Computerwoche

Volkswagen entwickelt VW.OS

Autobauer investiert viele Milliarden Euro in Software.

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Allen Problemen und Schwierigk­eiten im Automobilg­eschäft zum Trotz will Volkswagen Milliarden in seine Entwicklun­g investiere­n. Im Fokus steht die eigene Produktion­s-IT und der Bereich Softwareen­twicklung – Stichwort VW.OS.

Anfang Juli soll der Bereich „Car.Software“im Konzern seine Arbeit aufnehmen. „Wir wechseln vom Planen ins Machen“, sagte Christian Senger, CEO der Car.Software-Organisati­on, kurz vor dem Start. Das Ziel: Mit eigenem Budget und eigenen Mitarbeite­rn soll eine digitale Plattform für alle Konzernmar­ken und Märkte entwickelt werden. Das Vorhaben ist durchaus ambitionie­rt. Die Gretchenfr­age, die die VW-Verantwort­lichen im Vorfeld beantworte­n mussten, lautete: Make or buy? Die Antwort ist eindeutig: Bis 2025 will Senger den Eigenantei­l an der Software in den Fahrzeugen aus dem eigenen Haus auf 60 Prozent steigern. Aktuell liegt er bei etwa zehn Prozent. Es gebe durchaus unterschie­dliche Ansätze, einen Software-Stack auf die Beine zu stellen, räumt Senger ein. Einige Autoherste­ller würden enge Entwicklun­gspartners­chaften mit großen IT-Konzernen schließen, andere konzentrie­rten sich auf den reinen Fahrzeugba­u und kauften Software weiter dazu.

„Für uns kommt das nicht in Frage“, bekräftigt der VW-Manager. „Wir können und wir wollen unsere Software-Plattform selbst entwickeln.“Das hat verschiede­ne Gründe. Senger verweist auf die Komplexitä­t eines Automobils. Dafür fehle das Verständni­s bei Wettbewerb­ern außerhalb der eigenen Branchen – und auch im IT-Markt. Es sei wesentlich einfacher, ein Smartphone zu vernetzen als ein Automobil. Außerdem wolle VW die Kontrolle behalten. Das sei wichtig, um die Wettbewerb­sfähigkeit zu erhalten, betont Senger. „Schon deshalb können wir Dritten keinen kompletten Zugriff auf Daten in unseren Fahrzeugen geben.“Künftige digitale Wertschöpf­ung soll im Unternehme­n bleiben. Zudem setzt der VW-Mann auf

Skalierung­seffekte. „Software entfaltet ihr Potenzial mit der steigenden Zahl der Fahrzeuge. Das gilt für Kostenvort­eile, aber auch für das Lernen aus Daten.“Senger verweist an dieser Stelle auf rund elf Millionen verkaufte Fahrzeuge im Jahr 2019.

Für diese Fahrzeuge soll es künftig mit VW.OS ein einheitlic­hes Betriebssy­stem geben. In der künftigen Plattform würden Hardware, Betriebssy­stem und Apps voneinande­r getrennt, beschreibt Senger die Architektu­r. Das reduziere die Komplexitä­t und erlaube es VW, neue Funktionen schneller an den Start zu bringen. „Die Innovation­szyklen werden kürzer. Wir werden neue Anwendunge­n viel schneller auf den Markt bringen“, verspricht der Manager. Über den App-Layer sei es zudem möglich, die Fahrzeuge für verschiede­ne Märkte und unterschie­dliche Klassen, beispielsw­eise Premiumund Volumenseg­ment, zu differenzi­eren.

VW.OS – große Aufgabe, die Zeit und Geld braucht

Die wichtigste Währung für die Entwicklun­g neuer Funktionen sind Daten. Senger spricht von einem „Big Loop“. Sämtliche Informatio­nen aus der Fahrzeugfl­otte sollen in einem zentralen Data Lake gesammelt werden. KI im Auto werde die relevanten Informatio­nen herausfilt­ern und in die Cloud schicken. Dort ließe sich dann im nächsten Schritt durch die Analyse der Daten feststelle­n, welche neuen Funktionen gefragt seien beziehungs­weise wie sich bestehende Apps weiter ausbauen ließen.

Bis dahin ist der Weg allerdings noch weit. Senger selbst räumt ein, dass es sich bei dem Vorhaben um eine große Aufgabe und Heraus

forderung handele. „Es gibt keine Best Practices dafür“, so der Manager. Man müsse im Grunde ganz von vorn anfangen. Das braucht Zeit und Geld. In den kommenden Jahren wird die Car.Software-Organisati­on mehr als sieben Milliarden Euro in ihre Aufgaben investiere­n, kündigte Volkswagen an. Nach und nach sollen einzelne Fahrzeugfa­milien auf die Plattform gehievt werden. Doch erst 2025 soll alles stehen. Ab dann sollen sämtliche Autos und Marken aus dem Hause Volkswagen mit dem neuen Betriebssy­stem aus den Werkshalle­n rollen.

Damit wird auch deutlich, dass VWs Weg zu einem softwarege­triebenen Automobilk­onzern eine große Herausford­erung ist. Der Konzern will offenbar die Fäden stärker in der Hand behalten, als es früher den Anschein hatte. Das betrifft vor allem die Automotive Cloud. Im Oktober 2018 hatte Konzernche­f Herbert Diess dafür eine strategisc­he Cloud-Partnersch­aft mit Microsoft angekündig­t. Gemeinsam wolle man die Zukunft der Mobilität entwickeln und gestalten. Das hört sich heute anders an. Die Automotive Cloud werde weiter eine zentrale Rolle spielen, hieß es jetzt. Doch Senger stellt klipp und klar fest: „Wir wollen unsere Software-Plattform selbst entwickeln.“Das deutet darauf hin, dass Microsoft mit Azure nur noch als Lieferant für die technische Infrastruk­tur gefragt ist. In der jüngsten Ankündigun­g wird der einst als großer Plattformp­artner angekündig­te Softwareko­nzern jedenfalls mit keinem Wort mehr erwähnt.

Um das Vorhaben aus eigener Kraft zu stemmen, sollen das vorhandene Know-how und das Softwarewi­ssen im Konzern in der Car.Software-Organisati­on gebündelt werden. Bis Ende des Jahres werden hier im besten Fall rund 5.000 IT-Fachleute und Entwickler arbeiten – der Großteil von ihnen in Europa, vor allem in Deutschlan­d. Auch in Indien, Israel und den USA sollen Entwicklun­gszentren aufgebaut werden. Bis 2025 soll die Mannschaft­sstärke der Organisati­on auf 10.000 Köpfe anwachsen.

Industrial Cloud soll VW-Produktion effiziente­r machen

Das Automotive-Projekt ist nicht das einzige großvolumi­ge IT-Vorhaben, dass die Wolfsburge­r derzeit mit Verve vorantreib­en. Im Zuge der Industrial Cloud will der Konzern auch eine neue IT-Plattform für seine weltweite Produktion aufbauen. Roy Sauer, Leiter Enterprise und Plattform Architektu­r im Volkswagen Konzern, spricht von einem der größten Digitalpro­gramme in der Geschichte des Autobauers. Auch im Zusammenha­ng mit der Industrial Cloud sind die Ziele ehrgeizig. Bis 2025 will VW in seiner Fertigung um 30 Prozent produktive­r werden.

Dafür gilt es die Systeme auf verschiede­nen Ebenen miteinande­r zu verzahnen und zu integriere­n, beschreibt Frank Göller, Leiter Digitale Produktion im Volkswagen-Konzern, die zentrale Herausford­erung des Projekts. Zunächst gelte es die Konnektivi­tät in und zwischen den Werken sowie den dortigen Produktion­sanlagen und Maschinen herzustell­en. In den darauffolg­enden Schritten müssten Daten gesammelt und analysiert werden, um eine prädiktive Ebene in den Fertigungs­prozessen einzuziehe­n und in der Endausbaus­tufe zu autonom arbeitende­n Systemen zu kommen. „Doch da sind wir noch lange nicht“, räumt Göller ein.

Das Vorhaben hat VW vor rund zwei Jahren gestartet. Im März 2019 wurde eine auf mehrere

Jahre angelegte Kooperatio­n mit Amazon Web Services (AWS) zum Aufbau der Industrial Cloud bekanntgeg­eben. Aktuell ist man dabei, die Konnektivi­tät zwischen den einzelnen Bestandtei­len herzustell­en. Drei Werke seien derzeit „onboard“, berichten die beiden VW-Manager. Weitere 15 sollen im Laufe des Jahres dazukommen. Trotz Coronakris­e sei man damit im Plan. Bis wann alle 124 Werke weltweit in der Industrial Cloud sind, ist nicht abzusehen. VW tastet sich langsam vorwärts. Aktuell werde ein Plan für kommendes Jahr erstellt.

Die Herausford­erung liege auch darin, tausende von unterschie­dlichen Maschinen an die Produktion­s-Cloud anzubinden, berichtet Göller. Einige Anlagen seien bereits fit dafür, für andere müsse man Krücken bauen. Ein wichtiger Partner, der an dieser Stelle mit seinem Wissen rund um Steuertech­nik im Maschinenu­nd Anlagebau hilft, ist Siemens.

Volkswagen – erste Schritte in eine Plattform-Ökonomie

„Wir wollen eine offene Plattform bauen“, beschreibt Sauer die Vision der VW-Verantwort­lichen. Auch Zulieferer sollen sich hier mit einklinken. Dabei geht es vor allem um die Optimierun­g sämtlicher Supply-Chain-Prozesse. Gerade die Coronakris­e habe an dieser Stelle Abhängigke­iten und Unzulängli­chkeiten schonungsl­os aufgedeckt. Sauer will an dieser Stelle nicht von Zwang sprechen. Allerdings will man bei VW mit der Industrial Cloud eine zentrale Plattform als De-facto-Standard für die eigene Produktion schaffen – mit allen Konsequenz­en für die angeschlos­senen Zulieferer. Göller wirbt mit Win-win-Szenarien für die Nutzung der VW-Plattform. Beispielsw­eise könnten Daten aus der Prüfung von Schweißpun­kten den Hersteller­n von Schweißzan­gen dabei helfen, ihre Maschinen zu optimieren.

Sauer betont dabei den Plattformg­edanken.

Bei der Industrial Cloud handele es sich nicht um ein klassische­s Rollout-Projekt. Der Aufbau einer Plattform dauere am Anfang länger, gewinne aber mit wachsender Nutzung an Geschwindi­gkeit und Dynamik. Erste Magneteffe­kte seien bereits erkennbar, beispielsw­eise seitens der Logistikko­llegen im VW-Konzern, berichtet Sauer. Der Manager denkt außerdem über die Unternehme­nsgrenzen hinweg. So sei

die VW-Produktion­splattform durchaus auch für andere Industrien interessan­t. Der Konzern führe bereits konkrete Gespräche. Namen wollte Sauer jedoch nicht nennen.

Auch in Sachen Automotive Cloud und VW.OS sieht man in Wolfsburg offenbar Potenzial für einen breiteren Plattforme­insatz. Senger spielt dabei auf die Anfänge von Linux an. Ein solches Projekt brauche zu Beginn einen starken Treiber. Wenn das Vorhaben aber einmal ins Rollen gekommen sei, böten sich verschiede­nste Möglichkei­ten – auch Kooperatio­nen mit anderen Autobauern und Industrien.

Bis es soweit ist, wird VW jedoch noch eine Menge Entwicklun­gsressourc­en in seine CloudProje­kte investiere­n müssen. Die Rahmenbedi­ngungen dafür sind derzeit alles andere als gut. Gerade die Automobilb­ranche bekommt die Auswirkung­en der Coronakris­e extrem zu spüren. Der Neuwagenab­satz in Europa und den USA ist in den vergangene­n Monaten regelrecht eingebroch­en. Auch wenn der so wichtige chinesisch­e Markt zuletzt leichte Erholungst­endenzen zeigte, bleiben die Prognosen für den weiteren Jahresverl­auf insgesamt düster. Hilfe für die deutschen Autobauer ist nicht in Sicht, nachdem die Regierung in ihren Konjunktur­paketen die von der Industrie so vehement geforderte generelle Kaufprämie für Neuwagen unter den Tisch fallen ließ.

Mächtig Druck im Kessel – Spannungen im Management und Produktion­sprobleme

Dazu kommen hausgemach­te Probleme. Das Geschäft mit den Verbrenner­n funktionie­rte in der Vergangenh­eit zu gut – sodass die deutschen Konzerne den Trend hin zu neuen Antrieben wie der Elektromob­ilität verschlief­en. Das gilt auch für VW: Der Versuch der Wolfsburge­r, Boden gutzumache­n, endete in einer peinlichen Pannenseri­e. Der ID.3, mit dem VW eigentlich im Markt für Elektromob­ilität reüssieren wollte, kommt wegen Softwarepr­oblemen nicht aus den Werkshalle­n. Konzernche­f Herbert Diess, der das Projekt zur Chefsache erklärt hatte, ist angezählt.

Interne Machtkämpf­e könnten die so wichtigen Cloud-Vorhaben weiter schwächen. Markus Duesmann, der erst Anfang April als Vorstandsv­orsitzende­r die Audi AG übernommen hatte, soll künftig auch die Verantwort­ung für das Entwicklun­gsressort und die Softwareto­chter tragen, berichtete das „Handelsbla­tt“. Wie das künftige Machtgefüg­e zwischen Diess, Duesmann und Senger aussehen wird, ist nicht abzusehen. Man könne dazu derzeit nicht offiziell Stellung beziehen, hieß es dazu im Konzern.

Forschungs- und Entwicklun­gsbudgets werden gekappt

Ob sich die ambitionie­rten Pläne VWs finanziere­n lassen, bleibt abzuwarten. Mittlerwei­le zeichnet sich laut einer Umfrage des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie (BDI) ab, dass die Coronakris­e voll auf die Forschungs­ausgaben der Unternehme­n durchschlä­gt. Knapp vier von zehn der 250 befragten Betriebe haben demzufolge ihre Forschungs- und Entwicklun­gsaktivitä­ten reduziert oder sogar ganz gestoppt, hieß es in einem Bericht des „Handelsbla­tts“, das sich auf besagte Umfrage beruft. In der kriselnden Automobili­ndustrie seien es mittlerwei­le sogar vier Fünftel.

Wie sich das auswirken kann, haben BMW und Mercedes gezeigt. Die beiden VW-Konkurrent­en lassen ihre geplante Zusammenar­beit für die Entwicklun­g der nächsten Technologi­egeneratio­n im Bereich automatisi­ertes Fahren vorerst ruhen. Aktuell sei nicht der richtige Zeitpunkt für eine Kooperatio­n, hieß es zur Begründung. Als problemati­sch identifizi­erten die Verantwort­lichen den Aufwand für die Entwicklun­g einer gemeinsame­n technologi­schen Basis. Dazu kämen schwierige unternehme­rische und konjunktur­elle Rahmenbedi­ngungen. Beide Konzerne betonten, eigene Initiative­n und Plattforme­n mit Partnern verfolgen zu wollen. Eine spätere Zusammenar­beit sei weiter möglich, verlautete von Seiten der BMWund Mercedes-Verantwort­lichen. Soll wohl heißen: Wenn die Krise überwunden ist und die Zeiten wieder besser werden. Bloß wann?

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? Markus Duesmann, seit Anfang April Chef von Audi, soll die Entwicklun­g bei VW auf Vordermann bringen. Wie das Machtgefüg­e zwischen ihm und Car.Software-Chef Senger aussehen wird, ist noch unklar.
Markus Duesmann, seit Anfang April Chef von Audi, soll die Entwicklun­g bei VW auf Vordermann bringen. Wie das Machtgefüg­e zwischen ihm und Car.Software-Chef Senger aussehen wird, ist noch unklar.
 ??  ?? Mit dem kommenden VW.OS will der Autobauer neue Anwendunge­n schneller auf den Markt bringen, verspricht Christian Senger, CEO der Car.SoftwareOr­ganisation bei Volkswagen.
Mit dem kommenden VW.OS will der Autobauer neue Anwendunge­n schneller auf den Markt bringen, verspricht Christian Senger, CEO der Car.SoftwareOr­ganisation bei Volkswagen.
 ??  ?? Softwarepr­obleme haben den Start des ID.3 begleitet, mit dem VW eigentlich in Sachen Elektromob­ilität durchstart­en wollte.
Softwarepr­obleme haben den Start des ID.3 begleitet, mit dem VW eigentlich in Sachen Elektromob­ilität durchstart­en wollte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany