Wege in die Software Factory ry
Software-Entwicklung kann professioneller werdenn
Jeder Konzern muss heute in großem Maßstab Software entwickeln, da ihr Beitrag zur Wertschöpfung rasant wächst. Ob als eigenständiges Produkt, eingebettet in Hardware, als Plattform für Transaktionen oder für die interne Organisation – Software entscheidet über den Geschäftserfolg. In Sachen „Organizational Excellence“kann die Softwareentwicklung aber oft noch nicht mit anderen Unternehmensbereichen mithalten. Deshalb entwickeln CTOs und CIOs unter Hochdruck Methoden des Digital Engineering, die sicherstellen sollen, dass die hauseigene Software Factory effektiv und sicher produziert.
Die großen Konzerne haben längst verstanden, dass es kaum noch Bereiche geben wird, in denen sie ohne Software erfolgreich sein können. Xiaoqun Clever, ehemalige CTO von ProSiebenSat.1 Media sowie Chief Technology und Data Officer bei der Ringier AG, hält das Software
Engineering in allen Branchen für eine geschäftskritische Funktion. Softwarefabriken schießen nach ihren Beobachtungen wie Pilze aus dem Boden. „Phänomene wie der einfache Zugang zu Rechen- und Speicherleistung, die Open SourceVerfügbarkeit von Algorithmen, maschinelles Lernen oder auch der Zugang zu einer Fülle von Cloud-Diensten machen das Insourcing professionellen Software-Engineerings attraktiv.“
Es bleibt allerdings wenig Zeit, in der Software Factory eine Produktion im Industriemaßstab aufzubauen. Große Softwareprojekte sind eine herausfordernde Aufgabe, an der sich schon so mancher Konzern verhoben hat. Im Gegensatz zu traditionellen Industrieprodukten werden Anwendungen selten pünktlich geliefert und sind niemals komplett fehlerfrei. Ein bedenklich hoher Anteil von Softwarevorhaben scheitert sogar vollständig. In einem solchen Fall stehen die verantwortlichen Unternehmensleitungen dann oft vor der sprichwörtlichen Black Box: Transparenz und gezielte Einflussnahme scheinen unmöglich.
Auf dem Weg zur Software Factory ist es besonders wichtig, agile Organisationsformen und Arbeitsabläufe zu skalieren und dabei Transparenz und Kontrolle zu wahren, sagt Christian Bär, Chief Digital Officer (CDO) der Datev. „Soft
ware Factories lassen sich nicht nach altbekannten Mustern mit direktiver Führung, einer strengen Aufbauorganisation oder einem hierarchisch geprägten Arbeitsklima führen. Gerade in der VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) gilt: Nur die anpassungsfähigen Organisationen werden überleben.“Es brauche ein System, das sich selbst evolutionär weiterentwickeln könne und von vornherein dafür strukturiert sei.
Verantwortung an Mitarbeiter abgeben
Agiler Wandel im Großen setzt voraus, dass Entscheider Verantwortung an Mitarbeiter abgeben. Entwicklungsteams lassen sich an der ihnen übertragenen Verantwortung auch messen. Die dafür notwendigen Instrumente liefert Software Analytics mit Schwerpunkten auf Software Process Mining und Software Product Analytics.
Oliver Laitenberger, Partner der Managementberatung Horn & Company, empfiehlt: „Die Chefetage sollte ihre Software-Entwicklung mithilfe von Daten objektiv planen und steuern können. Das gilt sowohl für klassische Verfahren als auch für das agile Setting. Insbesondere für den Einsatz von Scrum oder dem agilen SAFe-Framework fehlt den Entscheidern oft das erforderliche Instrumentarium.“Laitenberger zufolge verfügen CIOs meistens nur über wenige verlässliche und belastbare Informationen zur Steuerung ihrer Entwicklungsteams. Auch das Verbessern von Softwareprozessen oder das Feststellen inhaltlicher Entwicklungsfortschritte in der Softwareproduktion lasse sich zu häufig nicht genau nachvollziehen. Entscheidungen fallen dann auf Basis einer unzureichenden Datenlage und mit viel Unsicherheit und hohem Risiko.
Der Wunsch nach Transparenz und Messbarkeit steht in keinem Widerspruch zur Agilität und bedeutet keineswegs die Einführung einer hierarchischen Kontrollkultur. Ein engagierter Verfechter eines analytischen und selbstreflektierten Digital Engineering ist Professor Jürgen Döllner vom Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering in Potsdam. Döllner beschäftigt sich damit, wie Unternehmen ihre über Jahre gewachsenen Softwaresysteme, aber auch die Software-Produktionsprozesse analysieren und intuitiv nachvollziehbar machen können.
Seine Vision von einem Digital Boardroom für das Software-Engineering geht letztlich auf einen Impuls von Institutsgründer Hasso Plattner zurück. „Natürlich können wir Software nicht genauso produzieren wie Autos“, so der Wissenschaftler. „Wir müssen aber von den älteren Ingenieurdisziplinen den Anspruch auf Transparenz und rationale Steuerung übernehmen und mit modernen Mitteln und Methoden auf die agile Softwareproduktion anwenden“, sagt Döllner. Die technischen Möglichkeiten dazu gebe es, sie würden aber noch lange nicht ausgeschöpft.
Döllners Aufruf zu einem entschlossenen Digital Engineering trifft viele IT-Verantwortliche in keiner entspannten Situation. Aktuell werden sie von zwei Seiten bedrängt: Einerseits steigt die technische Komplexität in ihrem Aufgabenbereich exponentiell. Andererseits wächst der Druck des Marktes, da Software für den Unternehmenserfolg zu einem entscheidenden Faktor wird. Medienmanagerin Clever fasst die Situation wie folgt zusammen: „Software ist vom Kosten- zum Gewinn-und-Verlust-Mandat geworden. Es geht nicht länger nur darum, die Rentabilität zu verbessern und schlanker, schneller und flexibler zu werden. Es geht um viel mehr!“Ihrer Einschätzung nach ist Software ein entscheidender Faktor geworden, um sich „durch einzigartige Produktmerkmale, Services und Kundenerlebnisse“vom Wettbewerb zu differenzieren. Software helfe neue Arbeitsweisen umzusetzen, die Partnerschaft in digitalen Ökosystem optimal zu managen und in der entstehenden „Plattformwirtschaft“wettbewerbsfähig zu sein.
Transparenz auf allen Ebenen
Worauf kommt es in der Softwareproduktion also an? Es gilt, die Übersicht zu behalten! Den IT-Führungsteams fehlt es nicht an Tools und Techniken, um einzelne isolierte Expertenbereiche innerhalb des Produktionsprozesses transparent zu machen, doch sich allein darauf zu verlassen, birgt die Gefahr der allgemeinen Unübersichtlichkeit. Um die Zügel in der Hand zu behalten, ist Transparenz auf allen Ebenen wichtig. Dabei ist der Gesamtüberblick zentral, doch es muss die Möglichkeit geben, auch tief in die Details spezifischer Teilbereiche hineinzublicken. Nur so können auftauchende Gefahrensignale in weltweit verteilten Entwicklungsteams bis an ihre Wurzel verfolgt werden.
Zu den Pionieren in Sachen Digital Boardrooms gehört Johannes Bohnet, Gründer von Seerene, dem Anbieter einer solchen Plattform. Das Spinoff des Hasso-Plattner-Instituts hilft Konzernen bei der Einrichtung ihrer individuellen Digital Boardrooms, welche die C-Suite und Teamleiter in die Lage versetzen sollen, auf umfassend erhobene Echtzeit-Daten zuzugreifen. Für Bohnet stehen Agilität und Kontrolle in keinem Kulturkonflikt zueinander: „Der direkte Zugriff auf alle strategierelevanten Informationen sorgt vielmehr dafür, dass der Widerspruch zwischen Culture of Trust und Culture of Control aufge
hoben wird. Einzelne Entwicklungsteams können agil und autonom agieren, und gleichzeitig wird auf übergeordneter Ebene eine Steuerung, Ausrichtung und Optimierung auf die globalen Konzernziele möglich.“
Für Bohnet geht es darum, auch in der Softwareentwicklung die vorhandenen Datenschätze strukturiert zusammenzubringen und für die Gesamtorganisation nutzbar zu machen. Aufgrund der Komplexität brauche es dazu automatisierte Analysetools, insbesondere das „Software Development Process Mining“. Mithilfe von Kennzahlen und Meilensteinen könne dann gezielt entlang der übergeordneten Strategie gearbeitet werden.
Mit den Analysetools lässt sich die Performance des Unternehmens darstellen. Als Reaktion darauf lassen sich die KPIs in eine hierarchische Ordnung bringen und zu einem Digital Boardroom verdichten. So können die Verantwortlichen aus der gebotenen Flughöhe den Gesundheitszustand ihrer Software Factory überwachen und bei Handlungsbedarf tiefer einsteigen. Probleme oder Gefahren lassen sich bis ganz hinunter auf die technische Ebene des Sourcecodes und den daran getätigten Änderungen verfolgen.
Digital Boardroom sensibel handhaben
Die wichtigsten Elemente für eine Software Factory sind also Transparenz, die Offenlegung des Handlungsbedarfs sowie gezielte, detaillierte Analyse- und Eingriffsmöglichkeiten. „Software Analytics-Technologie ist heute in der Lage, die Datenspuren aller Tools und Repositories in der Softwareentwicklungs-Infrastruktur zu extrahieren, zu filtern und zu umfassenden strategierelevanten Auswertungen zu verdichten“, erklärt Bohnet. „So kann das technische, aber auch das nicht-technische Management immer informiert und handlungsfähig bleiben.“Soll im Unternehmen ein Digital Boardroom mit allen Konsequenzen eingeführt werden, muss das mit großer Umsicht moderiert werden. Hier werden Informationen zentral gesammelt, das kann bei Mitarbeitern Misstrauen wecken. Ist etwa die Rückkehr zu einer Kultur der Top-down-Kontrolle geplant? Eine Chance besteht darin, die gewonnene Transparenz dazu zu benutzen, den agilen Umbau schneller und entschlossener voranzutreiben.
Obwohl agile Methoden immer stärker um sich greifen, gibt es in fast allen Unternehmen noch Software-Silos, die sich so schnell nicht umstellen lassen. Große Organisationen werden also Strukturen schaffen müssen, die mit Teams gemischter Qualifikation und Motivation arbeiten müssen. Gelingt das nicht, bleibt nur noch die Alternative, die Softwareproduktion auszulagern – verbunden mit den Risiken eines Braindrain.
In manchen Unternehmen ist das schon der Fall, wie Ringier-Managerin Clever beobachtet: „Leider haben über alle Branchen hinweg die
meisten Traditionsunternehmen ihre Schwierigkeiten, die hauseigene Softwareentwicklung im großen Stil zu managen oder ihre Softwarelandschaft effektiv und effizient zu betreiben.“Oft fehle das geeignete Personal, und auch in Sachen Cybersicherheit entstünden Risiken, die kaum noch beherrschbar seien. „Daher beobachte ich den Trend, dass Professional Service Provider beauftragt werden – sogar für die Entwicklung von Produktinnovationen.“
Viele Wege führen zur Software Factory
Sich mit dem Aufbau einer Software Factory zu beschäftigen, ist heute für jedes größere Unternehmen essenziell. „Es ist interessant, wie sich Verantwortliche verschiedener Branchen und Organisationskulturen dem Thema annähern“, sagt Jürgen Döllner vom HassoPlattner-Institut. „Hier ist ein Erfahrungsaustausch von Führungskräften diverser Backgrounds extrem fruchtbar.“
Allen Branchen ist gemeinsam, dass zwar einiges auf den Weg gebracht wurde, man sich aber keinesfalls sicher fühlen kann und die Herausforderungen riesig bleiben. Für viele Mitarbeitende in Traditionsunternehmen ist das neu: Bislang galten die Großkonzerne als Horte wirtschaftlicher Sicherheit, langsame Planungszyklen wurden als selbstverständlich hingenommen. Diese Zeiten sind vorbei – doch wie stellen sich Konzernverantwortliche den aktuellen Herausforderungen?
Leider gibt es nicht den einen Königsweg, den jeder Konzern einschlagen kann, um Softwareproduktion und -wartung im Sinne eines verlässlichen Digital Engineering und in einer ingenieurwissenschaftlich abgesegneten Software Factory zu organisieren. Wenn man die Prozesse im Detail betrachtet, wird es letztlich so viele Wege geben, wie es Konzerne gibt. Es gibt aber Projekttypen, die in bestimmten Situationen geeignet sind, um konkrete Milestones zu erreichen (siehe Kästen auf den Seiten 26, 28 und 29).
Ausblick
Gerade für die großen Konzerne wird es nicht leicht, ihre oft riesigen IT-Abteilungen samt ihren IT-Dienstleister-Armeen in agile Software Factories umzuwandeln. Allerdings beginnen moderne Organisationsformen und agile Arbeitsorganisation nach einer anfänglichen Latenzzeit der Halbherzigkeiten und Lippenbekenntnisse nun wirklich, die Realität in den Konzernen zu prägen. Das ist eine gute Nachricht, viele Senior Executives treiben diese Entwicklung voran. Im nächsten Schritt muss nun die analytische, selbstreflektierende Wirkung eines Digital Engineering helfen, Software Engineering zu einer reifen Ingenieurwissenschaft zu machen. Nur so wird es gelingen, die Arbeit eigenverantwortlich arbeitender, agiler Teams durch eine strategische Übersicht und Einflussnahme zu flankieren. Die autonom agierenden Teams brauchen einen unternehmensweit geltenden Bezugsrahmen. Dafür die richtige Mischung aus Transparenz und agiler Spontaneität zu finden, den richtigen Ton und Rhythmus, das obliegt dem C-Level, zuvorderst den CIOs. Hier geht es aber längst nicht mehr nur um Einzelpersonen, denn das Aufgabenfeld der CIOs ist durch zunehmende Komplexität und Aufgabenvielfalt für eine Person zu groß geworden.
Aufgabe des CIO ist es, die Richtung zu weisen und Ziele anzubieten. Die Software Factory und ihr methodisches Framework des Digital Engineering sind letztlich kommunikative Angebote, komplexe Zusammenhänge zu interpretieren und eine klare Zielvision bereitzustellen – eine Richtung, der agile Teams in ihrer täglichen Arbeit folgen können. Von dieser kommunikativen Warte aus betrachtet ist die Software Factory ein konkretes und konstruktives Ziel, das die Missionen vom einzelnen Entwickler, über die IT-Leitung bis hin zum gesamten Betrieb zu einer zielführenden Vision vereinen kann. Das Management der digitalisierenden Konzerne ist jetzt aufgerufen, diese Vision mit Leben zu füllen!