Chancen und Grenzen agiler Organisationen
In schlechten Zeiten müssen Führungskräfte durchgreifen.
Manager in vielen Unternehmen stehen vor einem Dilemma: Einerseits sollen sie die Agilität und Eigenverantwortlichkeit von Teams und Einzelpersonen fördern, andererseits müssen sie, gerade wenn Unternehmen auf eine Krise zusteuern, harte Entscheidungen top-down durchsetzen.
Agilität lautet das Buzzword in der Management-Diskussion der letzten Jahre. Zu Recht – so unsere Beobachtung. In der von raschen Veränderungen und sinkender Planbarkeit geprägten Welt müssen Unternehmen schnell und flexibel auf Marktveränderungen reagieren. Nicht selten stehen sie vor der Herausforderung, ihre komplette Strategie in kurzer Zeit zu überarbeiten.
Das haben die meisten Unternehmen erkannt. In der Konsequenz ergreifen sie Initiativen, um ihre Organisationen agiler aufzustellen und ein entsprechendes Mindset bei ihren Mitarbeitern herbeizuführen. Dahinter steht oft keine ausgetüftelte Strategie, vielmehr haben die Veränderungsinitiativen den Charakter von Versuchsballons. Das liegt auch daran, dass die Manager in vielen Betrieben aufgrund der rasanten Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft oft selbst nicht wissen, wohin die Reise in ihrer Branche mittel- und langfristig geht. Als populäre Beispiele seien die Finanzbranche und der Automobilsektor genannt.
Vom Chef zum Coach
Agilität verfolgt die Idee, die Mitarbeiter auf der operativen Ebene – also dort, wo die Arbeit stattfindet – in die Steuerung zu integrieren und in die Verantwortung zu nehmen. Entscheidungen werden zunehmend bottom-up getroffen und nicht mehr von oben durchgedrückt. Begriffe wie Eigenverantwortung und Selbstführung zählen in agilen Organisationen zum fundamentalen Gedankengut. Erreicht werden soll, dass sich die Teams schnell auf Veränderungen einstellen und reagieren können. Führung bekommt in diesem Kontext eine andere Bedeutung. Es geht jetzt darum, Teams zu begleiten und Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Der Chef ist jetzt als Coach gefragt, nicht mehr als Anweiser.
Agile Strukturen entwickeln ihr volles Potenzial in Umgebungen, in denen Neues geschaffen
werden soll. So kommen zum Beispiel agile Teams bei der Produktentwicklung zu ihrer vollen Entfaltung.
Grenzen der Agilität
Doch wie gehen agile Teams mit einem Downsizing um? Was geschieht, wenn nicht mehr alle Teams „finanzierbar“sind? Was, wenn sich ein Team wirtschaftlich nicht mehr trägt und aufgelöst werden müsste? In solchen Situationen zeigt sich: Selbstorganisierte Teams haben eine natürliche Hemmung, auf den „Selbstzerstörungsknopf“zu drücken.
In Phasen des Wachstums oder Umbaus ist das auch nicht nötig. Sollen aber Einsparungen erzielt werden, sind Einschnitte unumgänglich. Dann ist es eine typische Aufgabe von Führungskräften, Prioritäten zu setzen und auch unangenehme Entscheidungen zu treffen – zum Wohl des Ganzen, aber eben auch mit Konsequenzen für den Einzelnen.
Das Führungsdilemma
In dieser Situation befinden sich zurzeit nicht wenige Unternehmen: Ihre Umsätze und Erträge sowie Auftragseingänge stagnieren, wenn sie nicht sogar sinken. Also ist eine höhere Finanzdisziplin angesagt. Es muss wieder schärfer gefragt werden: Was ist für den Erfolg des Unternehmens unabdingbar, und worauf können wir verzichten?
Und nicht selten ist ein Cost-Cutting bei allen Initiativen, deren Relevanz für den Unternehmenserfolg eher niedrig ist, angesagt. Selbst das Thema Personalabbau steht bei einer wachsenden Zahl von Unternehmen wieder auf der Tagesordnung.
Das heißt, das Top-Management muss wieder stärker steuern, denn
➡ kein Bereich kürzt eigeninitiativ sein Budget, und
➡ kein agiles (Projekt-)Team beschließt von sich aus „Wir lösen uns auf“– zum Beispiel, weil andere Dinge aktuell dringlicher sind.
Solche Entscheidungen muss das Top-Management treffen, und sie werden von ihm aktuell oft getroffen. Dies führt insbesondere in den Unternehmen, die in den zurückliegenden Jahren stark die Themen Agilität und Eigenverantwortlichkeit forcierten, nicht selten zu Konflikten und dazu, dass die Betroffenen monieren: „In den letzten Jahren wurde von uns stets gefordert, ihr müsst eigenständiger entscheiden und agieren, und nun erhalten wir wieder strikte Vorgaben.“Das macht es für das Top-Management schwer, die Betroffenen als Mitstreiter zum Beispiel in Turnaround-Projekten zu gewinnen.
Das Top-Management nicht weniger (Groß-) Unternehmen steckt aktuell in folgendem Dilemma:
➡ Einerseits müssen die Unternehmen in der von rascher Veränderung geprägten „VUKAWelt“– VUKA ist ein Akronym für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit/ Ambiguity – agiler werden und deshalb mehr Entscheidungsbefugnisse auf die operative Ebene verlagern.
➡ Andererseits hat das Management Top-downEntscheidungen zu treffen – unter anderem um sicherzustellen, dass sich alle Initiativen im Unternehmen an den gemeinsamen übergeordneten Zielen orientieren und die stets begrenzten Ressourcen effektiv genutzt werden.
Die Unternehmen müssen sozusagen eine hybride Kultur entwickeln, in der statt eines dogmatischen „Entweder-oder“ein pragmatisches „Sowohl-als-auch“gilt, denn anders lassen sich zumindest größere Organisationen nicht erfolgreich führen.
Dieses Bewusstsein den Mitarbeitern zu vermitteln, ist nicht leicht – auch weil derzeit häufiger sogenannte schwarze Schwäne, also unvorhersehbare oder nur schwer vorhersehbare Ereignisse die Planungen des Top-Managements über den Haufen werfen. Also muss es seine Entscheidungen häufiger überdenken und korrigieren. Das vermittelt den Betroffenen das Gefühl: „Die da oben wissen selbst nicht, wohin die Reise geht.“Hieraus kann rasch Demotivation resultieren.
Eine solche Entwicklung können Unternehmen nur mit starken Führungskräften vermeiden, die ihren Mitarbeitern im Arbeitsalltag immer wieder vermitteln, warum gewisse Dinge nötig sind. Deshalb sollten die Unternehmen ihre Führungskräfteentwicklung, die sie in den letzten Jahren nicht selten auf Eis gelegt haben, wieder forcieren – auch damit die Manager lernen, mit dem Führungsparadoxon von Topdown und Bottom-up im Betriebsalltag gut umzugehen.