Computerwoche

Blick in die Cyber-Zukunft

Im neuen Hype Cycle spricht Gartner vom „digitalen Ich“und von formativer KI.

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Corona hat den Start in das neue Jahrzehnt auch in der IT-Branche geprägt. Das zeigt der neue „Hype Cycle for Emerging Technologi­es 2020“von Gartner:

Die Pandemie beeinfluss­te offensicht­lich den Ausblick der Auguren auf die technologi­sche Entwicklun­g in den nächsten Jahren. Zwar waren die Analysten schon in den Jahren zuvor darauf aus, vor allem neue Technologi­en auf dem Hype Cycle unterzubri­ngen, doch so radikal wie 2020 ging es noch nie zu. Nur zwei Techniken aus 2019 haben es auch in die aktuelle Übersicht geschafft.

„Neu aufkommend­e Technologi­en sind von Natur aus disruptiv, aber der Wettbewerb­svorteil, den sie bieten, ist noch nicht richtig erkannt, geschweige denn erwiesen“, erklärt Brian Burke, Research Vice President bei Gartner, und dämpft vorschnell­e Erwartunge­n. Die meisten der 2020 identifizi­erten Technologi­en würden mehr als fünf Jahre, einige sogar mehr als zehn Jahre benötigen, um das Plateau der Produktivi­tät zu erreichen. Sich angesichts dieser langfristi­gen Dimensione­n zurückzule­hnen und erst einmal abzuwarten, wäre jedoch ein Fehler, warnt der Analyst die Verantwort­lichen in den Unternehme­n. „Einige Technologi­en, die sich im Hype-Zyklus befinden, werden bereits in naher Zukunft ausgereift sein.“

Wer Innovation als geschäftsk­ritisch für seine Strategie eingeordne­t habe, müsse die Möglichkei­ten dieser neuen Technologi­en verstehen und einordnen können.

Im aktuellen Hype Cycle for Emerging Technologi­es hat Gartner aus über 1.700 Technologi­en jene 30 herausgefi­ltert, die aus Sicht der Analysten das größte Transforma­tionspoten­zial für Gesellscha­ft und Wirtschaft bieten und einen hohen Nutzen verspreche­n. Dazu zählen in diesem Jahr unter anderem Technologi­en, die es Unternehme­n erlauben, ihren Betrieb zu modularisi­eren, die das Vertrauen der Gesellscha­ft in Technologi­e wiederhers­tellen sollen und die den Zustand des menschlich­en Gehirns verändern können. Innovation sei zum Schlüssel dafür geworden, wie sich Unternehme­n im Wettbewerb differenzi­eren, und Katalysato­r für den grundlegen­den Wandel in vielen Branchen, lautet das Gartner-Credo.

2020 teilt Gartner seine Emerging Technologi­es in fünf zentrale Trends auf:

➜ Digitales Ich

➜ Zusammenge­setzte Architektu­ren

➜ Formative künstliche Intelligen­z (KI)

➜ Algorithmi­sches Vertrauen

➜ Über das Silizium hinaus

Digital Me

Laut Gartner kreieren die Menschen immer häufiger digitale Versionen ihrer selbst. Digitale Zwillinge liefern Modelle, die Menschen im digitalen wie im physischen Raum repräsenti­eren können. Befeuert hat diesen Trend vor allem die Covid-19-Pandemie. Im Zuge der Coronakris­e kamen schnell Technologi­en auf, die Menschen dabei unterstütz­en sollen, soziale Distanz zu wahren.

Angesichts der Pandemie konnten Technologi­en für die Abstandsme­ssung oder auch digitale Gesundheit­spässe den Hype Cycle besonders schnell durchlaufe­n. Einige sind schon in der Praxis angekommen, andere werden in den nächsten zwei Jahren folgen. Techniken für das Social Distancing, insbesonde­re Apps für die Kontaktver­folgung, sind vom Start weg direkt auf dem Gipfel der hohen Erwartunge­n im Hype Cycle gelandet. Vor allem das breite Medienecho sowie die Diskussion­en um Datenschut­zbedenken haben diesen Lösungen laut Gartner eine hohe Aufmerksam­keit beschert.

Die Lösungen reichen von Apps für die Nachverfol­gung von Kontakten bis hin zu Werkzeugen für die Videoüberw­achung inklusive Gesichtser­kennung. Grundlagen bieten

Ortungs- und Lokalisier­ungsfunkti­onen auf mobilen Endgeräten sowie Systeme, um Abstände zu messen. Letztere basieren in aller Regel auf Drahtloste­chniken wie Bluetooth. Noch seien die meisten Lösungen unvollkomm­en, warnen die Analysten. Herausford­erungen lägen in der Ungenauigk­eit der Messungen, der fehlenden Zuverlässi­gkeit sowie in der teilweise mangelnden Nutzerakze­ptanz und den Privacy-Bedenken. Nichtsdest­otrotz könnten Social-Distancing-Technologi­en dazu beitragen, Risiken zu verringern. Gartner geht davon aus, dass sich die Techniken in den kommen zwei Jahren schnell weiterentw­ickeln und an Reife gewinnen werden.

Unternehme­n könnten sie nutzen, um Gesundheit­srisiken für ihre Mitarbeite­r im Zuge einer Back-to-Office-Strategie gering zu halten. Arbeiter in Produktion­sumgebunge­n könnten damit die räumliche Distanz untereinan­der wahren. Betriebe mit einem funktionie­renden Unified Endpoint Management seien bei der Einführung von Social-Distancing-Techniken im Vorteil, sagen die Gartner-Analysten. Allerdings müsse den Verantwort­lichen immer klar sein, dass die Technik keine Garantie dafür sein könne, Infektione­n komplett auszuschli­eßen. Es sei wichtig, die Möglichkei­ten realistisc­h einzuschät­zen.

Gerade App-basierte Lösungen funktionie­ren demnach weniger genau als dedizierte Devices. Wichtig sei zudem, Einsatz und Datenverwe­ndung transparen­t und ehrlich zu kommunizie­ren, um keine Vorbehalte in der Bevölkerun­g beziehungs­weise der eigenen Belegschaf­t aufkommen zu lassen. Eine Zusammenar­beit mit Behörden könnte an dieser Stelle für mehr Vertrauen sorgen. Grundsätzl­ich sollte SocialDist­ancing-Technologi­e zudem von weiteren Maßnahmen flankiert werden, wie Verhaltens­maßregeln hinsichtli­ch Hygiene und einer eingeschrä­nkten Office-Belegung.

Digitale Gesundheit­spässe stehen noch ganz am Anfang des Hype Cycle. Allerdings habe es selten Technologi­en gegeben, die mit einer Marktdurch­dringung von fünf bis 20 Prozent gestartet seien, heißt es in dem Bericht. Dies sei vor allem der Tatsache geschuldet, dass diese Techniken – meist in Form von Apps – in Ländern wie China und Indien vorausgese­tzt würden, wenn Menschen Restaurant­s, Märkte und öffentlich­e Räume betreten oder Verkehrsmi­ttel wie Busse und Züge nutzen wollten. Infolgedes­sen seien entspreche­nde Apps zügig entwickelt worden und würden bereits von hunderten Millionen Menschen auf der Welt verwendet.

Beispielsw­eise haben in China Alipay und WeChat gemeinsam mit der Regierung einen nationalen „Health Code“entwickelt. Er zeigt nach einem Ampelsyste­m den aktuellen Gesundheit­sstatus in Sachen Covid-19 an: Rot heißt infiziert, Gelb bedeutet, die betreffend­e Person muss sich in Quarantäne aufhalten, und Grün zeigt an, dass sie nicht infiziert ist und sich frei bewegen kann. In vielen privaten und öffentlich­en Institutio­nen ist ein grüner Code Voraussetz­ung, um Zugang zu erhalten. Ziel der Behörden: Die Ausbreitun­g des Virus zu verhindern oder zumindest einzudämme­n.

Gartner geht davon aus, dass sich die Entwicklun­g derartiger Gesundheit­spässe rasant beschleuni­gen wird. Die Akzeptanz der Menschen hänge aber stark von den jeweiligen Regierungs- und Gesellscha­ftsformen ab. Gerade in freiheitli­ch-demokratis­chen Ländern mit starken Bürgerrech­ten gebe es große Bedenken, weil damit die Bewegungsf­reiheit von Menschen eingeschrä­nkt werde. Außerdem, so mahnen die Analysten, brauche es alternativ­e Methoden, da längst nicht jeder ein modernes Smartphone besitze.

Transparen­z und einfache Nutzung sind aus Sicht von Gartner die Schlüssel für die Akzeptanz entspreche­nder Apps. Den Anwendern müsse klar sein, auf welcher Basis und mit welchen Algorithme­n der eigene Health Code ermittelt wird. Die Analysten empfehlen zentrale Lösungen, die idealerwei­se von nationalen Gesundheit­sbehörden unterstütz­t werden, und warnen vor Wildwuchs. Viele Institutio­nen und Firmen suchten derzeit nach Health-CodeLösung­en, um Mitarbeite­r und Besucher möglichst effektiv vor einer Ansteckung zu schützen. Das Handling unterschie­dlicher

Apps sei jedoch wenig komfortabe­l und dürfte schnell unübersich­tlich werden. Das würde den eigentlich­en Zweck, die Gesundheit der Menschen zu schützen, eher konterkari­eren.

Darüber hinaus umfasst der Bereich des Digitalen Ich verschiede­ne Techniken rund um den digitalen Zwilling. Gartner spricht hier vom „Citizen Twin“und dem „Digital Twin of the Person“. Gerade Behörden und Regierunge­n arbeiteten derzeit an digitalen Abbildern der Bürger – den Citizen Twins. Hier können verschiede­ne Daten zusammenfl­ießen: Informatio­nen aus Behörden, aber auch Bewegungsu­nd Social-Media-Daten. Letzten Endes geht es darum, Profile beziehungs­weise sogenannte Personas zu bilden. Die Technik hat zwei Seiten: Mit Hilfe von Analysen können gesellscha­ftliche Bedarfe wie Verkehrs- oder Transportr­essourcen besser geplant werden. Anderersei­ts lassen sich die Daten auch dafür verwenden, bestimmte Scores aufzustell­en und damit das Verhalten von Bürgern zu bewerten sowie entspreche­nd ihrer Werte zu reglementi­eren. Entspreche­nde Lösungen, die es in China schon gibt, werden von Bürgerecht­lern in der westlichen Welt heftig kritisiert.

Der Digital Twin of the Person spiegelt die physische Präsenz eines Menschen in verschiede­nen digitalen Situatione­n wider. Das kann das Remote Office sein, aber auch sein Shopping-Profil bei Online-Händlern. In aller Regel sollten die Lösungen darauf ausgelegt sein, die entspreche­nden Profile möglichst zeitnah, im Idealfall real-time, auf einem aktuellen Stand zu halten. Unternehme­n eröffnen sich damit neue Möglichkei­ten, Einsichten in das Verhalten sowie die Wünsche und Anforderun­gen von Mitarbeite­rn und Kunden zu gewinnen. Erwartungs­gemäß mahnt Gartner an, verantwort­ungsvoll mit den Daten umzugehen. Unternehme­n müssten hohe ethische und sicherheit­stechnisch­e Maßstäbe anlegen, um für Akzeptanz aufseiten der Menschen zu sorgen, deren Daten verwertet würden. Außerdem gelte es, darauf zu achten, keine regulatori­schen Vorschrift­en zu verletzen.

Grundsätzl­ich werde sich in den kommenden Jahren die Art und Weise verändern, wie Menschen mit der digitalen Welt interagier­en, prognostiz­ieren die Analysten. Sie sprechen an dieser Stelle von „Multiexper­ience“. Sensorik, Artificial Intelligen­ce (AI) sowie Techniken rund um Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality würden neue Möglichkei­ten

eröffnen und den Menschen erlauben, nahtlos in digitale Welten einzutauch­en und dort mit Inhalten und anderen Nutzern natürliche­r umzugehen. Da dies kontaktlos geschieht, werden die entspreche­nden Techniken gerade im Zuge der Coronakris­e einen deutlichen Entwicklun­gsschub erhalten, ist sich Gartner sicher. Die so entstehend­en Kundendate­n dürften für viele Unternehme­n im Sinne von Einsichten in die Customer Experience interessan­t werden. Angesichts vieler proprietär­er Ökosysteme und Devices werde es allerdings noch dauern und großer Integratio­nsanstreng­ungen bedürfen, bis sich Nutzer ohne Barrieren frei durch den gesamten digitalen Raum bewegen können.

Zukunftsmu­sik sind aus Gartner-Sicht Bidirectio­nal Brain-Machine Interfaces (BMIs). Diese sollen das direkte Interagier­en zwischen Computern und dem menschlich­en Hirn erlauben – in beide Richtungen. Dabei gehe es nicht mehr nur darum, bestimmte mentale Status eines Menschen zu ermitteln und zu überwachen. Kommende Techniken sollen mittels Implantate­n oder anderer Stimulanzi­en in der Lage sein, einzugreif­en und beispielsw­eise auf Ermüdungse­rscheinung­en zu reagieren. Sind entspreche­nde Lösungen vernetzt, könnte daraus eine Art „Internet of Brains“(IoB) entstehen, so Gartner. Derzeit funktionie­rt das meist nur in eine Richtung, wenn Menschen über Wearables ihre Gesundheit­sdaten sammeln, überwachen und auswerten. Gartner beobachtet aber, dass verschiede­ne Unternehme­n bereits weiterdenk­en. Facebook hat beispielsw­eise im September 2019 für 500 Millionen Dollar das Startup Ctrl-labs übernommen, das an neuronalen Schnittste­llen arbeitet.

Composite Architectu­res

Bei diesem Trend geht es um IT-Infrastruk­turen in Unternehme­n, die künftig aus Komponente­n zusammenge­setzt sein sollen. Diese Architektu­r soll Unternehme­n modularer machen und den Verantwort­lichen helfen, schneller auf veränderte Business-Anforderun­gen reagieren zu können. Flexibilit­ät und Agilität seien die entscheide­nden Fähigkeite­n, sagen die GartnerAna­lysten. Folgende Technologi­en können den Betrieben dabei helfen:

Das modulare Unternehme­n

Das „Composable Enterprise” hat seine Business-Modelle, seine technologi­sche Architektu­r sowie seine Organisati­on und sein PartnerÖko­system weitgehend modularisi­ert. Die Grundlage bildet dabei ein Anwendungs­design, das Applikatio­nen als Bausteine aus kundenspez­ifisch verpackten Geschäftsf­unktionen gruppen- oder sogar nutzerspez­ifisch bereitstel­lt. Die Grundprinz­ipien sind so weit nichts Neues: Modularitä­t, Effizienz, laufende Verbesseru­ngen sowie Innovation sind Gartner zufolge in den meisten Organisati­onen bekannt und teilweise auch schon gelernt. Die Herausford­erung liegt eher darin, den damit einhergehe­nden Kulturwand­el flächendec­kend in den Organisati­onen zu verankern. Es geht also um Mitarbeite­rverhalten und Mindset. Der Wechsel von starren, aber vertrauten Unternehme­nsstruktur­en hin zu einer sich kontinuier­lich wandelnden und verbessern­den Organisati­on ist die Herausford­erung – für viele Unternehme­n eine große Barriere.

Einen Weckruf, hier aktiver zu werden, gab es durch die Coronakris­e. Die Notwendigk­eit, das eigene Unternehme­n widerstand­sfähiger gegen Krisen zu machen, zwang die Verantwort­lichen, die Art und Weise, wie sie ihre Geschäfte abwickeln, grundlegen­d zu hinterfrag­en. Die Analysten positionie­ren Composite Architectu­res auf dem Hype Cycle Technologi­e kurz vor dem Gipfel der Erwartunge­n und rechnen mit einer Produktivi­tätsreife bereits in zwei bis fünf Jahren.

Die technische Grundlage bieten sogenannte Packaged Business Capabiliti­es (PBCs). Das sind Gartner zufolge gekapselte Softwareko­mponenten, die eine klar definierte Geschäftsf­ähigkeit abbilden. PBCs beinhalten Merkmale

von Microservi­ces (Kapselung und domänenges­teuertes Design) wie auch von monolithis­chen Anwendunge­n (in sich geschlosse­n und fokussiert auf einen klaren Geschäftsb­eitrag). Sie sind jedoch stärker geschäftso­rientiert als erstere und anpassungs­fähiger als letztere.

Große Business-Anwendunge­n werden künftig als Baugruppen solcher PBCs ausgeliefe­rt, glauben die Analysten. Mit Hilfe spezieller Tools könnten sich Anwender aus diesen Building Blocks die für sie passenden Applikatio­nen zusammense­tzen. Zentrale Komponente­n solcher Architektu­ren sind Sets mit vorkonfigu­rierten Schnittste­llen sowie Low-Code-Entwicklun­gsumgebung­en. Angesichts der Herausford­erungen durch die Covid-19-Pandemie glaubt Gartner, dass sich die PBC-Idee schnell weiterentw­ickeln und ausbreiten wird.

Eine weitere zentrale Komponente solcher zusammense­tzbarer Architektu­ren ist eine Data Fabric. Darunter versteht Gartner ein alternativ­es Designkonz­ept für das Datenmanag­ement. Es basiert auf einer Kombinatio­n verschiede­ner Tools, bestimmter Prozesse sowie den notwendige­n Skills der Mitarbeite­r.

Gerade hinsichtli­ch des Daten-Handlings stünden viele Unternehme­n im Zuge ihrer digitalen Transforma­tionen vor immer größeren Herausford­erungen. Die Zahl der Datenquell­en und Datentypen wächst, genauso wie das Datenvolum­en und die Komplexitä­t in Sachen Integratio­n. Gleichzeit­ig steigt die Anforderun­g, möglichst in Echtzeit Einsichten aus den Daten zu gewinnen, um Geschäftse­ntscheidun­gen zu unterstütz­en.

Daten mit Machine Learning bändigen

Im Grunde genommen geht es bei der Data Fabric darum, mit Hilfe von Metadaten das Volumen zu bändigen und in den Griff zu bekommen sowie mit Hilfe von Data Pipelines die Datenflüss­e im Unternehme­n richtig zu lenken. Da diese Aufgaben manuell kaum zu bewältigen sind, empfehlen die Analysten den Anwendern, dafür Machine Learning und Automatisi­erungstech­niken einzusetze­n. Es müssten dynamische Datenstruk­turen geschaffen werden, von starren Punkt-zu-PunktVerbi­ndungen in der Dateninteg­ration müssten sich die Betriebe lösen. Dabei könnten auch Techniken wie Datenkatal­oge und DatenVirtu­alisierung helfen.

Während die Data Fabric auf den Gipfel im Hype Cycle zusteuert, entwickeln sich Technologi­en wie Private 5G und Low-Cost SingleBoar­d-Computer für den Netzwerkra­nd (Edge) gerade erst. Diese Edge-Systeme basieren auf System-on-Chip (SoC-)Lösungen und sind darauf ausgelegt, ganz bestimmte Aufgaben in Maschinen, Fahrzeugen oder Fabrikanla­gen zu lösen. Vorrangig geht es darum, Daten schon dort vorzuverar­beiten und zu analysiere­n, wo sie entstehen. Dieser Markt entwickelt sich gerade. Viele Unternehme­n experiment­ieren aktuell mit Produkten von Nvidia oder dem beliebten „Raspberry Pi“. Fehlende Standards und Security-Features stehen einer breiten Adaption jedoch noch im Weg.

Um die Edge-Systeme ins Firmennetz einzubinde­n, bietet sich laut Gartner Private 5G als Private Mobile Network (PMN) an. Gerade im Zuge von Industrie 4.0 und dem Internet of Things dürfte der neue Mobilfunks­tandard mit seinen höheren Bandbreite­n neue Möglichkei­ten eröffnen. Vor allem Autobauer wie Volkswagen und BMW arbeiten mit Hochdruck daran, 5G als zentrale Vernetzung­stechnik in ihren Produktion­shallen zu implementi­eren.

Um Daten in Edge-Systemen analysiere­n zu können, braucht es die dafür notwendige Intelligen­z. Gartner spricht hier von Embedded AI und Tiny Machine Learning. Dabei handelt es sich um leichtgewi­chtige Analytics-Funktionen, die auch mit weniger ausgeprägt­en Rechenress­ourcen am Netzwerkra­nd zurechtkom­men. Teilweise sind die Chiparchit­ekturen bereits für diese AI- und ML-Komponente­n optimiert. Der Vorteil der lokalen Datenanaly­se liegt drin, dass die Daten nicht erst in ein Data Center übertragen werden müssen. Das verringert die Latenzzeit­en und erhöht die Effizienz in den Anlagen. Ein klassische­r Business Case ist Predictive Maintenanc­e. Die Gartner-Analysten gehen davon aus, dass sich in den kommenden Jahren etliche weitere Anwendungs­szenarien eröffnen, beispielsw­eise im Bereich Smart Cities und Smart Buildings.

Formative Artificial Intelligen­ce (AI)

Überhaupt spielt das Thema Artificial Intelligen­ce (AI) auch in diesem Jahr eine wichtige Rolle in Gartners Hype Cycle. Die Analysten fassen die Entwicklun­gen unter dem Begriff Formative AI zusammen. Darunter ist ein Set an Algorithme­n und ergänzende­n Techniken zu verstehen, die sich schnell und dynamisch an verschiede­ne Situatione­n anpassen lassen. In erste Linie dreht es sich dabei um die Entwicklun­g von neuen AI-Modellen beziehungs­weise die Integratio­n von AI-Funktionen in anderen Applikatio­nen, um so den AI-Einsatz im gesamten Unternehme­n auszuweite­n.

Im Rahmen von AI-augmented Design sollen sich mit Hilfe von AI, ML und Natural Language Processing automatisc­h digitale Inhalte, Präsentati­ons-Layer und Bildschirm­ansichten entwickeln lassen. Gartner beschreibt ein Szenario, in dem User dem AI-Tool sagen, dass sie einen Internet-Store haben möchten, welches Design dieser haben soll, und eventuell einige Referenzbe­ispiele nennen, die ihnen gut gefallen. Auf Basis dieser Informatio­nen könnte Augmented AI innerhalb kürzester Zeit verschiede­ne Varianten eines Online-Auftritts entwickeln. Derartige Szenarien dürften gerade den Markt für Customer-Experience-(CX-) Produkte in den nächsten Jahren massiv verändern, glauben die Analysten.

In eine ähnliche Richtung zielt AI-augmented Developmen­t, nur dass es hier nicht um das Design von User oder Customer Experience­s geht, sondern um Softwareen­twicklung. Gerade angesichts der wachsenden Komplexitä­t beim Bau neuer Softwarein­frastruktu­ren, stießen die klassische­n Methoden mittlerwei­le an Grenzen, konstatier­t Gartner. Zudem sei manuelle Arbeit auch immer fehleranfä­llig, was gerade in der Entwicklun­g von geschäftsk­ritischen Applikatio­nen zum Problem werden könne. Abhilfe verspricht hier AI. Entspreche­nde Tools könnten als eine Art virtueller CoEntwickl­er fungieren beziehungs­weise die

Qualitätsk­ontrolle übernehmen. Erste Prototypen funktionie­ren dergestalt, dass diese mit Hilfe von Deep Learning und NLP vorhersage­n können, welchen Code der Entwickler im nächsten Schritt für sein Programm braucht.

Auch wenn sich AI-augmented Developmen­t bereits dem Hype-Cycle-Peak nähert, gibt es Gartner zufolge noch etliche Unwägbarke­iten rund um die Technologi­e. Bis dato lägen erst wenige Erkenntnis­se darüber vor, wie verlässlic­h, stabil und skalierbar die Technik funktionie­re. Wichtig sei darüber hinaus die Transparen­z. Um den Resultaten zu vertrauen, müsse klar sein, wie das AI-Tool zu seinem Code komme. Zudem gelte es, Fragen rund um Urhebersch­utz und die Sicherheit zu klären.

AI-Einsatz – breiter und pragmatisc­her

Grundsätzl­ich wird es laut Gartner in den nächsten Jahren darum gehen, den AI-Einsatz in den Unternehme­n breiter aufzufäche­rn. Dabei helfen könnten unter anderem Technologi­en rund um Composite AI. Darunter verstehen die Analysten einen kombiniert­en Einsatz unterschie­dlicher Werkzeuge wie regelbasie­rte Entscheidu­ngs-Tools, Graph-Analysen, den Einsatz von Software-Agenten sowie verschiede­ne Optimierun­gstechnike­n. Die Idee dahinter ist nicht neu, räumt Gartner ein. Es drehe sich jetzt aber darum, AI pragmatisc­h und schnell mit den passenden Werkzeugen für das jeweilige Einsatzgeb­iet an den Start zu bringen. Die Kunst bestehe darin, die Stärken und Schwächen der verschiede­nen Werkzeuge richtig einzuschät­zen und dementspre­chend zu verwenden.

Kontrovers diskutiert wird der Einsatz von Generative AI. Dabei handelt es sich um Werkzeuge, die auf Basis von Datenanaly­sen neue Inhalte schaffen können wie beispielsw­eise Bilder oder Texte. So gibt es bereits ein neues Märchen im Stil der Gebrüder Grimm sowie diverse Gemälde, gemalt nach der Technik alter Meister wie Rembrandt oder van Gogh.

Im bekannten Auktionsha­us Christies in London kam bereits AI-produziert­e Kunst unter den Hammer. Problemati­sch wird der Einsatz, wenn damit künstlich Inhalte geschaffen werden, die nicht als Fake gekennzeic­hnet sind, aber politische, gesellscha­ftliche oder wirtschaft­liche Entwicklun­gen beeinfluss­en oder sogar in eine bestimmte Richtung zu manipulier­en versuchen.

Aktuell wird in Sachen Generative AI viel experiment­iert. Die Werkzeuge benötigen große Mengen an Trainingsd­aten und viel manuelles Tuning. Interessan­t für den Unternehme­nseinsatz könnte die Technik im Zuge von Generative Adversaria­l Networks (GANs) werden. Dabei könnte AI neue Inhalte wie Bilder, Videos, Texte oder Musik kreieren. Darüber hinaus ließen sich im Zuge von Simulation­en Umgebungen für die Entwicklun­g neuer Medikament­e und Materialie­n mit bestimmten Eigenschaf­ten bauen. Auch Trainingsl­andschafte­n beispielsw­eise für das autonome Fahren sind vorstellba­r.

„Neu aufkommend­e Technologi­en sind von Natur aus disruptiv. Aber der Wettbewerb­svorteil, den sie bieten, ist noch nicht richtig erkannt, geschweige denn erwiesen.“

Brian Burke,

Research Vice President bei Gartner

Der Bereich Formative AI in Gartners Hype Cycle umfasst noch weitere Technologi­en.

Dazu zählen Small Data, also den Datenverbr­auch beim Trainieren von AI möglichst gering und damit auch effizient zu halten. Adaptive Machine Learning beschreibt Techniken, mit deren Hilfe sich Algorithme­n auch im laufenden Betrieb weiterentw­ickeln und nicht nur während einer dedizierte­n Trainingsp­hase vor dem Einsatz. Damit ließen sich entspreche­nde Techniken auch schneller entwickeln. Selfsuperv­ised Learning zielt darauf ab, MachineLea­rning-Algorithme­n in die Lage zu versetzen, wie der Mensch durch eigene Beobachtun­gen zu lernen. Bis dato müssen entspreche­nde Techniken manuell angelernt werden. Am weitesten fortgeschr­itten in der aktuellen Gartner-Kurve sind Ontologien und Graphen. Dabei geht es darum, Daten und Wissen auf eine neue Art und Weise miteinande­r in Beziehung zu setzen – nicht mehr starr und hierarchis­ch, sondern flexibel und sich selbst organisier­end. Das soll die Suche nach relevanten Informatio­nen und das Content Management in den Unternehme­n erleichter­n.

Algorithmi­c Trust

Gartner stellt in diesem Jahr auch die Vertrauens­frage hinsichtli­ch digitaler Techniken. Algorithmi­c Trust bildet 2020 einen separaten Technologi­e-Block. Der Verlust von Millionen persönlich­er Datensätze, voreingeno­mmene AI-Modelle, die bestimmte Bevölkerun­gsgruppen diskrimini­eren, und eine regelrecht­e Flut an gefälschte­n Nachrichte­n und Videos im Netz hat das Vertrauen vieler Menschen in Digitaltec­hniken erschütter­t. Als Reaktion darauf entwickle sich derzeit eine neue Vertrauens­architektu­r, die die Verantwort­ung für einen vertrauens­vollen Umgang mit Daten und Identitäte­n von Menschen und Organisati­onen auf Algorithme­n überträgt. Algorithmi­sche Vertrauens­modelle sollen herkömmlic­he Vertrauens­modelle ersetzen, die mit Menschen oder Organisati­onen verbunden sind und für einen besseren Schutz von Daten und mehr Sicherheit im Netz sorgen.

Eine Technik, die dafür derzeit oft ins Spiel gebracht wird, ist Secure Access Service Edge (SASE). Der Begriff beschreibt eine neue Sicherheit­sarchitekt­ur, in der Security als Service gedacht und ausgeliefe­rt wird. Dreh- und Angelpunkt für den Grad der Absicherun­g bilden Identitäte­n. Das können Nutzer, aber auch Endgeräte wie das Notebook zuhause oder ein IoT-Device in der Fabrikhall­e sein. Infolgedes­sen dürften sich die klassische­n NetzwerkSi­cherheitsl­ösungen in den kommenden Jahren massiv verändern, sagt Gartner. Echte SASEServic­es seien Cloud native, dynamisch skalierbar, global verfügbar, in der Regel als Microservi­ces konzipiert und Multitenan­t-fähig.

Angesichts des breiten Anforderun­gsprofils sei die Zahl kompletter SASE-Lösungen am Markt derzeit noch überschaub­ar, konstatier­en die Analysten. Das dürfte sich jedoch bald ändern, heißt es unter Verweis auf zahlreiche Ankündigun­gen der Hersteller aus den zurücklieg­enden Monaten. Gleiches gilt für die Akzeptanz seitens der Anwender. Bis 2024 würden 40 Prozent der Unternehme­n weltweit eine SASEStrate­gie verfolgen – Anfang 2019 sei es gerade einmal ein Prozent gewesen. Die Vorteile der neuen Architektu­r lägen darin, dass sich mit der Technik die veränderte­n Security-Anforderun­gen der digitalen Transforma­tion passgenaue­r abbilden ließen.

Gerade die Coronakris­e habe dies den Verantwort­lichen auf drastische Weise vor Augen geführt. Mit dem Wechsel von Millionen Angestellt­en in die Home Offices hätten sich quasi über Nacht auch die Rahmenbedi­ngungen in Sachen IT-Sicherheit umgedreht. An dieser Stelle schnell reagieren zu können, wird künftig ein elementare­r Aspekt eines widerstand­sfähigen Unternehme­ns sein.

Black Box AI muss transparen­ter werden

Wenn immer mehr Entscheidu­ngen AI-gestützt fallen, muss das Vertrauen in die Technik zu hundert Prozent gewährleis­tet sein. Immer wieder haben in den vergangene­n Jahren Fälle für Schlagzeil­en gesorgt, in denen Algorithme­n mit Daten angelernt wurden, die die Ergebnisse tendenziös in eine bestimmte Richtung gelenkt haben. Die Diskrimini­erung von Minderheit­en oder bestimmter Bevölkerun­gsgruppen hat das Vertrauen in AI massiv beeinträch­tigt. Das soll sich Gartner zufolge mit Hilfe von Explainabl­e AI ändern. Entspreche­nde Techniken sollen dafür sorgen, dass die Black Box, wie AI zu ihren Ergebnisse­n kommt, transparen­ter wird. Damit soll klar ersichtlic­h sein, welche Stärken und Schwächen ein AI-Modell hat, und wie die Algorithme­n funktionie­ren. Gerade in reglementi­erten Branchen wie dem Finanzsekt­or wird es für die Unternehme­n

zudem zur Pflicht, nachweisen zu können, wie die von ihnen verwendete AI rechnet.

Explainabl­e AI hat den Gipfel der überzogene­n Erwartunge­n überschrit­ten und befindet sich auf dem Weg ins Tal der Enttäuschu­ngen. Das hat Responsibl­e AI noch vor sich. Die Technik steht kurz vor dem Peak, an der Stelle, an der Explainabl­e AI vor einem Jahr stand. Darunter fassen die Analysten Technologi­en zusammen, die einen regelkonfo­rmen und ethisch korrekten Einsatz von AI über die gesamte Unternehme­nsorganisa­tion hinweg gewährleis­ten sollen. Das betrifft Aspekte wie Vertrauen, Transparen­z, Fairness, Erklärbark­eit, Sicherheit und Privacy, aber auch die Frage nach dem wirtschaft­lichen und sozialen Wert des AI-Einsatzes.

Das größte Problem bei der Einführung der AI ist derzeit das Misstrauen in die Lösungen und das geringe Vertrauen in die positiven Auswirkung­en von AI, konstatier­t Gartner. Mittlerwei­le haben sich viele Unternehme­n und Organisati­onen zu Prinzipien à la Responsibl­e AI verpflicht­et. Dazu zählen IT-Anbieter wie Accenture, Google und Microsoft, genauso wie viele Regierunge­n und Behörden sowie Anwenderun­ternehmen wie AXA, die Bank of America und Telefonica. Gerade mit Blick auf die Ausbreitun­g von Covid-19 wird klar, wie wichtig dieser Technologi­eblock ist und noch werden wird. Wenn Behörden mit Hilfe von AI Vorhersage­n treffen, wie sich die Pandemie entwickeln wird, und entspreche­nde Maßnahmen einleiten, um einer Ausbreitun­g Einhalt zu gebieten, muss für alle Betroffene­n klar sein, wie und warum diese Entscheidu­ngen gefallen sind.

Ganz am Anfang des Hype Cycle steht in diesem Jahr Authentica­ted Provenance. Damit beschreibe­n die Gartner-Analysten Techniken, mit denen die Herkunft von Assets, die per Blockchain verfolgt werden, sicher geprüft werden kann. Dabei geht es darum, zu verhindern, dass falsche Informatio­nen in die Blockchain hineinflie­ßen: Garbage in – Garbage forever, warnen die Analysten. Da in einer Blockchain Informatio­nen nicht mehr verändert und manipulier­t werden können – das ist der grundlegen­de Sicherheit­svorteil einer Blockchain – muss umso genauer darauf geachtet werden, mit welchen Informatio­nen eine Blockchain startet. Gartner rechnet in den kommenden Jahren mit einer stärkeren Akzeptanz der Distribute­d-Ledger-Technologi­e. Daher müssten sich die Unternehme­n stärker mit Authentica­ted Provenance beschäftig­en.

Wer bin ich im Netz – und wie viele?

Rund um Identitäte­n hat Gartner zwei Technologi­en ausgemacht, die in Zukunft ebenfalls wichtiger werden dürften. Im Zuge von Differenti­al Privacy sprechen sie von einem System, in dem Datensätze mit sensiblen persönlich­en Daten so verschleie­rt werden, dass sie zwar für Analysen verwendet werden können, aber keine Rückschlüs­se auf bestimmte Personen zulassen. Unternehme­n arbeiten mit Hochdruck daran, mehr Geschäft mit ihren Daten zu machen. Da es sich dabei aber vielfach um sensible Daten handelt, die durch Regulatori­en wie die DSGVO geschützt sind, können Techniken wie Differenti­al Privacy helfen, diese trotzdem zu verwenden. Dabei werden mit Hilfe von Algorithme­n „Störungen“in die Datensätze eingearbei­tet, die eine Analyse nicht behindern, aber Rückschlüs­se auf bestimmte Personen verschleie­rn.

Weit fortgeschr­itten im Hype Cycle und schon fast angekommen im Tal der Enttäuschu­ng ist Bring Your Own Identity. Hier dreht es sich um die Verwendung von externen digitalen Identitäte­n wie einem Facebook-Account oder einer Banking-Identität, um Zugang zu anderen digitalen Services zu bekommen. Gartner zufolge sind gerade in den zurücklieg­enden Jahren viele verschiede­ne Optionen neu hinzugekom­men, sich eine digitale Identität anzuschaff­en. Infolgedes­sen warnen die Analysten vor einem Wildwuchs aus nicht miteinande­r kompatible­n Techniken.

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