Daimler weiht smarte Fabrik ein
Mit der Factory 56 betreibt Daimler eine Autofabrik, die nach Industrie-4.0-Aspekten geplant wurde und 5G-Mobilfunk, Internet of Things (IoT) und KI verwendet.
Mit der Factory 56 betreibt Daimler in Sindelfingen die erste smarte Autofabrik, die komplett unter Industrie-4.0-Gesichtspunkten geplant wurde und modernste IT wie 5G-Mobilfunk, Internet of Things (IoT) oder KI verwendet.
Die neue S-Klasse ist da – und allein darüber gäbe es eine Menge zu berichten. Immerhin bieten die Stuttgarter Technik vom Feinsten und bemühen sich zudem, in Sachen autonomes Fahren und digitale Technologien neue Maßstäbe zu setzen. Doch mit der Eröffnung der Factory 56 am Produktionsstandort Sindelfingen stahl der Autobauer seinem Flaggschiff selbst die Schau: Eingeweiht wurde eine Fabrik der Superlative, in der modernste IT zum Einsatz kommt. Die Einrichtung einer smarten, volldigitalisierten Produktion ließ sich der Konzern rund 730 Millionen Euro kosten. Klimaneutral sollen in der Factory 56 nicht nur die S-Klasse, sondern später auch das Elektroauto EQS sowie der Maybach produziert werden.
Den Schwaben ging es mit der neuen Fertigungsstätte neben Effizienz vor allem um maximale Flexibilität. So wird es den Kunden ermöglicht, noch bis in den Produktionsprozess hinein die Ausstattung ihrer Fahrzeuge zu ändern. Außerdem soll die Fertigung der S-Klasse um 25 Prozent effizienter sein als auf den bisher genutzten Anlagen. Darüber hinaus plant Daimler, mit seiner „Paperless Factory“zehn Tonnen Papier pro Jahr einzusparen, da alle Prozesse auf digitalen Endgeräten dokumentiert werden anstatt auf Papier.
Die Factory 56 ist als Blaupause für die anderen 30 Mercedes-Werke gedacht, die nach und nach ebenfalls zu Smart Factories umgebaut werden sollen. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, zeigte sich zur Einweihung beeindruckt: „Die Factory 56 steht für modernste Standards – in der Produktion wie bei den Produkten. Digitalisierung und Dekarbonisierung werden großgeschrieben. Wohl kein anderes Produkt steht
dafür so sehr wie der vollelektrische EQS, der hier entstehen wird.“
Seine Ziele will der Konzern mit dem massiven Einsatz neuester Informationstechnologie erreichen. Verwendet wird dabei alles, was derzeit als State of the Art gilt, darunter Mobilfunk der 5. Generation, künstliche Intelligenz (KI), IoT, Big-Data-Algorithmen, Smart Devices, Augmented und Virtual Reality. Im Hintergrund kommt das hauseigene digitale Produktions-Ökosystem „Mercedes-Benz Cars Operations 360“(MO360) erstmals vollumfänglich zum Einsatz.
Open Source im Mittelpunkt
Bei der Entwicklung von MO360 setzte der Konzern laut Jan Brecht, CIO der Daimler AG und Mercedes-Benz AG, so weit wie möglich auf Open-Source-Komponenten. Und für die
Entwicklung der Benutzeroberfläche von MO360 holte man sich Schützenhilfe von Facebook, denn die Libraries des User Interfaces werden von dem US-Unternehmen gepflegt. Für die Zukunft kann sich Jan Brecht auch vorstellen, Teile des MO360-Codes in der OpenSource-Community zu veröffentlichen, sodass jeder Entwickler sich bei der Weiterentwicklung der S-Klasse einbringen kann.
Mithilfe des Produktions-Ökosystems soll die Fahrzeugproduktion vollkommen transparent erfolgen und die auf Kennzahlen basierende Produktionssteuerung optimiert werden. Zudem erhält jeder Beschäftigte über MO360 in Echtzeit individuelle Informationen und Arbeitsanweisungen. Mithilfe von MO360 sind zudem Produktionsdaten – wie es heißt vom Shopfloor bis in die Cloud – nutzbar. Das Gesamtsystem umfasst dabei Anwendungen wie die Qualitätsüberwachung „Quality Live“ oder SFMdigital, ein Tool für das digitale Shopfloor Management.
Die Applikationen des Ökosystems MO360 greifen laut Mercedes nahtlos ineinander: So laufen etwa Produktionsdaten vollautomatisch in das digitale Shopfloor Management (SFMdigital), sodass die Verantwortlichen jederzeit transparent den Status der Produktion kennen. Sie haben beispielsweise Zugriff auf produktions- und steuerungsrelevante Kennzahlen (Key Performance Indicators = KPIs), um auf das aktuelle Produktionsgeschehen reagieren zu können.
Mit dem Qualitäts-Management-System „Quality Live“, ebenfalls ein Bestandteil des Ökosystems MO360, haben die Mitarbeiter jederzeit auf Knopfdruck Zugriff auf den Live-Zustand jedes einzelnen Fahrzeugs in der Produktion. So können sie auf eventuelle Abweichungen von der Norm sofort in der
Produktionslinie reagieren. Hierzu greift „Quality Live“auf sämtliche Daten zurück, die während der Fertigung erfasst werden. Das System informiert dabei die Qualitätsbeauftragten wie auch die Werksmitarbeiter proaktiv per Smartphone oder Handheld über den aktuellen Qualitätsstatus in ihrem Bereich.
Vorschläge für Nacharbeit via KI
Zudem unterstützt das System einen strukturierten Problemlösungsprozess sowie eine nachhaltige Prozessoptimierung, indem es – falls notwendig – KI-gestützt Vorschläge für eine effiziente Nacharbeit macht. Auf diese Weise will Mercedes sicherstellen, dass die Fahrzeuge in einem möglichst perfekten Zustand vom Band laufen. Zudem wird das so gewonnene Wissen allen Werken des weltweiten Produktionsnetzwerks zur Verfügung gestellt.
5G-Datendusche für die neue S-Klasse
Die digitalisierte Produktionsteuerung kann allerdings nur mit Hilfe einer umfassenden Vernetzung funktionieren. Neben einem WLAN-Netz hat Mercedes hierzu in der Factory 56 das weltweit erste 5G-Mobilfunknetz für die Automobilproduktion aufgebaut. Geplant und errichtet wurde das 5G-Campusnetz von Telefónica/O2 und Ericsson als Netzausrüster. In einem über 20.000 Quadratmeter großen Bereich wird in Sindelfingen 5G erstmals in der laufenden Produktion eingesetzt.
Der Aufbau einer eigenen 5G-Infrastruktur ist laut Mercedes ein wesentlicher Baustein für die Umsetzung einer smarten Produktion. So ermögliche es die neueste Mobilfunktechnologie, bestehende Produktionsprozesse mit weiteren Features zu optimieren. Dazu gehören beispielsweise die Verknüpfung von Daten oder die Ortung von Produkten auf der Montagelinie. Zudem werden per 5G Maschinen und Anlagen intelligent miteinander vernetzt, um die Effizienz und Genauigkeit in der Produktion zu verbessern.
Ein weiterer Vorteil in der Nutzung eines lokalen 5G-Netzes bestehe darin, dass sensible Produktionsdaten nicht Dritten zur Verfügung gestellt werden müssten. Für diverse Testszenarien am Automobil der Zukunft ließen sich – wie es bei Mercedes heißt – über das 5G-Netz binnen kürzester Zeit enorme Datenmengen (Stichwort: „Data Shower“) verarbeiten. Hierfür liefere 5G schnelle Transferraten im Gigabitbereich bei außergewöhnlich kurzen Latenzzeiten, verknüpft mit einer hohen Zuverlässigkeit. Um dies in der Praxis auch wirklich zu realisieren, wurde die Factory 56 mit mehreren 5G-Small-Cell-Indoor-Antennen sowie einem zentralen 5G-Hub ausgestattet.
Komplett digital arbeiten in dem neuen Werk die Beschäftigten: Entweder mit Monitoren oder mit PDAs. Mit diesen Devices hat jeder Mitarbeiter die Informationen für seine Arbeiten am Fahrzeug im direkten Zugriff. Möglich wird das durch ein digitales Ortungssystem, das die Informationen zum jeweiligen Fahrzeug an die Devices an der Station übermittelt.
Dazu zählen etwa Informationen zu den Werkzeugen, die ein Beschäftigter für die Montage benötigt. Geändert hat sich auch die Dokumentation der Fertigung – Laufzettel und Ähnliches aus Papier findet man in der Factory 56 nicht mehr. Stattdessen dokumentiert der Mitarbeiter seine Arbeiten digital per Knopfdruck mit seinem PDA.
Des Weiteren ist der größte Teil der Produktionsanlagen IoT-fähig. Daimler speichert die an den Geräten und Anlagen gewonnenen Daten strukturiert in mehreren Data Lakes. Zudem werden sie auf verschiedenen Dashboards visualisiert und mit Hilfe von Big-Data-Technologien analysiert. So lassen sich unter anderem per Predictive Maintenance Anlagenstörungen vermeiden und unvorhergesehene Stillstandzeiten in der Produktion minimieren.
Auch Virtual oder Augmented Reality kommen in der Factory 56 zum Einsatz. Diese Technologien blenden den Mitarbeitern Montagehinweise und unterstützende Informationen zu Bauteilen ein.
Die 360-Grad-Vernetzung erstreckt sich jedoch nicht nur auf die Factory 56 selbst, sondern auch über die Fabrikhallen hinaus auf die gesamte Wertschöpfungskette. In Sachen Logistik dienen im Austausch mit Zulieferern und Transporteuren Tracking- und Tracing-Tools dazu, die Materialströme weltweit digital zu verfolgen. Im Wareneingang werden Lieferungen per RFID erfasst und dokumentiert.
Zudem lassen sich so Materialbewegungen transparent und in Echtzeit nachverfolgen. Mithilfe von RFID-Tags wird zudem der Materialbestand in den Montagehallen überwacht und automatisch Nachschub angefordert. Sogenannte Ladungsträger lesen per RFID den aktuellen Materialbestand aus und steuern bei Bedarf die Nachlieferung. Gleichzeitig sind die Warenkörbe mit einem RFIDChip ausgestattet, um die Ablaufprozesse der Warenkörbe automatisiert zu prüfen. So will Mercedes Verwechslungen ausschließen. Beim Kommissionieren in den Logistikzonen helfen anzeige- und sprachgestützte Systeme wie etwa Pick-by-Light. Den Transport zur Montagelinie übernehmen dann rund 400 sogenannte fahrerlose Transportsysteme (FTS).