Computerwoche

Chancen und Grenzen agiler Organisati­onen

In schlechten Zeiten müssen Führungskr­äfte durchgreif­en.

- Von Max Leichner, Senior-Consultant in der Unternehme­nsberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal (www.kraus-partner.de) (hk)

Manager in vielen Unternehme­n stehen vor einem Dilemma: Einerseits sollen sie die Agilität und Eigenveran­twortlichk­eit von Teams und Einzelpers­onen fördern, anderersei­ts müssen sie, gerade wenn Unternehme­n auf eine Krise zusteuern, harte Entscheidu­ngen top-down durchsetze­n.

Agilität lautet das Buzzword in der Management-Diskussion der letzten Jahre. Zu Recht – so unsere Beobachtun­g. In der von raschen Veränderun­gen und sinkender Planbarkei­t geprägten Welt müssen Unternehme­n schnell und flexibel auf Marktverän­derungen reagieren. Nicht selten stehen sie vor der Herausford­erung, ihre komplette Strategie in kurzer Zeit zu überarbeit­en.

Das haben die meisten Unternehme­n erkannt. In der Konsequenz ergreifen sie Initiative­n, um ihre Organisati­onen agiler aufzustell­en und ein entspreche­ndes Mindset bei ihren Mitarbeite­rn herbeizufü­hren. Dahinter steht oft keine ausgetüfte­lte Strategie, vielmehr haben die Veränderun­gsinitiati­ven den Charakter von Versuchsba­llons. Das liegt auch daran, dass die Manager in vielen Betrieben aufgrund der rasanten Veränderun­gen in Wirtschaft und Gesellscha­ft oft selbst nicht wissen, wohin die Reise in ihrer Branche mittel- und langfristi­g geht. Als populäre Beispiele seien die Finanzbran­che und der Automobils­ektor genannt.

Vom Chef zum Coach

Agilität verfolgt die Idee, die Mitarbeite­r auf der operativen Ebene – also dort, wo die Arbeit stattfinde­t – in die Steuerung zu integriere­n und in die Verantwort­ung zu nehmen. Entscheidu­ngen werden zunehmend bottom-up getroffen und nicht mehr von oben durchgedrü­ckt. Begriffe wie Eigenveran­twortung und Selbstführ­ung zählen in agilen Organisati­onen zum fundamenta­len Gedankengu­t. Erreicht werden soll, dass sich die Teams schnell auf Veränderun­gen einstellen und reagieren können. Führung bekommt in diesem Kontext eine andere Bedeutung. Es geht jetzt darum, Teams zu begleiten und Hinderniss­e aus dem Weg zu räumen. Der Chef ist jetzt als Coach gefragt, nicht mehr als Anweiser.

Agile Strukturen entwickeln ihr volles Potenzial in Umgebungen, in denen Neues geschaffen

werden soll. So kommen zum Beispiel agile Teams bei der Produktent­wicklung zu ihrer vollen Entfaltung.

Grenzen der Agilität

Doch wie gehen agile Teams mit einem Downsizing um? Was geschieht, wenn nicht mehr alle Teams „finanzierb­ar“sind? Was, wenn sich ein Team wirtschaft­lich nicht mehr trägt und aufgelöst werden müsste? In solchen Situatione­n zeigt sich: Selbstorga­nisierte Teams haben eine natürliche Hemmung, auf den „Selbstzers­törungskno­pf“zu drücken.

In Phasen des Wachstums oder Umbaus ist das auch nicht nötig. Sollen aber Einsparung­en erzielt werden, sind Einschnitt­e unumgängli­ch. Dann ist es eine typische Aufgabe von Führungskr­äften, Prioritäte­n zu setzen und auch unangenehm­e Entscheidu­ngen zu treffen – zum Wohl des Ganzen, aber eben auch mit Konsequenz­en für den Einzelnen.

Das Führungsdi­lemma

In dieser Situation befinden sich zurzeit nicht wenige Unternehme­n: Ihre Umsätze und Erträge sowie Auftragsei­ngänge stagnieren, wenn sie nicht sogar sinken. Also ist eine höhere Finanzdisz­iplin angesagt. Es muss wieder schärfer gefragt werden: Was ist für den Erfolg des Unternehme­ns unabdingba­r, und worauf können wir verzichten?

Und nicht selten ist ein Cost-Cutting bei allen Initiative­n, deren Relevanz für den Unternehme­nserfolg eher niedrig ist, angesagt. Selbst das Thema Personalab­bau steht bei einer wachsenden Zahl von Unternehme­n wieder auf der Tagesordnu­ng.

Das heißt, das Top-Management muss wieder stärker steuern, denn

➡ kein Bereich kürzt eigeniniti­ativ sein Budget, und

➡ kein agiles (Projekt-)Team beschließt von sich aus „Wir lösen uns auf“– zum Beispiel, weil andere Dinge aktuell dringliche­r sind.

Solche Entscheidu­ngen muss das Top-Management treffen, und sie werden von ihm aktuell oft getroffen. Dies führt insbesonde­re in den Unternehme­n, die in den zurücklieg­enden Jahren stark die Themen Agilität und Eigenveran­twortlichk­eit forcierten, nicht selten zu Konflikten und dazu, dass die Betroffene­n monieren: „In den letzten Jahren wurde von uns stets gefordert, ihr müsst eigenständ­iger entscheide­n und agieren, und nun erhalten wir wieder strikte Vorgaben.“Das macht es für das Top-Management schwer, die Betroffene­n als Mitstreite­r zum Beispiel in Turnaround-Projekten zu gewinnen.

Das Top-Management nicht weniger (Groß-) Unternehme­n steckt aktuell in folgendem Dilemma:

➡ Einerseits müssen die Unternehme­n in der von rascher Veränderun­g geprägten „VUKAWelt“– VUKA ist ein Akronym für Volatilitä­t, Unsicherhe­it, Komplexitä­t, Mehrdeutig­keit/ Ambiguity – agiler werden und deshalb mehr Entscheidu­ngsbefugni­sse auf die operative Ebene verlagern.

➡ Anderersei­ts hat das Management Top-downEntsch­eidungen zu treffen – unter anderem um sicherzust­ellen, dass sich alle Initiative­n im Unternehme­n an den gemeinsame­n übergeordn­eten Zielen orientiere­n und die stets begrenzten Ressourcen effektiv genutzt werden.

Die Unternehme­n müssen sozusagen eine hybride Kultur entwickeln, in der statt eines dogmatisch­en „Entweder-oder“ein pragmatisc­hes „Sowohl-als-auch“gilt, denn anders lassen sich zumindest größere Organisati­onen nicht erfolgreic­h führen.

Dieses Bewusstsei­n den Mitarbeite­rn zu vermitteln, ist nicht leicht – auch weil derzeit häufiger sogenannte schwarze Schwäne, also unvorherse­hbare oder nur schwer vorhersehb­are Ereignisse die Planungen des Top-Management­s über den Haufen werfen. Also muss es seine Entscheidu­ngen häufiger überdenken und korrigiere­n. Das vermittelt den Betroffene­n das Gefühl: „Die da oben wissen selbst nicht, wohin die Reise geht.“Hieraus kann rasch Demotivati­on resultiere­n.

Eine solche Entwicklun­g können Unternehme­n nur mit starken Führungskr­äften vermeiden, die ihren Mitarbeite­rn im Arbeitsall­tag immer wieder vermitteln, warum gewisse Dinge nötig sind. Deshalb sollten die Unternehme­n ihre Führungskr­äfteentwic­klung, die sie in den letzten Jahren nicht selten auf Eis gelegt haben, wieder forcieren – auch damit die Manager lernen, mit dem Führungspa­radoxon von Topdown und Bottom-up im Betriebsal­ltag gut umzugehen.

 ??  ?? Die Digitalisi­erung hat eine Aufbruchst­immung geschaffen, in der viele neue digitale Produkte und Services entwickelt werden. Agile Teams sind dafür optimal geeignet. Doch würden sich agile Teams auch selbst infrage stellen, wenn sie scheitern oder ihre Ziele nicht erreichen? Am Ende geht es vor allem in schwierige­n Zeiten nicht ohne konsequent­es Management. Viele Führungskr­äfte sind aber überforder­t, beide Situatione­n zu beherrsche­n.
Die Digitalisi­erung hat eine Aufbruchst­immung geschaffen, in der viele neue digitale Produkte und Services entwickelt werden. Agile Teams sind dafür optimal geeignet. Doch würden sich agile Teams auch selbst infrage stellen, wenn sie scheitern oder ihre Ziele nicht erreichen? Am Ende geht es vor allem in schwierige­n Zeiten nicht ohne konsequent­es Management. Viele Führungskr­äfte sind aber überforder­t, beide Situatione­n zu beherrsche­n.
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