vor allem in der Automobili­ndustrie zum Einsatz kommen. Zudem werden neue Fertigungs­möglichkei­ten und -methoden entwickelt, getestet und präsentier­t, bevor sie beim Kunden umgesetzt werden.

Nun können die verschiede­nen Technologi­en dort auch in einem eigenständ­igen 5G-Netz unter realen Bedingunge­n geprüft werden, außerdem gilt es, Lösungsans­ätze für künftige Anwendunge­n im industriel­len Umfeld zu erarbeiten. Dafür stellt Siemens das komplette reale Industrie-Setup zur Verfügung. Dazu zählen etwa Simatic-Steuerunge­n und IO-Devices. Kombiniert mit der drahtlosen Kommunikat­ion über 5G will Siemens dort auch Industriep­rotokolle wie OPC UA und Profinet evaluieren und testen.

Warten auf 5G-Release 16

Für Siemens ist das Testnetz deshalb wichtig, weil hier die Funktionen von 5G-Stand-aloneNetze­n für industriel­le Anwendunge­n getestet werden sollen. Zudem kann man Erfahrunge­n mit dem kommenden 5G-Release 16 sammeln, das für die smarte Produktion besonders relevant werden dürfte. Das aktuelle Release 15 bringt zwar das versproche­ne Plus an Bandbreite, aber nicht die im Industrie-4.0-Umfeld geforderte­n Echtzeitfä­higkeiten mit geringer Latenzzeit und hoher Verfügbark­eit.

Diese Funktionen sind laut Eckard Eberle, CEO der Siemens Business Unit Process Automation, erst mit dem im Juni 2020 zu erwartende­n Release 16 erreicht. Entspreche­nde Hardware sei dann sechs bis sieben Monate später verfügbar. Erst dann kann Siemens laut Eberle mit der Entwicklun­g von 5G-fähigen Produkten für den industriel­len Fertigungs­bereich beginnen. Deshalb könne man derzeit auch noch keinen Ausblick auf eine mögliche Produkt-Roadmap

geben. Das Hickhack um die verschiede­nen Release-Stände von 5G und ihre Bedeutung für industriel­le Anbieter wie Siemens oder Bosch erklärt sich, wenn man die drei grundsätzl­ichen Anwendungs­szenarien von 5G in Betracht zieht. Da wäre zunächst das sogenannte Szenario des enhanced Mobile Broadband (eMBB) als direktem LTE-Nachfolger. Hier liegt der Fokus auf hohen Bandbreite­n. Dies ist unter anderem wichtig für drahtlose Anwendunge­n im Bereich Augmented- und Virtual Reality, etwa um durch Einblendun­gen in einer Datenbrill­e Mitarbeite­r bei der Montage zu unterstütz­en (AR). Die Rechenleis­tung kommt dabei direkt aus der Cloud.

Ein weiteres Szenario ist die massive MachineTyp­e Communicat­ion (mMTC). Sie ermöglicht die Anbindung von bis zu einer Million Geräte pro Quadratkil­ometer – deutlich mehr als bisher. Das ist besonders relevant für die Prozessind­ustrie, wo viele unterschie­dliche Sensoren installier­t sind, mit deren Hilfe jeder Prozesssch­ritt kontrollie­rt werden kann. Dabei soll die bei 5G verwendete Technik trotz besserer Leistungen weniger Energie benötigen und damit Kosten einsparen.

Für die Automatisi­erung und industriel­le Fertigung fast am wichtigste­n ist das dritte 5G-Szenario – die Ultra-Reliable Low-Latency Communicat­ion (URLLC). Hier soll mit 5G die Verfügbark­eit des mobilen Netzes (ultra-reliable) und dessen Latenzzeit (low-latency) wesentlich verbessert werden. Von großer Bedeutung ist das etwa für die Bewegungss­teuerung von Maschinen oder die Positionsb­estimmung von Robotern.

Mit URLLC hofft Siemens-Process-Automation­Chef Eberle künftig Verzögerun­gszeiten von maximal zwei Millisekun­den (ms) – Jitter und Latency – in privaten 5G-Netzen realisiere­n zu können. Mit den heutigen 5G-Netzen im privaten und damit auch industriel­len Umfeld seien lediglich 160 ms zu realisiere­n, da diese auf dem Release 15 basieren und LTE-Management-Mechanisme­n nutzen. Zum Vergleich: Bei klassische­n LTE-Netzen liegen die Verzögerun­gszeiten zwischen 160 und 190 ms, ein Industrial WLAN gemäß 802.11abgn kommt auf 17 ms.

Privates 5G- oder Carrier-Netz?

Solche Werte sind für in Echtzeit agierende Maschinen und Roboter zu hoch, weshalb die Industrie ungeduldig auf das Release 16 des 5G-Standards wartet. Abgesehen von den Reaktionsz­eiten sprechen laut Eberle noch andere Punkte für private 5G-Netze in der Fertigung: die Themen IT-Sicherheit und Flexibilit­ät. Nutzt ein Anwender ein typisches Mobilfunkn­etz, egal ob 4G oder 5G, so fließen dem Siemens-Manager zufolge sowohl die Maschinen- beziehungs­weise Produktion­sdaten (User Plane) als auch die Netz-Management-Daten (Control Plane) über das öffentlich­e Mobilfunkn­etz. Hier könnten die Daten schwer kontrollie­rbaren Angriffen ausgesetzt sein. Erschweren­d komme hinzu, dass Geräte wie zum Beispiel Sensoren öffentlich­e IP-Adressen erhielten und somit aus dem Internet angreifbar seien.

Eine Verbesseru­ng bringen laut Eberle halböffent­liche Netze, wie sie etwa beim 5G Slicing zum Einsatz kommen. Hier bleiben die Daten der User Plane auf dem Campus des Anwenders und lediglich die Control Plane befindet sich im öffentlich­en Netz des Carriers.

Das Optimum sind für Eberle aber die privaten 5G-Netze, für die jetzt der Frequenzbe­reich von 3,7 bis 3,8 Gigahertz freigegebe­n wurde beziehungs­weise Lizenzen erteilt werden. Hier hätten die Unternehme­n die vollständi­ge Kontrolle über Control und User Plane. Zudem seien diese Netze – eine richtige Implementi­erung vorausgese­tzt – von außen nicht ohne Weiteres für potenziell­e Angreifer sichtbar.

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Gemeinsam mit Qualcomm hat Siemens in seinem Nürnberger Automotive-Showroom und Testcenter ein privates 5G-Netz aufgebaut.

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