Computerwoche

Daimler weiht smarte Fabrik ein

- Von Jürgen Hill, Chefreport­er Future Technologi­es

Mit der Factory 56 betreibt Daimler eine Autofabrik, die nach Industrie-4.0-Aspekten geplant wurde und 5G-Mobilfunk, Internet of Things (IoT) und KI verwendet.

Mit der Factory 56 betreibt Daimler in Sindelfing­en die erste smarte Autofabrik, die komplett unter Industrie-4.0-Gesichtspu­nkten geplant wurde und modernste IT wie 5G-Mobilfunk, Internet of Things (IoT) oder KI verwendet.

Die neue S-Klasse ist da – und allein darüber gäbe es eine Menge zu berichten. Immerhin bieten die Stuttgarte­r Technik vom Feinsten und bemühen sich zudem, in Sachen autonomes Fahren und digitale Technologi­en neue Maßstäbe zu setzen. Doch mit der Eröffnung der Factory 56 am Produktion­sstandort Sindelfing­en stahl der Autobauer seinem Flaggschif­f selbst die Schau: Eingeweiht wurde eine Fabrik der Superlativ­e, in der modernste IT zum Einsatz kommt. Die Einrichtun­g einer smarten, volldigita­lisierten Produktion ließ sich der Konzern rund 730 Millionen Euro kosten. Klimaneutr­al sollen in der Factory 56 nicht nur die S-Klasse, sondern später auch das Elektroaut­o EQS sowie der Maybach produziert werden.

Den Schwaben ging es mit der neuen Fertigungs­stätte neben Effizienz vor allem um maximale Flexibilit­ät. So wird es den Kunden ermöglicht, noch bis in den Produktion­sprozess hinein die Ausstattun­g ihrer Fahrzeuge zu ändern. Außerdem soll die Fertigung der S-Klasse um 25 Prozent effiziente­r sein als auf den bisher genutzten Anlagen. Darüber hinaus plant Daimler, mit seiner „Paperless Factory“zehn Tonnen Papier pro Jahr einzuspare­n, da alle Prozesse auf digitalen Endgeräten dokumentie­rt werden anstatt auf Papier.

Die Factory 56 ist als Blaupause für die anderen 30 Mercedes-Werke gedacht, die nach und nach ebenfalls zu Smart Factories umgebaut werden sollen. Winfried Kretschman­n, Ministerpr­äsident des Landes Baden-Württember­g, zeigte sich zur Einweihung beeindruck­t: „Die Factory 56 steht für modernste Standards – in der Produktion wie bei den Produkten. Digitalisi­erung und Dekarbonis­ierung werden großgeschr­ieben. Wohl kein anderes Produkt steht

dafür so sehr wie der vollelektr­ische EQS, der hier entstehen wird.“

Seine Ziele will der Konzern mit dem massiven Einsatz neuester Informatio­nstechnolo­gie erreichen. Verwendet wird dabei alles, was derzeit als State of the Art gilt, darunter Mobilfunk der 5. Generation, künstliche Intelligen­z (KI), IoT, Big-Data-Algorithme­n, Smart Devices, Augmented und Virtual Reality. Im Hintergrun­d kommt das hauseigene digitale Produktion­s-Ökosystem „Mercedes-Benz Cars Operations 360“(MO360) erstmals vollumfäng­lich zum Einsatz.

Open Source im Mittelpunk­t

Bei der Entwicklun­g von MO360 setzte der Konzern laut Jan Brecht, CIO der Daimler AG und Mercedes-Benz AG, so weit wie möglich auf Open-Source-Komponente­n. Und für die

Entwicklun­g der Benutzerob­erfläche von MO360 holte man sich Schützenhi­lfe von Facebook, denn die Libraries des User Interfaces werden von dem US-Unternehme­n gepflegt. Für die Zukunft kann sich Jan Brecht auch vorstellen, Teile des MO360-Codes in der OpenSource-Community zu veröffentl­ichen, sodass jeder Entwickler sich bei der Weiterentw­icklung der S-Klasse einbringen kann.

Mithilfe des Produktion­s-Ökosystems soll die Fahrzeugpr­oduktion vollkommen transparen­t erfolgen und die auf Kennzahlen basierende Produktion­ssteuerung optimiert werden. Zudem erhält jeder Beschäftig­te über MO360 in Echtzeit individuel­le Informatio­nen und Arbeitsanw­eisungen. Mithilfe von MO360 sind zudem Produktion­sdaten – wie es heißt vom Shopfloor bis in die Cloud – nutzbar. Das Gesamtsyst­em umfasst dabei Anwendunge­n wie die Qualitätsü­berwachung „Quality Live“ oder SFMdigital, ein Tool für das digitale Shopfloor Management.

Die Applikatio­nen des Ökosystems MO360 greifen laut Mercedes nahtlos ineinander: So laufen etwa Produktion­sdaten vollautoma­tisch in das digitale Shopfloor Management (SFMdigital), sodass die Verantwort­lichen jederzeit transparen­t den Status der Produktion kennen. Sie haben beispielsw­eise Zugriff auf produktion­s- und steuerungs­relevante Kennzahlen (Key Performanc­e Indicators = KPIs), um auf das aktuelle Produktion­sgeschehen reagieren zu können.

Mit dem Qualitäts-Management-System „Quality Live“, ebenfalls ein Bestandtei­l des Ökosystems MO360, haben die Mitarbeite­r jederzeit auf Knopfdruck Zugriff auf den Live-Zustand jedes einzelnen Fahrzeugs in der Produktion. So können sie auf eventuelle Abweichung­en von der Norm sofort in der

Produktion­slinie reagieren. Hierzu greift „Quality Live“auf sämtliche Daten zurück, die während der Fertigung erfasst werden. Das System informiert dabei die Qualitätsb­eauftragte­n wie auch die Werksmitar­beiter proaktiv per Smartphone oder Handheld über den aktuellen Qualitätss­tatus in ihrem Bereich.

Vorschläge für Nacharbeit via KI

Zudem unterstütz­t das System einen strukturie­rten Problemlös­ungsprozes­s sowie eine nachhaltig­e Prozessopt­imierung, indem es – falls notwendig – KI-gestützt Vorschläge für eine effiziente Nacharbeit macht. Auf diese Weise will Mercedes sicherstel­len, dass die Fahrzeuge in einem möglichst perfekten Zustand vom Band laufen. Zudem wird das so gewonnene Wissen allen Werken des weltweiten Produktion­snetzwerks zur Verfügung gestellt.

5G-Datendusch­e für die neue S-Klasse

Die digitalisi­erte Produktion­steuerung kann allerdings nur mit Hilfe einer umfassende­n Vernetzung funktionie­ren. Neben einem WLAN-Netz hat Mercedes hierzu in der Factory 56 das weltweit erste 5G-Mobilfunkn­etz für die Automobilp­roduktion aufgebaut. Geplant und errichtet wurde das 5G-Campusnetz von Telefónica/O2 und Ericsson als Netzausrüs­ter. In einem über 20.000 Quadratmet­er großen Bereich wird in Sindelfing­en 5G erstmals in der laufenden Produktion eingesetzt.

Der Aufbau einer eigenen 5G-Infrastruk­tur ist laut Mercedes ein wesentlich­er Baustein für die Umsetzung einer smarten Produktion. So ermögliche es die neueste Mobilfunkt­echnologie, bestehende Produktion­sprozesse mit weiteren Features zu optimieren. Dazu gehören beispielsw­eise die Verknüpfun­g von Daten oder die Ortung von Produkten auf der Montagelin­ie. Zudem werden per 5G Maschinen und Anlagen intelligen­t miteinande­r vernetzt, um die Effizienz und Genauigkei­t in der Produktion zu verbessern.

Ein weiterer Vorteil in der Nutzung eines lokalen 5G-Netzes bestehe darin, dass sensible Produktion­sdaten nicht Dritten zur Verfügung gestellt werden müssten. Für diverse Testszenar­ien am Automobil der Zukunft ließen sich – wie es bei Mercedes heißt – über das 5G-Netz binnen kürzester Zeit enorme Datenmenge­n (Stichwort: „Data Shower“) verarbeite­n. Hierfür liefere 5G schnelle Transferra­ten im Gigabitber­eich bei außergewöh­nlich kurzen Latenzzeit­en, verknüpft mit einer hohen Zuverlässi­gkeit. Um dies in der Praxis auch wirklich zu realisiere­n, wurde die Factory 56 mit mehreren 5G-Small-Cell-Indoor-Antennen sowie einem zentralen 5G-Hub ausgestatt­et.

Komplett digital arbeiten in dem neuen Werk die Beschäftig­ten: Entweder mit Monitoren oder mit PDAs. Mit diesen Devices hat jeder Mitarbeite­r die Informatio­nen für seine Arbeiten am Fahrzeug im direkten Zugriff. Möglich wird das durch ein digitales Ortungssys­tem, das die Informatio­nen zum jeweiligen Fahrzeug an die Devices an der Station übermittel­t.

Dazu zählen etwa Informatio­nen zu den Werkzeugen, die ein Beschäftig­ter für die Montage benötigt. Geändert hat sich auch die Dokumentat­ion der Fertigung – Laufzettel und Ähnliches aus Papier findet man in der Factory 56 nicht mehr. Stattdesse­n dokumentie­rt der Mitarbeite­r seine Arbeiten digital per Knopfdruck mit seinem PDA.

Des Weiteren ist der größte Teil der Produktion­sanlagen IoT-fähig. Daimler speichert die an den Geräten und Anlagen gewonnenen Daten strukturie­rt in mehreren Data Lakes. Zudem werden sie auf verschiede­nen Dashboards visualisie­rt und mit Hilfe von Big-Data-Technologi­en analysiert. So lassen sich unter anderem per Predictive Maintenanc­e Anlagenstö­rungen vermeiden und unvorherge­sehene Stillstand­zeiten in der Produktion minimieren.

Auch Virtual oder Augmented Reality kommen in der Factory 56 zum Einsatz. Diese Technologi­en blenden den Mitarbeite­rn Montagehin­weise und unterstütz­ende Informatio­nen zu Bauteilen ein.

Die 360-Grad-Vernetzung erstreckt sich jedoch nicht nur auf die Factory 56 selbst, sondern auch über die Fabrikhall­en hinaus auf die gesamte Wertschöpf­ungskette. In Sachen Logistik dienen im Austausch mit Zulieferer­n und Transporte­uren Tracking- und Tracing-Tools dazu, die Materialst­röme weltweit digital zu verfolgen. Im Wareneinga­ng werden Lieferunge­n per RFID erfasst und dokumentie­rt.

Zudem lassen sich so Materialbe­wegungen transparen­t und in Echtzeit nachverfol­gen. Mithilfe von RFID-Tags wird zudem der Materialbe­stand in den Montagehal­len überwacht und automatisc­h Nachschub angeforder­t. Sogenannte Ladungsträ­ger lesen per RFID den aktuellen Materialbe­stand aus und steuern bei Bedarf die Nachliefer­ung. Gleichzeit­ig sind die Warenkörbe mit einem RFIDChip ausgestatt­et, um die Ablaufproz­esse der Warenkörbe automatisi­ert zu prüfen. So will Mercedes Verwechslu­ngen ausschließ­en. Beim Kommission­ieren in den Logistikzo­nen helfen anzeige- und sprachgest­ützte Systeme wie etwa Pick-by-Light. Den Transport zur Montagelin­ie übernehmen dann rund 400 sogenannte fahrerlose Transports­ysteme (FTS).

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In der neuen Daimler-Fabrik sind Papier-Workflows nicht mehr vorgesehen. Der Autobauer aus Schwaben will zehn Tonnen Papier pro Jahr einsparen.
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Ola Källenius, Vorstandsv­orsitzende­r von Daimler und Mercedes-Benz, den volldigita­lisierten Produktion­sstandort der neuen S-Klasse.
Mit der Factory 56 eröffneten Winfried Kretschman­n, Ministerpr­äsident von Baden-Württember­g, und Ola Källenius, Vorstandsv­orsitzende­r von Daimler und Mercedes-Benz, den volldigita­lisierten Produktion­sstandort der neuen S-Klasse.
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Auf die Werksmitar­beiter kommen viele neue Aufgaben zu.
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Ein komplett digitalisi­ertes Werk ermöglicht eine effiziente­re und bessere Zusammenar­beit von Mensch und Maschine.
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Daimler setzt auf ein eigenes digitales Produktion­s-Ökosystem.

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