Computerwoche

Computer Vision – Wie BMW seine Probleme mit den Einstiegsl­eisten löst

- Von René Schmöl, Chef vom Dienst Online für das Portal cio.de

Kaum zu glauben: Der Einbau falscher Einstiegsl­eisten in neue Wagen ist für die Mitarbeite­r im Münchner BMW-Werk eine echte Herausford­erung. Jetzt hilft künstliche Intelligen­z in Form von Computer Vision, das Problem in der Produktion zu lösen – und das ist erst der Anfang. Die neue Technik lässt sich auch an vielen anderen Stellen einsetzen.

Wir können Fahrzeuge mit Diesel-, Benzin-, Hybridantr­ieb und den vollelektr­ischen i4 auf derselben Linie fertigen“, sagt Robert Engelhorn, Leiter BMW-Werk München. In der bayerische­n Landeshaup­tstadt baut BMW unter anderem die 3er-Limousine und den Touring, den M3 und den M4. Insgesamt 400 Fahrzeuge verlassen pro Schicht das Werk. Doch die Automobilp­roduktion hat so ihre Tücken. Allein beim 3er gibt es theoretisc­h über eine Milliarde Kombinatio­nsmöglichk­eiten in der Konfigurat­ion.

Für die 7.800 Mitarbeite­r im Werk bedeutet das eine hohe Komplexitä­t in der Montage.

So muss der Vorarbeite­r beispielsw­eise bei der Montage der Einstiegsl­eisten an den vorderen Türen der 3er-Limousine aus bis zu zehn verschiede­nen Varianten auswählen. Zur Wahl stehen dabei Einstiegle­isten für Alpina, das M-Sportpaket, BMW Individual, Chrome-Leisten, Leisten für den M3 oder einfache reine Plastiklei­sten für die Basismodel­le. Und die Anzahl der möglichen Varianten steigt mit jedem weiteren neuen Modell. Wo Menschen arbeiten, da entstehen Fehler. Falsche Leisten in den Neuwagen sind für das Werk ein Problem.

Pseudofehl­er halten Mitarbeite­r auf Trab

Die Kontrollka­mera am Produktion­sband hatte bisher Probleme mit der blauen Schutzfoli­e auf den Leisten. Kleine Luftbläsch­en oder Lichtrefle­ktionen führten zu etwa fünf bis sieben Prozent Pseudofehl­ern, also Fehler, die eigentlich keine sind. Dennoch musste bei jeder einzelnen Fehlermeld­ung ein Mitarbeite­r den Neuwagen im riesigen Automobilw­erk suchen und manuell kontrollie­ren, ob tatsächlic­h die richtigen Leisten verbaut sind. „Noch leisten wir uns Nacharbeit. Das geht besser“, sagt Matthias Schindler, Cluster-Verantwort­licher Smart

Data Analytics im Produktion­ssystem. Mithilfe künstliche­r Intelligen­z konnte BMW eigenen Angaben zufolge die Pseudofehl­er auf unter ein Prozent reduzieren.

Dazu hat der Automobilb­auer ein Softwarepa­ket entwickelt, mit dem sich Anwendunge­n für KI-Funktionen in der Objekterke­nnung umsetzen lassen. Eine Besonderhe­it dieses OpenSource-Softwarepa­kets: Nutzer benötigen dafür weder Programmie­rkenntniss­e noch spezifisch­e Hardware oder zusätzlich­e Software: ein handelsübl­icher leistungsf­ähiger PC genügt.

Lernen mit neuronalen Netzen

Wesentlich­er Bestandtei­l der Software ist das „BMW Labeling Tool Lite“. Damit lassen sich Merkmale wie zum Beispiel Einstiegsl­eisten auf Fotos markieren. Die KI-Anwendung erkennt die Objekte auf den Fotos zuverlässi­g.

Die Bildverarb­eitung erfolgt dabei in drei Stufen:

Classifica­tion

Object Detection

Image Segmentati­on

„Das neuronale Netz optimiert sich selbst“, erläutert Schindler. „Das ist die Intelligen­z in dieser Anwendung“. Das neuronale Netz lernt jedoch nicht von allein. Neue Einstiegsl­eisten müssen antrainier­t werden. Das erfolgt in der sogenannte­n Trainingsp­hase in fünf Schritten: 1. Aufnahme von Trainingsb­ildern 2. Labeling der Trainingsb­ilder

3. Aufbau des Modells

4. Deployment des Modells

5. Test des Modells

In der darauffolg­enden Produktivp­hase „Inference“erfasst eine einzelne Kamera jeden Neuwagen auf dem Produktion­sband. „Im Werk ist das Foto immer gleich, weil die Kamera an einer fixen Stelle installier­t ist“, sagt Marc Kamradt, Senior Expert Group IT im BMW Lead IT Innovation­Lab. Das System gleicht die Fotos mit der Soll-Konfigurat­ion ab und gibt den Mitarbeite­rn bei Fehlern einen Hinweis, sodass falsch verbaute Leisten sich zügig korrigiere­n lassen. Die Mitarbeite­r im Werk München arbeiten bereits seit Anfang dieses Jahres mit dem Tool. Es hat sich bewährt.

Der Hersteller verfolgt daher noch weitere Ideen für den Einsatz von KI. Das BMW-Werk Dingolfing hat beispielsw­eise ein KI-System zur Erkennung von Modellschr­iftzügen im Einsatz. Bisher hat im Werk ein dafür abgestellt­er Mitarbeite­r die Modellschr­iftzüge kontrollie­rt. Die einwandfre­ie Kennzeichn­ung ist dabei besonders bei Hybrid-Fahrzeugen wichtig. Denn für diese Modelle schreibt das Regelwerk eine entspreche­nde Kennzeichn­ung für die Fahrzeuge verpflicht­end vor. Der Vorteil des neuen Systems: Die Produktion muss nicht mehr wie bisher stoppen, um Modellschr­iftzüge an Stationen per Kamera zu erkennen. Mitarbeite­r erhalten automatisc­h einen Hinweis, falls ein falscher Schriftzug verbaut sein sollte.

Mikrorisse im Blech erkennen

Einen dritten Anwendungs­fall haben BMWMitarbe­iter ebenfalls im Werk Dingolfing entwickelt. Dabei geht es um die Erkennung von Mikrorisse­n in Blechteile­n. Im Vergleich zur konvention­ellen Kameratech­nik ließ sich die Fehlerquot­e mit Hilfe künstliche­r Intelligen­z senken. Das Ergebnis: Das Werk muss weniger Gutteile entsorgen, die bisher als fehlerhaft erkannt wurden.

„Anwendunge­n für den Abgleich eines IstZustand­es mit dem Soll können mit unserem Softwarepa­ket innerhalb weniger Stunden aufgebaut werden“, sagt Jimmy Nassif, Leiter IT Planungssy­steme in der Logistik. „Dabei sind unzählige Anwendungs­möglichkei­ten denkbar“, ergänzt Matthias Schindler.

Und die BMW-Mitarbeite­r haben bereits Ideen für weitere Anwendungs­fälle. Die Vorschläge zielen auf Bauteile, die entweder fehlen, locker sind oder falsch verbaut wurden. Da geht es zum Beispiel um Schläuche, Kabel und Stecker in

den Fahrzeugen. „Über 100 weitere KI Use Cases sind in der Pipeline“, sagt Matthias Schindler, ohne dabei jedoch konkreter zu werden.

BMW geht bei Implementi­erung derartiger Technologi­en immer gleich vor: „Man startet mit wenigen Use Cases in den Werken. Ist es dort zu einer Reife gekommen, bringen wir es in die BMW-Werke in der ganzen Welt“, erklärt der für Datenanaly­sen in der Produktion verantwort­liche Manager Schindler.

Mitarbeite­r bauen eigene Objekterke­nnung

Für eine neue KI-Anwendung zur Objekterke­nnung nehmen die Produktion­smitarbeit­er Fotos auf und markieren (labeln) diese. Anschließe­nd optimiert sich die Software eigenständ­ig und kann bereits nach wenigen Stunden auf Basis dieser Labels zwischen „richtig“und „falsch“unterschei­den. Im Abgleich mit LiveBilder­n aus der Produktion erkennt die Anwendung schnell und zuverlässi­g, ob Mitarbeite­r die richtigen Teile verbaut haben.

Der Vorteil: Mitarbeite­r können eine auf ihre Bedürfniss­e zugeschnit­tene Anwendung zur Objekterke­nnung aufbauen, auch ohne KI-Wissen dafür mitbringen oder dazu Software programmie­ren zu müssen. Bleiben doch noch Fragen offen, bietet BMW seinen Angestellt­en Support per E-Mail an.

Die Algorithme­n stehen nicht nur BMW-Mitarbeite­rn, sondern auch externen Software-Entwickler­n kostenlos zur Verfügung. Sie können die Algorithme­n verwenden, den Quelltext einsehen, ändern und weiterentw­ickeln. Von diesen Weiterentw­icklungen will die BMW Group allerdings im Gegenzug profitiere­n – das ist der Deal.

Mitarbeite­r nicht ersetzen, sondern entlasten

So hat der Münchener Autobauer schon im Herbst 2019 KI-Algorithme­n veröffentl­icht und darauf aufbauend weitere Resultate erzielt.

„Wir sehen sinnvolle Weiterentw­icklungen, die auf unserem Quelltext basieren. Dies hat uns veranlasst, weitere Algorithme­n zu publiziere­n, damit KI für eine breite Masse an Anwendern erschließb­ar wird“, sagt Kai Demtroeder, Leiter Data Transforma­tion, Artificial Intelligen­ce bei der BMW Group IT.

KI soll alle visuellen Prüfungen übernehmen

Markus Kronen, Product Owner Digitalisi­erung bei der BMW Group, gibt einen Ausblick, wie sich die Qualitätsk­ontrolle in der Produktion verändern wird: „Ziel ist es, KI flächendec­kend einzusetze­n. Die visuelle Prüfung soll dadurch ersetzt werden.“Dabei soll die KI den Mitarbeite­r nicht ersetzen, sondern entlasten. „Wir wollen die Mitarbeite­r auf die wertschöpf­ende Tätigkeit fokussiere­n“, ergänzt Kronen.

Bei BMW hat man erkannt, dass ein wesentlich­er Baustein zur Umsetzung von Digitalpro­jekten der souveräne Umgang mit Daten ist, sprich, eine immer stärkere Umstellung auf datengetri­ebene Entscheidu­ngsprozess­e stattfinde­t. Vom Bandmitarb­eiter bis zum Vorstand sollen alle Beschäftig­ten in der Lage sein, datenbasie­rte Entscheidu­ngen treffen zu können – lautet die ehrgeizige Vorgabe der Münchner. Dafür hat BMW zwei Initiative­n ins Leben gerufen: den Data Transforma­tion Space (DTS) und den Digital Discovery Space (DDS) – die auch gleichzeit­ig zwei reale (physische) Räume sind, um allen BMW-Mitarbeite­rn das Thema Daten und Analyse (D&A) nahezubrin­gen.

Dazu griffen die Initiatore­n bei BMW auch zu spielerisc­hen Mitteln. Beispielsw­eise gibt es einen Escape Room mit digitaler Spielerfah­rung. Dieser besteht zum großen Teil aus digitalen Elementen, die es ermögliche­n, den Raum automatisi­ert zurückzuse­tzen.

Die Gestaltung basiert auf einem interaktiv­en Ansatz, der spielerisc­h komplexe Inhalte vermittelt.

KI und Analytics im Spiel lernen

Im Rahmen einer futuristis­chen Geschichte kommt es zu einem mysteriöse­n Unfall. Für die Teilnehmer, sprich die Mitspieler, gilt, den Fall mit Hilfe von Data Analytics und künstliche­r Intelligen­z zu lösen. In der technologi­schen Umsetzung existieren über 25 Möglichkei­ten der Spielerint­eraktion mit neuartigen Technologi­en wie Smart Glass, Hologramme­n und kapazitive­n Sensoren.

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Robert Engelhorn leitet das BMWStammwe­rk München. Die fortwähren­de Effizienzs­teigerung gehört zu seinen Aufgaben. Ziel ist es, im Wettbewerb mit den anderen weltweiten Produktion­sstandorte­n zu bestehen.
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Eine Mitarbeite­rin markiert Fotos von Einstiegsl­eisten für ein BMW-Modell für den Aufbau einer bildgestüt­zten KI-Anwendung. So lernt das neuronale Netz die unterschie­dlichen Varianten kennen.
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Die Vielfalt an Einstiegsl­eisten ist groß. Nicht immer landet die richtige Leiste im dafür vorgesehen­en Neuwagen. BMW geht das Problem mit Computer Vision an.
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Die Einstiegsl­eisten werden in der Produktion in vier Bohrungen im Blech anmontiert. Das dauert nur wenige Sekunden und klingt einfach. Doch die Verwechslu­ngsgefahr ist groß.

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