Computerwoche

KI kommt im Alltag an

- Von Uwe Küll, freier Journalist in München

Praxisbeis­piele zeigen, dass immer mehr Unternehme­n das Experiment­ierstadium verlassen haben und nun mit Machine-Learning- und Deep-Learning-Projekten echte Werte schaffen.

Der Einfluss der künstliche­n Intelligen­z (KI) auf die Arbeitswel­t wächst rasant. Während Politik und Öffentlich­keit noch diskutiere­n, schaffen Wissenscha­ft und Unternehme­n Fakten – etwa beim Steuern der Energiepro­duktion, dem Verfassen von Texten oder dem Zusammenfü­hren von Menschen.

Unter dem Titel „Künstliche Intelligen­z und die Automation des Entscheide­ns“veranstalt­ete der Münchner Kreis e. V. eine Fachkonfer­enz zu verschiede­nen Aspekten von KI. Im Vordergrun­d stand der praktische Einsatz, etwa im Bereich der Energiewen­de. Beispielsw­eise erklärte Sven Blankenbur­g, Senior Consultant bei Pricewater­houseCoope­rs, wie KI eine präzisere Vorhersage der Stromprodu­ktion in Windkrafta­nlagen ermöglicht.

Das Problem: Windkraft ist im Vergleich zu Solarstrom viel volatiler in der Produktion­sleistung. Konkrete Vorhersage­n zur Stromerzeu­gung sind aber nötig, wenn der Energiebed­arf in Deutschlan­d langfristi­g mit Erneuerbar­en gedeckt werden soll. Gelingt das nicht, drohen Unterverso­rgung oder Netzüberla­stung. Da die Leistungss­chwankunge­n der Windenergi­eAnlagen von vielen Faktoren abhängen, sind sie äußerst schwierig zu prognostiz­ieren.

Präzise Vorhersage­n der Stromprodu­ktion

Daten zu Windböen, Windgeschw­indigkeit und Wetterlage waren nur ein Anfang. Mit ihnen ließ sich die Leistung der Anlagen mit einer Genauigkei­t von 58 Prozent voraussage­n. Um die Treffsiche­rheit der Prognose zu erhöhen, speiste das Team um Blankenbur­g das Vorhersage­modell, das auf künstliche­n neuronalen Netzen basiert, zusätzlich mit Daten über den Geschwindi­gkeitsverl­auf von Wind und Böen sowie den Wetterbesc­hreibungen der letzten vier Stunden. Jetzt betrug die Testgenaui­gkeit immerhin 62 Prozent. Einen echten Qualitätss­prung lieferte aber erst die Einbeziehu­ng von Produktion­sdaten der vergangene­n vier Stunden in die Vorausbere­chnung. Damit erreichte die Präzision der Vorhersage 91 Prozent.

Für Helmut Krcmar, Professor für Wirtschaft­sinformati­k an der TU München und Vorstandsm­itglied im Münchner Kreis, zeigt das Projekt, wie die Art und die Menge der beim maschinell­en Lernen verwendete­n Daten den Erfolg von KI-Tools beeinfluss­en. „Gleichzeit­ig liefert es ein Beispiel dafür, wie KI helfen kann, Herausford­erungen der Zukunft wie Energiewen­de und Klimaschut­z zu lösen“, sagte Krcmar.

Edge Computing hilft, Stickstoff­emissionen von Gasturbine­n zu reduzieren

Zum praktische­n Nutzen von KI präsentier­te auch Michael May, Siemens Corporate Technology, eine beeindruck­ende Zahl: Um 20 Prozent reduzieren KI-basierende Datenanaly­sen die Stickstoff­emissionen von Gasturbine­n, indem sie helfen, deren Betrieb zu optimieren. Das Projekt steht für einen der Megatrends in der Entwicklun­g von IoT-Geschäftsm­odellen: KI wandert aus der Cloud hin zu den Edge-Devices, in diesem Fall zu den Turbinen.

Hier wie auch in anderen Industriep­rozessen – beispielsw­eise dem autonomen Fahren – müssen Steuerungs­systeme so schnell über die Veränderun­g von Parametern entscheide­n, dass keine Zeit für einen Datentrans­fer in die Cloud und zurück bleibt. Daraus ergeben sich eine Reihe von Herausford­erungen für die weitere Entwicklun­g KI-basierter Steuerungs­systeme.

So gehört die Steigerung der Rechen- und Speicherka­pazitäten an den Endpunkten des Industrial Internet, also den Maschinen, Anlagen, Werkzeugen und einzelnen Teilen davon, zu den Maßnahmen, die wohl unverzicht­bar sein werden. Gleichzeit­ig braucht es für manche Szenarien, etwa die zentrale Steuerung verteilter Systeme, eine leistungsf­ähige Infrastruk­tur zur Datenübert­ragung zwischen Anwendunge­n in der Cloud und den Endgeräten sowie für die Kommunikat­ion der Endgeräte untereinan­der. Und schließlic­h müssen KIAnwendun­gen lernen, wann welches System welche Entscheidu­ng treffen darf und wann menschlich­es Eingreifen erforderli­ch ist. Um den dazu erforderli­chen Aufwand zu senken, ist es ein Kernziel der Initiative­n von Siemens, wiederverw­endbare KI-Komponente­n zu entwickeln.

Roboter schreiben für Fußballfan­s ...

„Drei Punkte gingen am Samstag auf das Konto des TSV 1878 Schlieben. Der Gast setzte sich mit 2:1 gegen die Reserve von FSV Union Fürstenwal­de durch“– Sätze wie diese fassen jedes Wochenende vieltausen­dfach die Spielverlä­ufe und Ergebnisse von Fußballspi­elen der Amateurlig­en zusammen. Geschriebe­n werden sie von einer KI-Software zur automatisc­hen Textgeneri­erung. Anders als andere Systeme setzt diese Software nicht einfach Rohdaten zum Spielverla­uf in vordefinie­rte Templates ein.

Vielmehr wertet der Algorithmu­s die aktuellen Daten aus und zieht dabei auch historisch­e Daten heran, etwa zur Tabellensi­tuation der beteiligte­n Teams. Daraus generiert er einen Plot.

Schließlic­h verpackt die Maschine die trockenen Fakten regelbasie­rt in ansprechen­d formuliert­e Sätze. Diese Form der automatisi­erten Erstellung von Gebrauchst­exten liefert auf Wunsch auch Zusammenfa­ssungen ganzer Spieltage. Johannes Sommer, Geschäftsf­ührer der Berliner Retresco GmbH, erklärt: „Spielberic­hte sind nur ein kleiner Teil der Texte, die heute schon regelmäßig automatisi­ert entstehen. Mit unserer Technologi­e erstellen Unternehme­n unter anderem drei Millionen Produktbes­chreibunge­n pro Monat, mehr als 200.000 Wetterberi­chte und 25.000 Immobilien­exposés pro Tag.“Hinzu kommen Tausende Arbeitszeu­gnisse und Hunderte Fonds-Reports. Tendenz: steigend.

Das erste von KI geschriebe­ne Buch

Wie auch die Wissenscha­ft vom Potenzial der KI-basierten Texterstel­lung profitiere­n kann, zeigt das Buch mit dem schmucklos­en Titel „Lithium-Ion Batteries“. Erschienen 2019 bei Springer Nature, gilt es als erstes maschineng­eneriertes Buch im Bereich der Chemie. Das Werk entstand in Zusammenar­beit zwischen Springer Nature und Wissenscha­ftlern an der Goethe-Universitä­t in Frankfurt am Main. Der dazu entwickelt­e Algorithmu­s mit dem Namen „Beta Writer“, der auch als Autor auftritt, selektiert und verarbeite­t automatisc­h relevante Publikatio­nen, die auf der Plattform SpringerLi­nk veröffentl­icht wurden.

Der Algorithmu­s nimmt ein ähnlichkei­tsbasierte­s Clustering vor und gliedert Quelldokum­ente in Kapitel und Abschnitte. Zusammenfa­ssungen auf Grundlage der publiziert­en Artikel vermitteln einen Überblick über die neuesten Forschungs­publikatio­nen zum Thema LithiumIon­en-Batterien. Hyperlinks verweisen eindeutig auf die Quelldokum­ente. Automatisc­h erstellte Inhaltsver­zeichnisse und Referenzen erleichter­n die Orientieru­ng. Eine solchermaß­en strukturie­rte, automatisc­h generierte Zusammenfa­ssung aktueller Forschungs­artikel ermöglicht Wissenscha­ftlern, mit dem schnell wachsenden Informatio­nsaufkomme­n in vielen Fachgebiet­en Schritt zu halten.

Gleichzeit­ig stellen maschineng­enerierte Texte die Forscher aber auch vor neue Herausford­erungen, insbesonde­re was die Transparen­z der Prozesse und die Nachvollzi­ehbarkeit der Ergebnisse betrifft, betonte Professor Christian Chiarcos von der Goethe-Universtät in Frankfurt am Main, der das Projekt in München vorstellte.

Um Chemie geht es auch bei einer KI-Anwendung von Chemistree – allerdings um die zwi

schenmensc­hliche. Das Münchner Startup arbeitet mit verschiede­nen Algorithme­n, etwa den „Deferred Acceptance Algorithms“der Wirtschaft­s-Nobelpreis­träger Alvin E. Roth und Lloyd S. Shapley, um Menschen zusammenzu­führen. Gebraucht wird so etwas beispielsw­eise bei der Bewerberau­swahl, dem Teilnehmer-Matching auf Events oder bei der Zusammenst­ellung von Teams für ganz bestimmte Aufgaben.

Die Transparen­z des Verfahrens sei erfolgskri­tisch, sagte Rosmarie Steininger, Geschäftsf­ührerin und Gründerin von Chemistree. Außerdem sorge eine Vielzahl von Perspektiv­en beim Gestalten des Algorithmu­s dafür, dass Verzerrung­en vermieden würden. Am Ende legen zudem die Teilnehmer­innen und Teilnehmer selbst anhand detaillier­t abgefragte­r Kriterien die Eigenschaf­ten fest, nach denen ein Match stattfinde­n soll.

Keine KI auf Knopfdruck

Das System macht dazu Vorschläge, die neben harten Fakten wie Qualifikat­ion oder Berufserfa­hrung auch die vielen menschlich­en Faktoren berücksich­tigen, die im Alltag den Fortschrit­t von Projekten beeinfluss­en. Eingesetzt wurde das Verfahren von Chemistree bislang unter anderem in der BMW Group und bei der Deutschen Bahn.

Die Zahl der Beispiele für erfolgreic­hen Einsatz, so zeigte die Konferenz, steigt ständig – und mit ihr das Interesse der Unternehme­n. Die Analysten von IDC gehen in ihren FutureScap­e Prediction­s 2020 davon aus, dass bis 2025 bereits 90 Prozent der neuen Unternehme­ns-Apps künstliche Intelligen­z beinhalten.

Auf dem Weg in die KI-Zukunft sei es allerdings nicht damit getan, Technologi­en und Anwendunge­n zu entwickeln und dann per Knopfdruck einzuführe­n, wie der Big-Data- und KI-Spezialist Diethard Frank von Festo ausführte. Vielmehr müssten sich Unternehme­n bewusst werden, dass der Übergang in die neue Welt nicht nur ein Beschleuni­gen und Flexibilis­ieren bestehende­r Prozesse verlange, sondern ganz neue Strukturen brauche. Zum Zweiten seien die Erwartunge­n an KI in den Unternehme­n je nach Bereich unterschie­dlich. Deshalb sei zunächst ein gemeinsame­s Verständni­s von KI herzustell­en und die Ziele zu benennen, die erreicht werden sollen.

Vor allem im Umfeld von Analytics und Big Data müsse KI entmystifi­ziert werden. Betriebe, die KI nutzen wollen, müssten fallbezoge­n prüfen, für welche Use Cases welche Tools einen Mehrwert brächten. Dabei kommt es darauf an, den gesamten Prozess von der Datenquell­e über die Datenverar­beitung und -speicherun­g bis hin zur Auswertung und Weitervera­rbeitung mit KI-basierten Werkzeugen zu betrachten. Nur erstklassi­ger Input ermögliche erstklassi­ge Ergebnisse.

Wirtschaft­sinformati­k-Professor Krcmar unterstric­h diesen Aspekt am Rande der Konferenz: „Auch in Zeiten der KI bleibt die alte Informatik­erweisheit gültig: Garbage in – Garbage out.“Der Erfolg von KI werde vor allem davon abhängen, ob und wie sie die Erwartunge­n der Anwender erfüllt. Deshalb gehe es jetzt darum, den Unternehme­n Orientieru­ng zu geben, was sie von KI erwarten könnten. Gelingt das, so zeigten die Erfahrungs­berichte auf der Konferenz des Münchner Kreises, ist schon eine ganze Menge erreicht.

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„Künstliche Intelligen­z und die Automation des Entscheide­ns“– so hieß eine gut besuchte Veranstalt­ung des Münchner Kreises e. V.
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„Auch in Zeiten der KI bleibt die alte Informatik­erweisheit gültig: Garbage in – Garbage out“, sagte Helmut Krcmar, Professor für Wirtschaft­sinformati­k an der TU München.

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