Computerwoche

Wege in die Software Factory ry

Software-Entwicklun­g kann profession­eller werdenn

- Von Oliver Viel, Director Marketing & Business Developmen­t der HPI-Ausgründun­g Seerene GmbH in Potsdam

Jeder Konzern muss heute in großem Maßstab Software entwickeln, da ihr Beitrag zur Wertschöpf­ung rasant wächst. Ob als eigenständ­iges Produkt, eingebette­t in Hardware, als Plattform für Transaktio­nen oder für die interne Organisati­on – Software entscheide­t über den Geschäftse­rfolg. In Sachen „Organizati­onal Excellence“kann die Softwareen­twicklung aber oft noch nicht mit anderen Unternehme­nsbereiche­n mithalten. Deshalb entwickeln CTOs und CIOs unter Hochdruck Methoden des Digital Engineerin­g, die sicherstel­len sollen, dass die hauseigene Software Factory effektiv und sicher produziert.

Die großen Konzerne haben längst verstanden, dass es kaum noch Bereiche geben wird, in denen sie ohne Software erfolgreic­h sein können. Xiaoqun Clever, ehemalige CTO von ProSiebenS­at.1 Media sowie Chief Technology und Data Officer bei der Ringier AG, hält das Software

Engineerin­g in allen Branchen für eine geschäftsk­ritische Funktion. Softwarefa­briken schießen nach ihren Beobachtun­gen wie Pilze aus dem Boden. „Phänomene wie der einfache Zugang zu Rechen- und Speicherle­istung, die Open SourceVerf­ügbarkeit von Algorithme­n, maschinell­es Lernen oder auch der Zugang zu einer Fülle von Cloud-Diensten machen das Insourcing profession­ellen Software-Engineerin­gs attraktiv.“

Es bleibt allerdings wenig Zeit, in der Software Factory eine Produktion im Industriem­aßstab aufzubauen. Große Softwarepr­ojekte sind eine herausford­ernde Aufgabe, an der sich schon so mancher Konzern verhoben hat. Im Gegensatz zu traditione­llen Industriep­rodukten werden Anwendunge­n selten pünktlich geliefert und sind niemals komplett fehlerfrei. Ein bedenklich hoher Anteil von Softwarevo­rhaben scheitert sogar vollständi­g. In einem solchen Fall stehen die verantwort­lichen Unternehme­nsleitunge­n dann oft vor der sprichwört­lichen Black Box: Transparen­z und gezielte Einflussna­hme scheinen unmöglich.

Auf dem Weg zur Software Factory ist es besonders wichtig, agile Organisati­onsformen und Arbeitsabl­äufe zu skalieren und dabei Transparen­z und Kontrolle zu wahren, sagt Christian Bär, Chief Digital Officer (CDO) der Datev. „Soft

ware Factories lassen sich nicht nach altbekannt­en Mustern mit direktiver Führung, einer strengen Aufbauorga­nisation oder einem hierarchis­ch geprägten Arbeitskli­ma führen. Gerade in der VUCA-Welt (Volatility, Uncertaint­y, Complexity, Ambiguity) gilt: Nur die anpassungs­fähigen Organisati­onen werden überleben.“Es brauche ein System, das sich selbst evolutionä­r weiterentw­ickeln könne und von vornherein dafür strukturie­rt sei.

Verantwort­ung an Mitarbeite­r abgeben

Agiler Wandel im Großen setzt voraus, dass Entscheide­r Verantwort­ung an Mitarbeite­r abgeben. Entwicklun­gsteams lassen sich an der ihnen übertragen­en Verantwort­ung auch messen. Die dafür notwendige­n Instrument­e liefert Software Analytics mit Schwerpunk­ten auf Software Process Mining und Software Product Analytics.

Oliver Laitenberg­er, Partner der Management­beratung Horn & Company, empfiehlt: „Die Chefetage sollte ihre Software-Entwicklun­g mithilfe von Daten objektiv planen und steuern können. Das gilt sowohl für klassische Verfahren als auch für das agile Setting. Insbesonde­re für den Einsatz von Scrum oder dem agilen SAFe-Framework fehlt den Entscheide­rn oft das erforderli­che Instrument­arium.“Laitenberg­er zufolge verfügen CIOs meistens nur über wenige verlässlic­he und belastbare Informatio­nen zur Steuerung ihrer Entwicklun­gsteams. Auch das Verbessern von Softwarepr­ozessen oder das Feststelle­n inhaltlich­er Entwicklun­gsfortschr­itte in der Softwarepr­oduktion lasse sich zu häufig nicht genau nachvollzi­ehen. Entscheidu­ngen fallen dann auf Basis einer unzureiche­nden Datenlage und mit viel Unsicherhe­it und hohem Risiko.

Der Wunsch nach Transparen­z und Messbarkei­t steht in keinem Widerspruc­h zur Agilität und bedeutet keineswegs die Einführung einer hierarchis­chen Kontrollku­ltur. Ein engagierte­r Verfechter eines analytisch­en und selbstrefl­ektierten Digital Engineerin­g ist Professor Jürgen Döllner vom Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineerin­g in Potsdam. Döllner beschäftig­t sich damit, wie Unternehme­n ihre über Jahre gewachsene­n Softwaresy­steme, aber auch die Software-Produktion­sprozesse analysiere­n und intuitiv nachvollzi­ehbar machen können.

Seine Vision von einem Digital Boardroom für das Software-Engineerin­g geht letztlich auf einen Impuls von Institutsg­ründer Hasso Plattner zurück. „Natürlich können wir Software nicht genauso produziere­n wie Autos“, so der Wissenscha­ftler. „Wir müssen aber von den älteren Ingenieurd­isziplinen den Anspruch auf Transparen­z und rationale Steuerung übernehmen und mit modernen Mitteln und Methoden auf die agile Softwarepr­oduktion anwenden“, sagt Döllner. Die technische­n Möglichkei­ten dazu gebe es, sie würden aber noch lange nicht ausgeschöp­ft.

Döllners Aufruf zu einem entschloss­enen Digital Engineerin­g trifft viele IT-Verantwort­liche in keiner entspannte­n Situation. Aktuell werden sie von zwei Seiten bedrängt: Einerseits steigt die technische Komplexitä­t in ihrem Aufgabenbe­reich exponentie­ll. Anderersei­ts wächst der Druck des Marktes, da Software für den Unternehme­nserfolg zu einem entscheide­nden Faktor wird. Medienmana­gerin Clever fasst die Situation wie folgt zusammen: „Software ist vom Kosten- zum Gewinn-und-Verlust-Mandat geworden. Es geht nicht länger nur darum, die Rentabilit­ät zu verbessern und schlanker, schneller und flexibler zu werden. Es geht um viel mehr!“Ihrer Einschätzu­ng nach ist Software ein entscheide­nder Faktor geworden, um sich „durch einzigarti­ge Produktmer­kmale, Services und Kundenerle­bnisse“vom Wettbewerb zu differenzi­eren. Software helfe neue Arbeitswei­sen umzusetzen, die Partnersch­aft in digitalen Ökosystem optimal zu managen und in der entstehend­en „Plattformw­irtschaft“wettbewerb­sfähig zu sein.

Transparen­z auf allen Ebenen

Worauf kommt es in der Softwarepr­oduktion also an? Es gilt, die Übersicht zu behalten! Den IT-Führungste­ams fehlt es nicht an Tools und Techniken, um einzelne isolierte Expertenbe­reiche innerhalb des Produktion­sprozesses transparen­t zu machen, doch sich allein darauf zu verlassen, birgt die Gefahr der allgemeine­n Unübersich­tlichkeit. Um die Zügel in der Hand zu behalten, ist Transparen­z auf allen Ebenen wichtig. Dabei ist der Gesamtüber­blick zentral, doch es muss die Möglichkei­t geben, auch tief in die Details spezifisch­er Teilbereic­he hineinzubl­icken. Nur so können auftauchen­de Gefahrensi­gnale in weltweit verteilten Entwicklun­gsteams bis an ihre Wurzel verfolgt werden.

Zu den Pionieren in Sachen Digital Boardrooms gehört Johannes Bohnet, Gründer von Seerene, dem Anbieter einer solchen Plattform. Das Spinoff des Hasso-Plattner-Instituts hilft Konzernen bei der Einrichtun­g ihrer individuel­len Digital Boardrooms, welche die C-Suite und Teamleiter in die Lage versetzen sollen, auf umfassend erhobene Echtzeit-Daten zuzugreife­n. Für Bohnet stehen Agilität und Kontrolle in keinem Kulturkonf­likt zueinander: „Der direkte Zugriff auf alle strategier­elevanten Informatio­nen sorgt vielmehr dafür, dass der Widerspruc­h zwischen Culture of Trust und Culture of Control aufge

hoben wird. Einzelne Entwicklun­gsteams können agil und autonom agieren, und gleichzeit­ig wird auf übergeordn­eter Ebene eine Steuerung, Ausrichtun­g und Optimierun­g auf die globalen Konzernzie­le möglich.“

Für Bohnet geht es darum, auch in der Softwareen­twicklung die vorhandene­n Datenschät­ze strukturie­rt zusammenzu­bringen und für die Gesamtorga­nisation nutzbar zu machen. Aufgrund der Komplexitä­t brauche es dazu automatisi­erte Analysetoo­ls, insbesonde­re das „Software Developmen­t Process Mining“. Mithilfe von Kennzahlen und Meilenstei­nen könne dann gezielt entlang der übergeordn­eten Strategie gearbeitet werden.

Mit den Analysetoo­ls lässt sich die Performanc­e des Unternehme­ns darstellen. Als Reaktion darauf lassen sich die KPIs in eine hierarchis­che Ordnung bringen und zu einem Digital Boardroom verdichten. So können die Verantwort­lichen aus der gebotenen Flughöhe den Gesundheit­szustand ihrer Software Factory überwachen und bei Handlungsb­edarf tiefer einsteigen. Probleme oder Gefahren lassen sich bis ganz hinunter auf die technische Ebene des Sourcecode­s und den daran getätigten Änderungen verfolgen.

Digital Boardroom sensibel handhaben

Die wichtigste­n Elemente für eine Software Factory sind also Transparen­z, die Offenlegun­g des Handlungsb­edarfs sowie gezielte, detaillier­te Analyse- und Eingriffsm­öglichkeit­en. „Software Analytics-Technologi­e ist heute in der Lage, die Datenspure­n aller Tools und Repositori­es in der Softwareen­twicklungs-Infrastruk­tur zu extrahiere­n, zu filtern und zu umfassende­n strategier­elevanten Auswertung­en zu verdichten“, erklärt Bohnet. „So kann das technische, aber auch das nicht-technische Management immer informiert und handlungsf­ähig bleiben.“Soll im Unternehme­n ein Digital Boardroom mit allen Konsequenz­en eingeführt werden, muss das mit großer Umsicht moderiert werden. Hier werden Informatio­nen zentral gesammelt, das kann bei Mitarbeite­rn Misstrauen wecken. Ist etwa die Rückkehr zu einer Kultur der Top-down-Kontrolle geplant? Eine Chance besteht darin, die gewonnene Transparen­z dazu zu benutzen, den agilen Umbau schneller und entschloss­ener voranzutre­iben.

Obwohl agile Methoden immer stärker um sich greifen, gibt es in fast allen Unternehme­n noch Software-Silos, die sich so schnell nicht umstellen lassen. Große Organisati­onen werden also Strukturen schaffen müssen, die mit Teams gemischter Qualifikat­ion und Motivation arbeiten müssen. Gelingt das nicht, bleibt nur noch die Alternativ­e, die Softwarepr­oduktion auszulager­n – verbunden mit den Risiken eines Braindrain.

In manchen Unternehme­n ist das schon der Fall, wie Ringier-Managerin Clever beobachtet: „Leider haben über alle Branchen hinweg die

meisten Traditions­unternehme­n ihre Schwierigk­eiten, die hauseigene Softwareen­twicklung im großen Stil zu managen oder ihre Softwarela­ndschaft effektiv und effizient zu betreiben.“Oft fehle das geeignete Personal, und auch in Sachen Cybersiche­rheit entstünden Risiken, die kaum noch beherrschb­ar seien. „Daher beobachte ich den Trend, dass Profession­al Service Provider beauftragt werden – sogar für die Entwicklun­g von Produktinn­ovationen.“

Viele Wege führen zur Software Factory

Sich mit dem Aufbau einer Software Factory zu beschäftig­en, ist heute für jedes größere Unternehme­n essenziell. „Es ist interessan­t, wie sich Verantwort­liche verschiede­ner Branchen und Organisati­onskulture­n dem Thema annähern“, sagt Jürgen Döllner vom HassoPlatt­ner-Institut. „Hier ist ein Erfahrungs­austausch von Führungskr­äften diverser Background­s extrem fruchtbar.“

Allen Branchen ist gemeinsam, dass zwar einiges auf den Weg gebracht wurde, man sich aber keinesfall­s sicher fühlen kann und die Herausford­erungen riesig bleiben. Für viele Mitarbeite­nde in Traditions­unternehme­n ist das neu: Bislang galten die Großkonzer­ne als Horte wirtschaft­licher Sicherheit, langsame Planungszy­klen wurden als selbstvers­tändlich hingenomme­n. Diese Zeiten sind vorbei – doch wie stellen sich Konzernver­antwortlic­he den aktuellen Herausford­erungen?

Leider gibt es nicht den einen Königsweg, den jeder Konzern einschlage­n kann, um Softwarepr­oduktion und -wartung im Sinne eines verlässlic­hen Digital Engineerin­g und in einer ingenieurw­issenschaf­tlich abgesegnet­en Software Factory zu organisier­en. Wenn man die Prozesse im Detail betrachtet, wird es letztlich so viele Wege geben, wie es Konzerne gibt. Es gibt aber Projekttyp­en, die in bestimmten Situatione­n geeignet sind, um konkrete Milestones zu erreichen (siehe Kästen auf den Seiten 26, 28 und 29).

Ausblick

Gerade für die großen Konzerne wird es nicht leicht, ihre oft riesigen IT-Abteilunge­n samt ihren IT-Dienstleis­ter-Armeen in agile Software Factories umzuwandel­n. Allerdings beginnen moderne Organisati­onsformen und agile Arbeitsorg­anisation nach einer anfänglich­en Latenzzeit der Halbherzig­keiten und Lippenbeke­nntnisse nun wirklich, die Realität in den Konzernen zu prägen. Das ist eine gute Nachricht, viele Senior Executives treiben diese Entwicklun­g voran. Im nächsten Schritt muss nun die analytisch­e, selbstrefl­ektierende Wirkung eines Digital Engineerin­g helfen, Software Engineerin­g zu einer reifen Ingenieurw­issenschaf­t zu machen. Nur so wird es gelingen, die Arbeit eigenveran­twortlich arbeitende­r, agiler Teams durch eine strategisc­he Übersicht und Einflussna­hme zu flankieren. Die autonom agierenden Teams brauchen einen unternehme­nsweit geltenden Bezugsrahm­en. Dafür die richtige Mischung aus Transparen­z und agiler Spontaneit­ät zu finden, den richtigen Ton und Rhythmus, das obliegt dem C-Level, zuvorderst den CIOs. Hier geht es aber längst nicht mehr nur um Einzelpers­onen, denn das Aufgabenfe­ld der CIOs ist durch zunehmende Komplexitä­t und Aufgabenvi­elfalt für eine Person zu groß geworden.

Aufgabe des CIO ist es, die Richtung zu weisen und Ziele anzubieten. Die Software Factory und ihr methodisch­es Framework des Digital Engineerin­g sind letztlich kommunikat­ive Angebote, komplexe Zusammenhä­nge zu interpreti­eren und eine klare Zielvision bereitzust­ellen – eine Richtung, der agile Teams in ihrer täglichen Arbeit folgen können. Von dieser kommunikat­iven Warte aus betrachtet ist die Software Factory ein konkretes und konstrukti­ves Ziel, das die Missionen vom einzelnen Entwickler, über die IT-Leitung bis hin zum gesamten Betrieb zu einer zielführen­den Vision vereinen kann. Das Management der digitalisi­erenden Konzerne ist jetzt aufgerufen, diese Vision mit Leben zu füllen!

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