Blick in die Cyber-Zukunft
Im neuen Hype Cycle spricht Gartner vom „digitalen Ich“und von formativer KI.
Corona hat den Start in das neue Jahrzehnt auch in der IT-Branche geprägt. Das zeigt der neue „Hype Cycle for Emerging Technologies 2020“von Gartner:
Die Pandemie beeinflusste offensichtlich den Ausblick der Auguren auf die technologische Entwicklung in den nächsten Jahren. Zwar waren die Analysten schon in den Jahren zuvor darauf aus, vor allem neue Technologien auf dem Hype Cycle unterzubringen, doch so radikal wie 2020 ging es noch nie zu. Nur zwei Techniken aus 2019 haben es auch in die aktuelle Übersicht geschafft.
„Neu aufkommende Technologien sind von Natur aus disruptiv, aber der Wettbewerbsvorteil, den sie bieten, ist noch nicht richtig erkannt, geschweige denn erwiesen“, erklärt Brian Burke, Research Vice President bei Gartner, und dämpft vorschnelle Erwartungen. Die meisten der 2020 identifizierten Technologien würden mehr als fünf Jahre, einige sogar mehr als zehn Jahre benötigen, um das Plateau der Produktivität zu erreichen. Sich angesichts dieser langfristigen Dimensionen zurückzulehnen und erst einmal abzuwarten, wäre jedoch ein Fehler, warnt der Analyst die Verantwortlichen in den Unternehmen. „Einige Technologien, die sich im Hype-Zyklus befinden, werden bereits in naher Zukunft ausgereift sein.“
Wer Innovation als geschäftskritisch für seine Strategie eingeordnet habe, müsse die Möglichkeiten dieser neuen Technologien verstehen und einordnen können.
Im aktuellen Hype Cycle for Emerging Technologies hat Gartner aus über 1.700 Technologien jene 30 herausgefiltert, die aus Sicht der Analysten das größte Transformationspotenzial für Gesellschaft und Wirtschaft bieten und einen hohen Nutzen versprechen. Dazu zählen in diesem Jahr unter anderem Technologien, die es Unternehmen erlauben, ihren Betrieb zu modularisieren, die das Vertrauen der Gesellschaft in Technologie wiederherstellen sollen und die den Zustand des menschlichen Gehirns verändern können. Innovation sei zum Schlüssel dafür geworden, wie sich Unternehmen im Wettbewerb differenzieren, und Katalysator für den grundlegenden Wandel in vielen Branchen, lautet das Gartner-Credo.
2020 teilt Gartner seine Emerging Technologies in fünf zentrale Trends auf:
➜ Digitales Ich
➜ Zusammengesetzte Architekturen
➜ Formative künstliche Intelligenz (KI)
➜ Algorithmisches Vertrauen
➜ Über das Silizium hinaus
Digital Me
Laut Gartner kreieren die Menschen immer häufiger digitale Versionen ihrer selbst. Digitale Zwillinge liefern Modelle, die Menschen im digitalen wie im physischen Raum repräsentieren können. Befeuert hat diesen Trend vor allem die Covid-19-Pandemie. Im Zuge der Coronakrise kamen schnell Technologien auf, die Menschen dabei unterstützen sollen, soziale Distanz zu wahren.
Angesichts der Pandemie konnten Technologien für die Abstandsmessung oder auch digitale Gesundheitspässe den Hype Cycle besonders schnell durchlaufen. Einige sind schon in der Praxis angekommen, andere werden in den nächsten zwei Jahren folgen. Techniken für das Social Distancing, insbesondere Apps für die Kontaktverfolgung, sind vom Start weg direkt auf dem Gipfel der hohen Erwartungen im Hype Cycle gelandet. Vor allem das breite Medienecho sowie die Diskussionen um Datenschutzbedenken haben diesen Lösungen laut Gartner eine hohe Aufmerksamkeit beschert.
Die Lösungen reichen von Apps für die Nachverfolgung von Kontakten bis hin zu Werkzeugen für die Videoüberwachung inklusive Gesichtserkennung. Grundlagen bieten
Ortungs- und Lokalisierungsfunktionen auf mobilen Endgeräten sowie Systeme, um Abstände zu messen. Letztere basieren in aller Regel auf Drahtlostechniken wie Bluetooth. Noch seien die meisten Lösungen unvollkommen, warnen die Analysten. Herausforderungen lägen in der Ungenauigkeit der Messungen, der fehlenden Zuverlässigkeit sowie in der teilweise mangelnden Nutzerakzeptanz und den Privacy-Bedenken. Nichtsdestotrotz könnten Social-Distancing-Technologien dazu beitragen, Risiken zu verringern. Gartner geht davon aus, dass sich die Techniken in den kommen zwei Jahren schnell weiterentwickeln und an Reife gewinnen werden.
Unternehmen könnten sie nutzen, um Gesundheitsrisiken für ihre Mitarbeiter im Zuge einer Back-to-Office-Strategie gering zu halten. Arbeiter in Produktionsumgebungen könnten damit die räumliche Distanz untereinander wahren. Betriebe mit einem funktionierenden Unified Endpoint Management seien bei der Einführung von Social-Distancing-Techniken im Vorteil, sagen die Gartner-Analysten. Allerdings müsse den Verantwortlichen immer klar sein, dass die Technik keine Garantie dafür sein könne, Infektionen komplett auszuschließen. Es sei wichtig, die Möglichkeiten realistisch einzuschätzen.
Gerade App-basierte Lösungen funktionieren demnach weniger genau als dedizierte Devices. Wichtig sei zudem, Einsatz und Datenverwendung transparent und ehrlich zu kommunizieren, um keine Vorbehalte in der Bevölkerung beziehungsweise der eigenen Belegschaft aufkommen zu lassen. Eine Zusammenarbeit mit Behörden könnte an dieser Stelle für mehr Vertrauen sorgen. Grundsätzlich sollte SocialDistancing-Technologie zudem von weiteren Maßnahmen flankiert werden, wie Verhaltensmaßregeln hinsichtlich Hygiene und einer eingeschränkten Office-Belegung.
Digitale Gesundheitspässe stehen noch ganz am Anfang des Hype Cycle. Allerdings habe es selten Technologien gegeben, die mit einer Marktdurchdringung von fünf bis 20 Prozent gestartet seien, heißt es in dem Bericht. Dies sei vor allem der Tatsache geschuldet, dass diese Techniken – meist in Form von Apps – in Ländern wie China und Indien vorausgesetzt würden, wenn Menschen Restaurants, Märkte und öffentliche Räume betreten oder Verkehrsmittel wie Busse und Züge nutzen wollten. Infolgedessen seien entsprechende Apps zügig entwickelt worden und würden bereits von hunderten Millionen Menschen auf der Welt verwendet.
Beispielsweise haben in China Alipay und WeChat gemeinsam mit der Regierung einen nationalen „Health Code“entwickelt. Er zeigt nach einem Ampelsystem den aktuellen Gesundheitsstatus in Sachen Covid-19 an: Rot heißt infiziert, Gelb bedeutet, die betreffende Person muss sich in Quarantäne aufhalten, und Grün zeigt an, dass sie nicht infiziert ist und sich frei bewegen kann. In vielen privaten und öffentlichen Institutionen ist ein grüner Code Voraussetzung, um Zugang zu erhalten. Ziel der Behörden: Die Ausbreitung des Virus zu verhindern oder zumindest einzudämmen.
Gartner geht davon aus, dass sich die Entwicklung derartiger Gesundheitspässe rasant beschleunigen wird. Die Akzeptanz der Menschen hänge aber stark von den jeweiligen Regierungs- und Gesellschaftsformen ab. Gerade in freiheitlich-demokratischen Ländern mit starken Bürgerrechten gebe es große Bedenken, weil damit die Bewegungsfreiheit von Menschen eingeschränkt werde. Außerdem, so mahnen die Analysten, brauche es alternative Methoden, da längst nicht jeder ein modernes Smartphone besitze.
Transparenz und einfache Nutzung sind aus Sicht von Gartner die Schlüssel für die Akzeptanz entsprechender Apps. Den Anwendern müsse klar sein, auf welcher Basis und mit welchen Algorithmen der eigene Health Code ermittelt wird. Die Analysten empfehlen zentrale Lösungen, die idealerweise von nationalen Gesundheitsbehörden unterstützt werden, und warnen vor Wildwuchs. Viele Institutionen und Firmen suchten derzeit nach Health-CodeLösungen, um Mitarbeiter und Besucher möglichst effektiv vor einer Ansteckung zu schützen. Das Handling unterschiedlicher
Apps sei jedoch wenig komfortabel und dürfte schnell unübersichtlich werden. Das würde den eigentlichen Zweck, die Gesundheit der Menschen zu schützen, eher konterkarieren.
Darüber hinaus umfasst der Bereich des Digitalen Ich verschiedene Techniken rund um den digitalen Zwilling. Gartner spricht hier vom „Citizen Twin“und dem „Digital Twin of the Person“. Gerade Behörden und Regierungen arbeiteten derzeit an digitalen Abbildern der Bürger – den Citizen Twins. Hier können verschiedene Daten zusammenfließen: Informationen aus Behörden, aber auch Bewegungsund Social-Media-Daten. Letzten Endes geht es darum, Profile beziehungsweise sogenannte Personas zu bilden. Die Technik hat zwei Seiten: Mit Hilfe von Analysen können gesellschaftliche Bedarfe wie Verkehrs- oder Transportressourcen besser geplant werden. Andererseits lassen sich die Daten auch dafür verwenden, bestimmte Scores aufzustellen und damit das Verhalten von Bürgern zu bewerten sowie entsprechend ihrer Werte zu reglementieren. Entsprechende Lösungen, die es in China schon gibt, werden von Bürgerechtlern in der westlichen Welt heftig kritisiert.
Der Digital Twin of the Person spiegelt die physische Präsenz eines Menschen in verschiedenen digitalen Situationen wider. Das kann das Remote Office sein, aber auch sein Shopping-Profil bei Online-Händlern. In aller Regel sollten die Lösungen darauf ausgelegt sein, die entsprechenden Profile möglichst zeitnah, im Idealfall real-time, auf einem aktuellen Stand zu halten. Unternehmen eröffnen sich damit neue Möglichkeiten, Einsichten in das Verhalten sowie die Wünsche und Anforderungen von Mitarbeitern und Kunden zu gewinnen. Erwartungsgemäß mahnt Gartner an, verantwortungsvoll mit den Daten umzugehen. Unternehmen müssten hohe ethische und sicherheitstechnische Maßstäbe anlegen, um für Akzeptanz aufseiten der Menschen zu sorgen, deren Daten verwertet würden. Außerdem gelte es, darauf zu achten, keine regulatorischen Vorschriften zu verletzen.
Grundsätzlich werde sich in den kommenden Jahren die Art und Weise verändern, wie Menschen mit der digitalen Welt interagieren, prognostizieren die Analysten. Sie sprechen an dieser Stelle von „Multiexperience“. Sensorik, Artificial Intelligence (AI) sowie Techniken rund um Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality würden neue Möglichkeiten
eröffnen und den Menschen erlauben, nahtlos in digitale Welten einzutauchen und dort mit Inhalten und anderen Nutzern natürlicher umzugehen. Da dies kontaktlos geschieht, werden die entsprechenden Techniken gerade im Zuge der Coronakrise einen deutlichen Entwicklungsschub erhalten, ist sich Gartner sicher. Die so entstehenden Kundendaten dürften für viele Unternehmen im Sinne von Einsichten in die Customer Experience interessant werden. Angesichts vieler proprietärer Ökosysteme und Devices werde es allerdings noch dauern und großer Integrationsanstrengungen bedürfen, bis sich Nutzer ohne Barrieren frei durch den gesamten digitalen Raum bewegen können.
Zukunftsmusik sind aus Gartner-Sicht Bidirectional Brain-Machine Interfaces (BMIs). Diese sollen das direkte Interagieren zwischen Computern und dem menschlichen Hirn erlauben – in beide Richtungen. Dabei gehe es nicht mehr nur darum, bestimmte mentale Status eines Menschen zu ermitteln und zu überwachen. Kommende Techniken sollen mittels Implantaten oder anderer Stimulanzien in der Lage sein, einzugreifen und beispielsweise auf Ermüdungserscheinungen zu reagieren. Sind entsprechende Lösungen vernetzt, könnte daraus eine Art „Internet of Brains“(IoB) entstehen, so Gartner. Derzeit funktioniert das meist nur in eine Richtung, wenn Menschen über Wearables ihre Gesundheitsdaten sammeln, überwachen und auswerten. Gartner beobachtet aber, dass verschiedene Unternehmen bereits weiterdenken. Facebook hat beispielsweise im September 2019 für 500 Millionen Dollar das Startup Ctrl-labs übernommen, das an neuronalen Schnittstellen arbeitet.
Composite Architectures
Bei diesem Trend geht es um IT-Infrastrukturen in Unternehmen, die künftig aus Komponenten zusammengesetzt sein sollen. Diese Architektur soll Unternehmen modularer machen und den Verantwortlichen helfen, schneller auf veränderte Business-Anforderungen reagieren zu können. Flexibilität und Agilität seien die entscheidenden Fähigkeiten, sagen die GartnerAnalysten. Folgende Technologien können den Betrieben dabei helfen:
Das modulare Unternehmen
Das „Composable Enterprise” hat seine Business-Modelle, seine technologische Architektur sowie seine Organisation und sein PartnerÖkosystem weitgehend modularisiert. Die Grundlage bildet dabei ein Anwendungsdesign, das Applikationen als Bausteine aus kundenspezifisch verpackten Geschäftsfunktionen gruppen- oder sogar nutzerspezifisch bereitstellt. Die Grundprinzipien sind so weit nichts Neues: Modularität, Effizienz, laufende Verbesserungen sowie Innovation sind Gartner zufolge in den meisten Organisationen bekannt und teilweise auch schon gelernt. Die Herausforderung liegt eher darin, den damit einhergehenden Kulturwandel flächendeckend in den Organisationen zu verankern. Es geht also um Mitarbeiterverhalten und Mindset. Der Wechsel von starren, aber vertrauten Unternehmensstrukturen hin zu einer sich kontinuierlich wandelnden und verbessernden Organisation ist die Herausforderung – für viele Unternehmen eine große Barriere.
Einen Weckruf, hier aktiver zu werden, gab es durch die Coronakrise. Die Notwendigkeit, das eigene Unternehmen widerstandsfähiger gegen Krisen zu machen, zwang die Verantwortlichen, die Art und Weise, wie sie ihre Geschäfte abwickeln, grundlegend zu hinterfragen. Die Analysten positionieren Composite Architectures auf dem Hype Cycle Technologie kurz vor dem Gipfel der Erwartungen und rechnen mit einer Produktivitätsreife bereits in zwei bis fünf Jahren.
Die technische Grundlage bieten sogenannte Packaged Business Capabilities (PBCs). Das sind Gartner zufolge gekapselte Softwarekomponenten, die eine klar definierte Geschäftsfähigkeit abbilden. PBCs beinhalten Merkmale
von Microservices (Kapselung und domänengesteuertes Design) wie auch von monolithischen Anwendungen (in sich geschlossen und fokussiert auf einen klaren Geschäftsbeitrag). Sie sind jedoch stärker geschäftsorientiert als erstere und anpassungsfähiger als letztere.
Große Business-Anwendungen werden künftig als Baugruppen solcher PBCs ausgeliefert, glauben die Analysten. Mit Hilfe spezieller Tools könnten sich Anwender aus diesen Building Blocks die für sie passenden Applikationen zusammensetzen. Zentrale Komponenten solcher Architekturen sind Sets mit vorkonfigurierten Schnittstellen sowie Low-Code-Entwicklungsumgebungen. Angesichts der Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie glaubt Gartner, dass sich die PBC-Idee schnell weiterentwickeln und ausbreiten wird.
Eine weitere zentrale Komponente solcher zusammensetzbarer Architekturen ist eine Data Fabric. Darunter versteht Gartner ein alternatives Designkonzept für das Datenmanagement. Es basiert auf einer Kombination verschiedener Tools, bestimmter Prozesse sowie den notwendigen Skills der Mitarbeiter.
Gerade hinsichtlich des Daten-Handlings stünden viele Unternehmen im Zuge ihrer digitalen Transformationen vor immer größeren Herausforderungen. Die Zahl der Datenquellen und Datentypen wächst, genauso wie das Datenvolumen und die Komplexität in Sachen Integration. Gleichzeitig steigt die Anforderung, möglichst in Echtzeit Einsichten aus den Daten zu gewinnen, um Geschäftsentscheidungen zu unterstützen.
Daten mit Machine Learning bändigen
Im Grunde genommen geht es bei der Data Fabric darum, mit Hilfe von Metadaten das Volumen zu bändigen und in den Griff zu bekommen sowie mit Hilfe von Data Pipelines die Datenflüsse im Unternehmen richtig zu lenken. Da diese Aufgaben manuell kaum zu bewältigen sind, empfehlen die Analysten den Anwendern, dafür Machine Learning und Automatisierungstechniken einzusetzen. Es müssten dynamische Datenstrukturen geschaffen werden, von starren Punkt-zu-PunktVerbindungen in der Datenintegration müssten sich die Betriebe lösen. Dabei könnten auch Techniken wie Datenkataloge und DatenVirtualisierung helfen.
Während die Data Fabric auf den Gipfel im Hype Cycle zusteuert, entwickeln sich Technologien wie Private 5G und Low-Cost SingleBoard-Computer für den Netzwerkrand (Edge) gerade erst. Diese Edge-Systeme basieren auf System-on-Chip (SoC-)Lösungen und sind darauf ausgelegt, ganz bestimmte Aufgaben in Maschinen, Fahrzeugen oder Fabrikanlagen zu lösen. Vorrangig geht es darum, Daten schon dort vorzuverarbeiten und zu analysieren, wo sie entstehen. Dieser Markt entwickelt sich gerade. Viele Unternehmen experimentieren aktuell mit Produkten von Nvidia oder dem beliebten „Raspberry Pi“. Fehlende Standards und Security-Features stehen einer breiten Adaption jedoch noch im Weg.
Um die Edge-Systeme ins Firmennetz einzubinden, bietet sich laut Gartner Private 5G als Private Mobile Network (PMN) an. Gerade im Zuge von Industrie 4.0 und dem Internet of Things dürfte der neue Mobilfunkstandard mit seinen höheren Bandbreiten neue Möglichkeiten eröffnen. Vor allem Autobauer wie Volkswagen und BMW arbeiten mit Hochdruck daran, 5G als zentrale Vernetzungstechnik in ihren Produktionshallen zu implementieren.
Um Daten in Edge-Systemen analysieren zu können, braucht es die dafür notwendige Intelligenz. Gartner spricht hier von Embedded AI und Tiny Machine Learning. Dabei handelt es sich um leichtgewichtige Analytics-Funktionen, die auch mit weniger ausgeprägten Rechenressourcen am Netzwerkrand zurechtkommen. Teilweise sind die Chiparchitekturen bereits für diese AI- und ML-Komponenten optimiert. Der Vorteil der lokalen Datenanalyse liegt drin, dass die Daten nicht erst in ein Data Center übertragen werden müssen. Das verringert die Latenzzeiten und erhöht die Effizienz in den Anlagen. Ein klassischer Business Case ist Predictive Maintenance. Die Gartner-Analysten gehen davon aus, dass sich in den kommenden Jahren etliche weitere Anwendungsszenarien eröffnen, beispielsweise im Bereich Smart Cities und Smart Buildings.
Formative Artificial Intelligence (AI)
Überhaupt spielt das Thema Artificial Intelligence (AI) auch in diesem Jahr eine wichtige Rolle in Gartners Hype Cycle. Die Analysten fassen die Entwicklungen unter dem Begriff Formative AI zusammen. Darunter ist ein Set an Algorithmen und ergänzenden Techniken zu verstehen, die sich schnell und dynamisch an verschiedene Situationen anpassen lassen. In erste Linie dreht es sich dabei um die Entwicklung von neuen AI-Modellen beziehungsweise die Integration von AI-Funktionen in anderen Applikationen, um so den AI-Einsatz im gesamten Unternehmen auszuweiten.
Im Rahmen von AI-augmented Design sollen sich mit Hilfe von AI, ML und Natural Language Processing automatisch digitale Inhalte, Präsentations-Layer und Bildschirmansichten entwickeln lassen. Gartner beschreibt ein Szenario, in dem User dem AI-Tool sagen, dass sie einen Internet-Store haben möchten, welches Design dieser haben soll, und eventuell einige Referenzbeispiele nennen, die ihnen gut gefallen. Auf Basis dieser Informationen könnte Augmented AI innerhalb kürzester Zeit verschiedene Varianten eines Online-Auftritts entwickeln. Derartige Szenarien dürften gerade den Markt für Customer-Experience-(CX-) Produkte in den nächsten Jahren massiv verändern, glauben die Analysten.
In eine ähnliche Richtung zielt AI-augmented Development, nur dass es hier nicht um das Design von User oder Customer Experiences geht, sondern um Softwareentwicklung. Gerade angesichts der wachsenden Komplexität beim Bau neuer Softwareinfrastrukturen, stießen die klassischen Methoden mittlerweile an Grenzen, konstatiert Gartner. Zudem sei manuelle Arbeit auch immer fehleranfällig, was gerade in der Entwicklung von geschäftskritischen Applikationen zum Problem werden könne. Abhilfe verspricht hier AI. Entsprechende Tools könnten als eine Art virtueller CoEntwickler fungieren beziehungsweise die
Qualitätskontrolle übernehmen. Erste Prototypen funktionieren dergestalt, dass diese mit Hilfe von Deep Learning und NLP vorhersagen können, welchen Code der Entwickler im nächsten Schritt für sein Programm braucht.
Auch wenn sich AI-augmented Development bereits dem Hype-Cycle-Peak nähert, gibt es Gartner zufolge noch etliche Unwägbarkeiten rund um die Technologie. Bis dato lägen erst wenige Erkenntnisse darüber vor, wie verlässlich, stabil und skalierbar die Technik funktioniere. Wichtig sei darüber hinaus die Transparenz. Um den Resultaten zu vertrauen, müsse klar sein, wie das AI-Tool zu seinem Code komme. Zudem gelte es, Fragen rund um Urheberschutz und die Sicherheit zu klären.
AI-Einsatz – breiter und pragmatischer
Grundsätzlich wird es laut Gartner in den nächsten Jahren darum gehen, den AI-Einsatz in den Unternehmen breiter aufzufächern. Dabei helfen könnten unter anderem Technologien rund um Composite AI. Darunter verstehen die Analysten einen kombinierten Einsatz unterschiedlicher Werkzeuge wie regelbasierte Entscheidungs-Tools, Graph-Analysen, den Einsatz von Software-Agenten sowie verschiedene Optimierungstechniken. Die Idee dahinter ist nicht neu, räumt Gartner ein. Es drehe sich jetzt aber darum, AI pragmatisch und schnell mit den passenden Werkzeugen für das jeweilige Einsatzgebiet an den Start zu bringen. Die Kunst bestehe darin, die Stärken und Schwächen der verschiedenen Werkzeuge richtig einzuschätzen und dementsprechend zu verwenden.
Kontrovers diskutiert wird der Einsatz von Generative AI. Dabei handelt es sich um Werkzeuge, die auf Basis von Datenanalysen neue Inhalte schaffen können wie beispielsweise Bilder oder Texte. So gibt es bereits ein neues Märchen im Stil der Gebrüder Grimm sowie diverse Gemälde, gemalt nach der Technik alter Meister wie Rembrandt oder van Gogh.
Im bekannten Auktionshaus Christies in London kam bereits AI-produzierte Kunst unter den Hammer. Problematisch wird der Einsatz, wenn damit künstlich Inhalte geschaffen werden, die nicht als Fake gekennzeichnet sind, aber politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Entwicklungen beeinflussen oder sogar in eine bestimmte Richtung zu manipulieren versuchen.
Aktuell wird in Sachen Generative AI viel experimentiert. Die Werkzeuge benötigen große Mengen an Trainingsdaten und viel manuelles Tuning. Interessant für den Unternehmenseinsatz könnte die Technik im Zuge von Generative Adversarial Networks (GANs) werden. Dabei könnte AI neue Inhalte wie Bilder, Videos, Texte oder Musik kreieren. Darüber hinaus ließen sich im Zuge von Simulationen Umgebungen für die Entwicklung neuer Medikamente und Materialien mit bestimmten Eigenschaften bauen. Auch Trainingslandschaften beispielsweise für das autonome Fahren sind vorstellbar.
„Neu aufkommende Technologien sind von Natur aus disruptiv. Aber der Wettbewerbsvorteil, den sie bieten, ist noch nicht richtig erkannt, geschweige denn erwiesen.“
Brian Burke,
Research Vice President bei Gartner
Der Bereich Formative AI in Gartners Hype Cycle umfasst noch weitere Technologien.
Dazu zählen Small Data, also den Datenverbrauch beim Trainieren von AI möglichst gering und damit auch effizient zu halten. Adaptive Machine Learning beschreibt Techniken, mit deren Hilfe sich Algorithmen auch im laufenden Betrieb weiterentwickeln und nicht nur während einer dedizierten Trainingsphase vor dem Einsatz. Damit ließen sich entsprechende Techniken auch schneller entwickeln. Selfsupervised Learning zielt darauf ab, MachineLearning-Algorithmen in die Lage zu versetzen, wie der Mensch durch eigene Beobachtungen zu lernen. Bis dato müssen entsprechende Techniken manuell angelernt werden. Am weitesten fortgeschritten in der aktuellen Gartner-Kurve sind Ontologien und Graphen. Dabei geht es darum, Daten und Wissen auf eine neue Art und Weise miteinander in Beziehung zu setzen – nicht mehr starr und hierarchisch, sondern flexibel und sich selbst organisierend. Das soll die Suche nach relevanten Informationen und das Content Management in den Unternehmen erleichtern.
Algorithmic Trust
Gartner stellt in diesem Jahr auch die Vertrauensfrage hinsichtlich digitaler Techniken. Algorithmic Trust bildet 2020 einen separaten Technologie-Block. Der Verlust von Millionen persönlicher Datensätze, voreingenommene AI-Modelle, die bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminieren, und eine regelrechte Flut an gefälschten Nachrichten und Videos im Netz hat das Vertrauen vieler Menschen in Digitaltechniken erschüttert. Als Reaktion darauf entwickle sich derzeit eine neue Vertrauensarchitektur, die die Verantwortung für einen vertrauensvollen Umgang mit Daten und Identitäten von Menschen und Organisationen auf Algorithmen überträgt. Algorithmische Vertrauensmodelle sollen herkömmliche Vertrauensmodelle ersetzen, die mit Menschen oder Organisationen verbunden sind und für einen besseren Schutz von Daten und mehr Sicherheit im Netz sorgen.
Eine Technik, die dafür derzeit oft ins Spiel gebracht wird, ist Secure Access Service Edge (SASE). Der Begriff beschreibt eine neue Sicherheitsarchitektur, in der Security als Service gedacht und ausgeliefert wird. Dreh- und Angelpunkt für den Grad der Absicherung bilden Identitäten. Das können Nutzer, aber auch Endgeräte wie das Notebook zuhause oder ein IoT-Device in der Fabrikhalle sein. Infolgedessen dürften sich die klassischen NetzwerkSicherheitslösungen in den kommenden Jahren massiv verändern, sagt Gartner. Echte SASEServices seien Cloud native, dynamisch skalierbar, global verfügbar, in der Regel als Microservices konzipiert und Multitenant-fähig.
Angesichts des breiten Anforderungsprofils sei die Zahl kompletter SASE-Lösungen am Markt derzeit noch überschaubar, konstatieren die Analysten. Das dürfte sich jedoch bald ändern, heißt es unter Verweis auf zahlreiche Ankündigungen der Hersteller aus den zurückliegenden Monaten. Gleiches gilt für die Akzeptanz seitens der Anwender. Bis 2024 würden 40 Prozent der Unternehmen weltweit eine SASEStrategie verfolgen – Anfang 2019 sei es gerade einmal ein Prozent gewesen. Die Vorteile der neuen Architektur lägen darin, dass sich mit der Technik die veränderten Security-Anforderungen der digitalen Transformation passgenauer abbilden ließen.
Gerade die Coronakrise habe dies den Verantwortlichen auf drastische Weise vor Augen geführt. Mit dem Wechsel von Millionen Angestellten in die Home Offices hätten sich quasi über Nacht auch die Rahmenbedingungen in Sachen IT-Sicherheit umgedreht. An dieser Stelle schnell reagieren zu können, wird künftig ein elementarer Aspekt eines widerstandsfähigen Unternehmens sein.
Black Box AI muss transparenter werden
Wenn immer mehr Entscheidungen AI-gestützt fallen, muss das Vertrauen in die Technik zu hundert Prozent gewährleistet sein. Immer wieder haben in den vergangenen Jahren Fälle für Schlagzeilen gesorgt, in denen Algorithmen mit Daten angelernt wurden, die die Ergebnisse tendenziös in eine bestimmte Richtung gelenkt haben. Die Diskriminierung von Minderheiten oder bestimmter Bevölkerungsgruppen hat das Vertrauen in AI massiv beeinträchtigt. Das soll sich Gartner zufolge mit Hilfe von Explainable AI ändern. Entsprechende Techniken sollen dafür sorgen, dass die Black Box, wie AI zu ihren Ergebnissen kommt, transparenter wird. Damit soll klar ersichtlich sein, welche Stärken und Schwächen ein AI-Modell hat, und wie die Algorithmen funktionieren. Gerade in reglementierten Branchen wie dem Finanzsektor wird es für die Unternehmen
zudem zur Pflicht, nachweisen zu können, wie die von ihnen verwendete AI rechnet.
Explainable AI hat den Gipfel der überzogenen Erwartungen überschritten und befindet sich auf dem Weg ins Tal der Enttäuschungen. Das hat Responsible AI noch vor sich. Die Technik steht kurz vor dem Peak, an der Stelle, an der Explainable AI vor einem Jahr stand. Darunter fassen die Analysten Technologien zusammen, die einen regelkonformen und ethisch korrekten Einsatz von AI über die gesamte Unternehmensorganisation hinweg gewährleisten sollen. Das betrifft Aspekte wie Vertrauen, Transparenz, Fairness, Erklärbarkeit, Sicherheit und Privacy, aber auch die Frage nach dem wirtschaftlichen und sozialen Wert des AI-Einsatzes.
Das größte Problem bei der Einführung der AI ist derzeit das Misstrauen in die Lösungen und das geringe Vertrauen in die positiven Auswirkungen von AI, konstatiert Gartner. Mittlerweile haben sich viele Unternehmen und Organisationen zu Prinzipien à la Responsible AI verpflichtet. Dazu zählen IT-Anbieter wie Accenture, Google und Microsoft, genauso wie viele Regierungen und Behörden sowie Anwenderunternehmen wie AXA, die Bank of America und Telefonica. Gerade mit Blick auf die Ausbreitung von Covid-19 wird klar, wie wichtig dieser Technologieblock ist und noch werden wird. Wenn Behörden mit Hilfe von AI Vorhersagen treffen, wie sich die Pandemie entwickeln wird, und entsprechende Maßnahmen einleiten, um einer Ausbreitung Einhalt zu gebieten, muss für alle Betroffenen klar sein, wie und warum diese Entscheidungen gefallen sind.
Ganz am Anfang des Hype Cycle steht in diesem Jahr Authenticated Provenance. Damit beschreiben die Gartner-Analysten Techniken, mit denen die Herkunft von Assets, die per Blockchain verfolgt werden, sicher geprüft werden kann. Dabei geht es darum, zu verhindern, dass falsche Informationen in die Blockchain hineinfließen: Garbage in – Garbage forever, warnen die Analysten. Da in einer Blockchain Informationen nicht mehr verändert und manipuliert werden können – das ist der grundlegende Sicherheitsvorteil einer Blockchain – muss umso genauer darauf geachtet werden, mit welchen Informationen eine Blockchain startet. Gartner rechnet in den kommenden Jahren mit einer stärkeren Akzeptanz der Distributed-Ledger-Technologie. Daher müssten sich die Unternehmen stärker mit Authenticated Provenance beschäftigen.
Wer bin ich im Netz – und wie viele?
Rund um Identitäten hat Gartner zwei Technologien ausgemacht, die in Zukunft ebenfalls wichtiger werden dürften. Im Zuge von Differential Privacy sprechen sie von einem System, in dem Datensätze mit sensiblen persönlichen Daten so verschleiert werden, dass sie zwar für Analysen verwendet werden können, aber keine Rückschlüsse auf bestimmte Personen zulassen. Unternehmen arbeiten mit Hochdruck daran, mehr Geschäft mit ihren Daten zu machen. Da es sich dabei aber vielfach um sensible Daten handelt, die durch Regulatorien wie die DSGVO geschützt sind, können Techniken wie Differential Privacy helfen, diese trotzdem zu verwenden. Dabei werden mit Hilfe von Algorithmen „Störungen“in die Datensätze eingearbeitet, die eine Analyse nicht behindern, aber Rückschlüsse auf bestimmte Personen verschleiern.
Weit fortgeschritten im Hype Cycle und schon fast angekommen im Tal der Enttäuschung ist Bring Your Own Identity. Hier dreht es sich um die Verwendung von externen digitalen Identitäten wie einem Facebook-Account oder einer Banking-Identität, um Zugang zu anderen digitalen Services zu bekommen. Gartner zufolge sind gerade in den zurückliegenden Jahren viele verschiedene Optionen neu hinzugekommen, sich eine digitale Identität anzuschaffen. Infolgedessen warnen die Analysten vor einem Wildwuchs aus nicht miteinander kompatiblen Techniken.