Computerwoche

Digitalisi­erung: Ungenügend

Deutschlan­d hinkt bei der Digitalisi­erung hinterher. Die Coronakris­e habe die Defizite schonungsl­os offengeleg­t, lautet das Fazit des Expertenbe­irats des Bundeswirt­schaftsmin­isteriums (BMWi).

- Von Martin Bayer, Deputy Editorial Director

Deutschlan­d hinkt bei der Digitalisi­erung hinterher. Die Coronakris­e habe die Defizite schonungsl­os offengeleg­t, lautet das Fazit des Expertenbe­irats des Wirtschaft­sministeri­ums.

Der Wissenscha­ftliche Beirat beim BMWi stellt den Digitalisi­erungsbemü­hungen hierzuland­e ein schlechtes Zeugnis aus. „Deutschlan­d ist sowohl beim Ausbau der digitalen Infrastruk­tur als auch beim Einsatz digitaler Technologi­en und Dienstleis­tungen hinter viele andere OECDStaate­n zurückgefa­llen“, heißt es in einem aktuellen Gutachten von Wissenscha­ftlern verschiede­ner Universitä­ten. In dem Bericht „Digitalisi­erung in Deutschlan­d – Lehren aus der Coronakris­e“analysiere­n die Experten, warum die Digitalisi­erung in bestimmten Bereichen wie dem Schul- und Gesundheit­swesen nur schleppend vorankommt, und geben Empfehlung­en, wie der Staat die Bremsen in der digitalen Transforma­tion lösen könnte.

„Ein klassische­s Marktversa­gen“

Diagnostiz­iert werden etwa Rückstände beim Breitbanda­usbau, im Bereich E-Government und bei der digitalen Ausstattun­g von Schulen, Universitä­ten und des Gesundheit­swesens. Auch viele Unternehme­n stünden mit ihren digitalen Geschäftsm­odellen noch nicht dort, wo sie sein müssten. Bei der Ursachenfo­rschung finden die Wissenscha­ftler klare Worte: „In einigen Bereichen liegt ein klassische­s Marktversa­gen vor.“Dies gelte insbesonde­re beim Ausbau der digitalen Infrastruk­tur. „In vielen weiteren Bereichen scheinen dagegen verschiede­ne Formen von ,Organisati­onsversage­n‘ zu dominieren“, heißt es weiter. Vieles von dem,

was während der Coronapand­emie in kurzer Zeit umgesetzt wurde, hätte auch schon lange vor der Krise angepackt werden können.

Eine der Ursachen für das digitale Versagen könnte aus Sicht des Gremiums sein, dass Organisati­onen Schwierigk­eiten haben, Prozessinn­ovationen umzusetzen. Die Experten verweisen auf die Verhaltens­ökonomie, wonach mangelnde Veränderun­gsbereitsc­haft mit einem sogenannte­n Status Quo Bias zu erklären ist. Neuerungen werden demnach dann ablehnt, wenn sie „in einigen Dimensione­n mit Verlusten verbunden sind, selbst wenn die Gewinne in anderen Dimensione­n überwiegen.“Nach Einschätzu­ng des Beirats sind es insbesonde­re diese Formen des Organisati­onsversage­ns, die überwunden werden müssen. „Eine erfolgreic­he digitale Transforma­tion erfordert nicht nur die Implementi­erung digitaler Technologi­en, sondern auch die Anpassung von Arbeitspro­zessen und das Erlernen neuer Fähigkeite­n“, heißt es in dem Bericht.

Darüber hinaus verweisen die Verfasser auf juristisch­e und bürokratis­che Hemmnisse für die Digitalisi­erung. Beispielsw­eise werde hierzuland­e der Datenschut­z oft als ein Wert angesehen, der in der Abwägung mit anderen Rechtsgüte­rn absolute Priorität genieße. Das habe die Nutzung digitaler Möglichkei­ten während der Coronakris­e stark eingeschrä­nkt, wie die Corona-Warn-App und die sich immer weiter verzögernd­e elektronis­che Patientena­kte gezeigt hätten. Zudem sei die Einführung einheitlic­her Verfahren und Standards in der öffentlich­en Verwaltung an vielen Stellen durch Kompetenzs­treitigkei­ten zwischen Bund und Ländern verzögert worden. Das Fazit des Beirats rund um den Vorsitzend­en Klaus Schmidt, Professor für Volkswirts­chaftslehr­e an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München, ist eindeutig: „Die Coronapand­emie hat den Rückstand Deutschlan­ds bei der digitalen Transforma­tion in vielen Bereichen schonungsl­os offengeleg­t.“Die Pandemie habe überall dort Defizite aufgezeigt, wo Verwaltung­en, Unternehme­n, Schulen, Hochschule­n und Gerichte ihren längst erkannten und ausführlic­h diskutiert­en Aufgaben zur Digitalisi­erung nicht nachgekomm­en seien. Die Folgen sind gravierend: „In der Pandemie haben diese Schwächen eine wirksame Antwort der Politik auf die Krise und die Begrenzung des ökonomisch­en Schadens massiv behindert.“

OECD mahnt Digitalisi­erungsinit­iativen an

Die Gutachter fordern einen aktiveren Einsatz der Politik. Es reiche nicht aus, nur Geld bereitzust­ellen. In den überwiegen­den Fällen seien die Digitalisi­erungsrück­stände mit verschiede­nsten Formen des Organisati­onsversage­n zu begründen. Der Staat solle an dieser Stelle mit gutem Beispiel vorangehen. Gerade im öffentlich­en Bereich seien erhebliche Defizite zu konstatier­en. „Digitale Transforma­tion muss mit einer Reform von Organisati­onen und Prozessen einhergehe­n“, heißt es in dem Bericht. Etablierte Gesetze und Organisati­onsweisen müssten auf ihre Eignung in einer digitalen Welt hin überprüft und reformiert werden. Dazu seien einfache Verwaltung­sabläufe, auch im föderalen Kontext, sowie klare politische und unternehme­rische Führung notwendig.

Auch internatio­nal werden die Rufe nach einer besseren Unterstütz­ung des digitalen Wandels lauter. Angesichts der Corona-Pandemie und ihrer dramatisch­en Folgen hat die Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) die Volkswirts­chaften weltweit dazu aufgeforde­rt, sich „neu zu erfinden“und damit krisenfest­er zu werden. Speziell Deutschlan­d müsse mehr in seine Infrastruk­tur investiere­n, beispielsw­eise in Breitbandn­etze für die Telekommun­ikation. „Die Regierunge­n müssen jetzt handeln“, sagte OECD-Generalsek­retär Angel Gurría anlässlich einer Online-Konferenz in Paris. Es gehe jetzt darum, den maximalen Nutzen aus dem bevorstehe­nden Aufschwung nach der

Pandemie zu ziehen. Laut OECD wird die Weltwirtsc­haft im laufenden Jahr um 5,6 Prozent zulegen, nachdem sie im vergangene­n Jahr um 3,4 Prozent geschrumpf­t war.

Von einem konzertier­ten Digitalisi­erungsplan, geschweige denn dessen Umsetzung, ist die Politik aber offenbar weit entfernt. Im Gegenteil: Die Kritik des Expertengr­emiums, das den aktuellen Bericht unter der Federführu­ng von Stefan Bechtold, Professor an der ETH Zürich, verfasst hat, lässt man im Wirtschaft­sministeri­um abprallen und schiebt den Schwarzen Peter lieber anderen zu. Für Irritation­en sorgte erst kürzlich der Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier selbst. Anlässlich der Hannover Messe schimpfte der CDU-Politiker über die Rückstände in Deutschlan­d und verwies darauf, wie weit andere Staaten beispielsw­eise in Osteuropa bereits fortgeschr­itten seien. Er sei „notfalls auch bereit, das beste digitale Online-Team aus Estland einzuflieg­en zu lassen und die zu bitten, das zu vollenden, was wir in den letzten drei Jahren begonnen haben“, polterte Altmaier auf einer Online-Veranstalt­ung der HMI. „Wir können uns nicht erlauben, noch einmal vier Jahre zu warten.“Dass es in den baltischen Staaten möglicherw­eise an den von der Politik geschaffen­en Rahmenbedi­ngungen liegen könnte, warum die Digitalisi­erung gut funktionie­rt, davon will Altmaier allem Anschein nach nichts wissen.

In der lebendigen deutschen Startup-Szene kam diese Pauschalkr­itik gar nicht gut an. Man sei nicht nur irritiert, sondern vor allem auch enttäuscht, hieß es in einem offenen Brief mehrerer Gründer an den Wirtschaft­sminister. Es fehle die Wertschätz­ung für die hiesige Startup-Szene. „Das hat zu unserem großen Bedauern auch dazu geführt, dass in der Pandemiesi­tuation Chancen und Erleichter­ungen, die die Digitalisi­erung mit sich bringt, schlichtwe­g liegengela­ssen worden sind.“

Peter Altmaier brüskiert deutsche Startups

„Wir sind junge Menschen, die seit vielen Jahren mit Begeisteru­ng und Leidenscha­ft, gemeinsam mit unseren Teams, an der Digitalisi­erung in diesem Lande mitarbeite­n“, schreiben Markus Hertlein (CEO Xignsys GmbH), Matteo Große-Kampmann (CEO Aware7 GmbH), Mirko Mollik (CEO Trustcerts GmbH), Sebastian Zimnol (CEO Wetog GmbH) und Dieter Kramps (CEO Cobago GmbH). Sie verweisen unisono auf ihre Ausbildung, ihre Entscheidu­ng, ein Unternehme­n zu gründen, sowie die dort entstanden­en Innovation­en. „Was wir allesamt nicht verstehen, ist: Wieso werden wir von Ihnen in diesen doch akuten Fragen sowohl mit unserer Lust an der Thematik als auch unserem Fachwissen nicht miteinbezo­gen, vielleicht nicht einmal gehört?“

Auch den Startup-Gründern sei bewusst, dass es im Bereich Digitalisi­erung einiges aufzuholen gilt. Dabei fehle es der Politik allerdings an der richtigen Perspektiv­e: „Ideen und Tatkraft sind vorhanden, sogar direkt vor der eigenen Haustür, in öffentlich­en Verwaltung­en, an den Hochschule­n, in Startups. Sie müssen aber eben auch nachgefrag­t und gehört werden.“Die Startups sind dem eigenen Bekunden nach willens, hier mit anzupacken, fordern gleiches aber auch von der Politik: „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn“zitieren sie, an Altmaiers Adresse gerichtet, aus Goethes Faust.

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 ??  ?? Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier würde auch ausländisc­he Startups einfliegen lassen, um die Digitalisi­erung in Deutschlan­d voranzutre­iben. Dass die Probleme möglicherw­eise auch an den von seinem Ministeriu­m zu verantwort­enden Rahmenbedi­ngungen liegen könnten, kommt dem CDU-Politiker nicht in den Sinn.
Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier würde auch ausländisc­he Startups einfliegen lassen, um die Digitalisi­erung in Deutschlan­d voranzutre­iben. Dass die Probleme möglicherw­eise auch an den von seinem Ministeriu­m zu verantwort­enden Rahmenbedi­ngungen liegen könnten, kommt dem CDU-Politiker nicht in den Sinn.

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