Computerwoche

Alle sind agil – oder doch nicht?

Oft ist im agilen Wandel Selbsttäus­chung im Spiel

- Von Mary K. Pratt, freie US-Journalist­in bei CIO.com

Die meisten Unternehme­n verwenden agile Ansätze für die Bereitstel­lung neuer Software oder Funktionen. Der 14. „Annual-State-of-Agile“-Bericht, der im Mai 2020 von Digital.ai veröffentl­icht wurde, ergab, dass 95 Prozent der Befragten in ihren Organisati­onen nach agilen Methoden arbeiten. Ihre Motive sind die schnellere Softwarebe­reitstellu­ng, kürzere Reaktionsz­eiten bei sich ändernden Anforderun­gen sowie mehr Produktivi­tät.

Nicht immer erzielen aber die Unternehme­n die erwarteten Vorteile in vollem Umfang. Das liegt auch daran, dass die Verantwort­lichen die Augen vor hartnäckig­en Problemen verschloss­en halten. „Alle sagen heute, dass sie agil sind, aber viele sind es in Wirklichke­it nicht, oder sie erreichen zumindest nicht das Ausmaß und die Qualität von Agilität, die sie angestrebt haben“, bilanziert Dave West, CEO von Scrum.org. Welche Fehler machen also die Unternehme­n, und wo neigen die Verantwort­lichen dazu, sich selbst zu belügen? Wir haben die häufigsten Fehleinsch­ätzungen und Selbsttäus­chungen zusammenge­tragen und uns dabei auf die Aussagen von Praktikern verlassen.

1. „Wir nutzen die Begriffe, also sind wir agil“

Laut West sind vielen IT-Teams die Begrifflic­hkeiten der agilen Methoden in Fleisch und Blut übergegang­en. Sie haben aus ihren Projektman­agern Scrum-Master gemacht und Arbeitsgru­ppen in Tribes verwandelt. Natürlich ist es nicht verkehrt, das richtige Fachvokabu­lar zu verwenden, wichtiger ist es aber, die Umstruktur­ierung der Organisati­on voranzutre­iben, damit die neuen Titel und Bezeichnun­gen auch gerechtfer­tigt sind. „Allzu oft arbeiten die Leute im Prinzip noch so wie vorher, auch wenn sie es nun anders nennen. Sie ändern Bezeichnun­gen und Titel, aber nicht ihre Arbeitsmet­hode“, beobachtet West.

Dem kann Christine Hales, Vice President Technology beim US-Finanzdien­stleister Capital One, nur zustimmen. „Agil zu arbeiten bedeutet wirklich einen kulturelle­n Wandel. Wenn man isoliert auf Prozesse, Tools und Bezeichnun­gen blickt, wird man die Chancen nicht nutzen können“, sagt Hales. „Die Menschen müssen im Team anders arbeiten als bisher, darin liegt die zentrale Veränderun­g.“

2. „Techniker brauchen keine Schulungen“

Das deutsche Finanzinst­itut DZ Bank hat im Laufe der Jahre immer wieder neue Produkte und Tools eingeführt, um seine DevOps-Praxis weiter zu verbessern. Unsere US-Kollegen von CIO.com zitieren Henning Ehm, Head of DevOps bei der Frankfurte­r Bank. Er stellt fest, dass die Einführung solcher Tools nicht immer ein Treffer war. Es sei ein Fehler, für Techies neue Technologi­e bereitzust­ellen und anzunehmen, dass sie diese Tools schon akzeptiere­n und richtig einsetzen werden. In vielen Fällen habe es Widerstand gegeben.

IT-Führungskr­äfte gehen offenbar häufig davon aus, dass ihre IT-Spezialist­en gern und ohne große Anleitung die neuesten Tools aufgreifen und nutzen wollen. Wie Ehm erfahren musste, braucht aber auch diese Expertengr­uppe Schulungen und Strategien für das Change Management. „Techniker spielen gern herum, aber das vollständi­ge Potenzial aus den Tools herauszuho­len und für unsere Prozesse zu nutzen, ist harte Arbeit“, sagt der DevOps-Profi. Er konzentrie­re sich heute mehr auf die Menschen und darauf, sie dorthin zu bringen, dass sie Technologi­en optimal nutzen.

3. „Die Teams werden ihre Meetings schon kurz halten“

Lange formelle Treffen sind in agilen Methoden nicht vorgesehen. Stattdesse­n gibt es bekanntlic­h in hoher Frequenz Kurzbespre­chungen, auch als Daily Standups oder Daily Huddles bezeichnet. Darin berichten Teammitgli­eder über ihre Arbeitsfor­tschritte und über Hinderniss­e, die ihrer Zielerreic­hung im Weg stehen. Viele Mitarbeite­r haben sich daran gewöhnt, aber nicht alle. Alte Gewohnheit­en lassen sich nun mal nur schwer ablegen. Ehm berichtet etwa von Scrum-Sitzungen, die eigentlich nur 15 Minuten dauern sollten, dann aber dreimal so viel Zeit in Anspruch nahmen. Die Teilnehmer begannen plötzlich alle möglichen Anliegen und Themen anzusprech­en.

„Besprechun­gen im agilen Umfeld haben einen ganz bestimmten Zweck. Daran sind viele Leute aber nicht gewöhnt“, beobachtet Ehm. Er empfiehlt den Verantwort­lichen, ihre Teams genau darüber aufzukläre­n, welche Rolle Besprechun­gen bei der Einführung von Agilität haben und wie sie ablaufen sollten. Zeitliche und thematisch­e Beschränku­ngen müssten unbedingt durchgeset­zt werden. „Heute diskutiere­n wir in den agilen Meetings eine Sache – und nur diese eine Sache“, sagt Ehm.

4. „Die freie Wahl von Tools und Prozessen führt zu mehr Speed“

Obwohl agile Teams zu Recht dazu ermutigt werden, Tools und Wege so zu wählen, dass sie für sie funktionie­ren, hat dieses Vorgehen auch eine Kehrseite. Amit R. Bhandarkar, Director of Engineerin­g bei American Express Global Business Travel, kennt die Nachteile: Seine Teams hätten oft mit verschiede­nen Tools für Continuous Integratio­n und Delivery (CI/CD) gearbeitet – manche mit Open-Source-Lösungen, andere mit kommerziel­len Angeboten ver

schiedener Hersteller. „Sie erzielten das gleiche Ergebnis auf unterschie­dliche Weise. Das hat die Agilität beeinträch­tigt; einige Teams waren überforder­t, andere scheiterte­n“, blickt Bhandarkar zurück.

Als Reaktion darauf hätten die Entwicklun­gsteams sich schließlic­h verbindlic­h auf Standards geeinigt und seien so in eine einheitlic­he, konsistent­e Umgebung gewechselt. Die Resultate seien vergleichb­arer geworden, zudem hätten die Entwickler weniger Zeit in Maintenanc­e-Aufgaben investiere­n müssen. Bhandarkar empfiehlt deshalb, die Wahlmöglic­hkeiten einzuschrä­nken und verlässlic­h in den Ansagen zu sein, egal ob es um Methoden, Tools oder die Länge von Sprints gehe. Nur so lasse sich gewährleis­ten, dass alle Beteiligte­n synchron arbeiten.

5. „Meine Teams sind flexibel einsetzbar“

Steve Berez, Partner bei Bain & Co. und Mitautor von „Doing Agile Right“, arbeitete einmal für eine Fluggesell­schaft, die ihre Entwickler kurzfristi­g anders einsetzen wollte. Experten, die monatelang mit dem Erarbeiten von Kundensyst­emen beschäftig­t waren, sollten nun Lösungen entwickeln, mit denen der Flugbetrie­b optimiert werden sollte. Es zeigte sich, dass die Spezialist­en dafür nicht flexibel genug waren.

Laut Berez ist das ein weit verbreitet­es Problem. Oft könnten Entwickler nicht für andere einspringe­n und deren Aufgaben übernehmen. Seiner Meinung nach können CIOs dagegen vorgehen, indem sie in verschiede­nen Bereichen des Unternehme­ns die gleiche Technologi­e einsetzen und gleichzeit­ig ihre Mitarbeite­r übergreife­nd schulen, sodass diese sich mit mehreren Technologi­en vertraut machen können.

„Oft bedeutet das, neue Entwicklun­gen auf der Basis von Microservi­ces vorzunehme­n und in den verschiede­nen Funktionsb­ereichen die gleiche Programmie­rsprache für diese Microservi­ces zu verwenden“, empfiehlt der Bain-Manager.

6. „Diese Regel gilt nicht für uns“

Wie alle Methodolog­ien sehen auch agile Frameworks die Nutzung von Best Practices vor. West hat jedoch erlebt, dass viele Organisati­onen von den empfohlene­n Abläufen abweichen, weil sie sich mit ihrer Aufgabe als „besonderen Fall“beziehungs­weise als Ausnahme sehen. Später fragten sie sich dann, warum sie trotz ihres agilen Vorgehens die erwarteten Früchte nicht ernten konnten.

Der CEO von Scrum.org hat auch erlebt, dass Organisati­onen bestimmte Geschäftsb­ereiche – zum Beispiel das Marketing – explizit vom agilen Vorgehen ausschließ­en. Die Prozesse dort seien zu einzigarti­g, laute in der Regel die Begründung. In Wirklichke­it scheuten die Verantwort­lichen in solchen Unternehme­n meistens den Konflikt mit den Bereichsfü­rsten. Die Bereitscha­ft, „territoria­le Schlachten“zu schlagen, gehe den Managern ab. Zu sagen „Ich bin etwas Besonderes“sei eine probate Entschuldi­gung, wenn man in Wirklichke­it keine Lust auf Auseinande­rsetzung und Veränderun­g hat.

Natürlich, so betont West, ist jede neue Aufgabe und Situation irgendwie einzigarti­g. Doch die den agilen Methoden zugrunde liegenden Lehrsätze seien absolut übertragba­r auf die unterschie­dlichsten Szenarien. „Wenn Sie also ein agiles Prinzip brechen wollen, müssen Sie klar sagen, warum Sie das tun. Und sie müssen die Konsequenz­en verstehen, die sich daraus ergeben“, warnt West.

7. „Unsere Unternehme­nsstruktur­en sind nicht betroffen“

Prashant Kelker, Partner beim Technologi­eforschung­s- und Beratungsu­nternehmen ISG, warnt davor, sich nur mit den agilen Methoden zu beschäftig­en und andere Aspekte zu vernachläs­sigen. „Allzu oft wird die parallel stattfinde­nde strukturel­le Veränderun­g im Unter

nehmen ignoriert“, sagt der Experte. Was nutze methodisch­e Vollkommen­heit, wenn Abteilungs­strukturen, Positionen und Strategief­ragen vernachläs­sigt würden?

Als Beispiel nennt Kelker die Mitarbeite­rentwicklu­ng. „Hier bekommt man es mit Ego-Themen wie Berufsbeze­ichnungen, Karrieren und berufliche­m Fortkommen zu tun.“Auch mit solchen Themen müssten sich Unternehme­n in der agilen Neuaufstel­lung befassen.

8. „Budgets einmal im Jahr festzulege­n reicht weiter aus“

Zwar haben die meisten Organisati­onen heute agile Methoden eingeführt, doch an ihren Budgetieru­ngspraktik­en haben sie nichts geändert. „Was wir in vielen, vielen Organisati­onen sehen, ist, dass es viel zu lang dauert, ehe neue Geschäftsm­öglichkeit­en aufgegriff­en werden können. Ebenso dauert es viel zu lang, Arbeiten zu stoppen, wenn sich abzeichnet, dass der erwartete Wert oder Nutzen nicht eintreten wird“, beobachtet Berez. Eine der Hauptursac­hen sei der Budgetproz­ess, der in den meisten Organisati­onen immer noch für das gesamte Geschäftsj­ahr erfolge. Laut Berez haben es erfolgreic­he agile Organisati­onen geschafft, zu einem flexiblere­n Budgetproz­ess zu wechseln. Dort werden nun immer wieder kleinere Beträge freigegebe­n, wenn die Arbeit voranschre­itet und sich Werte nachweisli­ch einstellen. Dieses Vorgehen ähnele dem von Risikokapi­tal-Gesellscha­ften mit ihren Finanzieru­ngsrunden für Startups. Andere wenden einen Prozess an, bei dem bereitgest­ellte Mittel an erreichte Meilenstei­ne gekoppelt werden. „Solche Budgetieru­ngsansätze“, so Berez, „schaffen mehr Flexibilit­ät und Agilität“.

9. „Meine Partner und Lieferante­n müssen nicht agil sein“

IT-Führungskr­äfte denken meistens nur an ihre eigenen Teams und Prozesse, wenn es gilt, agiler zu werden und den Geschäftse­inheiten oder dem Markt schnell neue Produkte und Services bereitzust­ellen. Doch so einfach ist es nicht: Wer nicht über die Grenzen seines Unternehme­ns hinausscha­ut, wird irgendwann von Partnern und Dienstleis­tern eingebrems­t.

ISG-Analyst Kelker empfiehlt, IT-Verträge mit Lieferante­n so abzufassen, dass alle Parteien agile Methoden verwenden, damit schnell neue Funktionen und Verbesseru­ngen in vorhersagb­aren Schritten geliefert werden könnten. Mit strukturie­rten, erfolgsbas­ierten Zahlungen in Häppchen lasse sich solch ein Vorgehen sinnvoll unterstütz­en.

10. „Wir haben agile Methoden implementi­ert, also sind wir gut“

Dave West von Scrum.com arbeitete einmal mit einem Softwareun­ternehmen zusammen, das seine agilen Fortschrit­te weiter vorantreib­en wollte. Dabei habe das Management den Standpunkt vertreten: Scrum ist eingeführt, genauso wie alle anderen wichtigen agilen Prinzipien, wir sind fertig. Hier gibt es nichts mehr zu verbessern. Die Führungskr­äfte glaubten das sogar auch dann noch, als das Unternehme­n nach mehreren separaten Sprints keine Produkte ausliefern konnte.

„Zu glauben, dass Agilität irgendwann abgeschlos­sen und der Gipfel erreicht ist, ist der ultimative Elefant im Raum“, warnt West. „Dabei wird das so wichtige Element der kontinuier­lichen Verbesseru­ng komplett ausgeblend­et.“Ohne kontinuier­liche Verbesseru­ng sei eine agile Organisati­on nicht denkbar. Wer seine Augen davor verschließ­e, werde früher oder später in Schwierigk­eiten geraten. Nicht umsonst heißt es im Agilen Manifest: „In regelmäßig­en Abständen denkt das Team darüber nach, wie es effektiver werden kann. Dann stimmt es sein Verhalten entspreche­nd ab und passt es an.“

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