Aufbruch in die Plattform-Ökonomie
Zusammenarbeit statt Konkurrenz: Im Zuge der Digitalisierung ihrer Produktion setzen immer mehr Unternehmen auf Plattformen, auf denen auch Konkurrenten situationsbezogen zusammenarbeiten.
Kooperation statt Konkurrenz: Im Zuge der Digitalisierung ihrer Produktion setzen immer mehr Unternehmen auf Plattformen und Ökosysteme, um situativ zusammenzuarbeiten.
Edge Computing, 5G, KI, Digital Twins, Industrielle und Digitale Transformation – angesichts der diesjährigen Hot Topics hätte die virtuelle Hannover Messe Industrie (HMI) auch als Neuauflage der CeBIT durchgehen können.
In diesem Jahr gab es ein Jubiläum zu feiern: zehn Jahre Industrie 4.0. An der Frage, ob diese Dekade eine deutsche Erfolgsgeschichte war, scheiden sich allerdings die Geister. So mahnte SAP-Vorstandsmitglied Thomas Saueressig angesichts von 41 Prozent deutscher Unternehmen, die noch immer keine Industrie4.0-Strategie haben, mehr Aktivität an. Er forderte die Betriebe auf, sich von ihren „EgoSystemen zu verabschieden und einer Wirtschaft der Ökosysteme zuzuwenden“. Letztendlich könne niemand das Thema Industrie 4.0 im Alleingang angehen.
Was Saueressig damit meinte, mag eine Zahl verdeutlichen: Eine moderne Fabrik erzeugt heute pro Monat bis zu 2.200 Terabyte an Daten (etwa eine halbe Million Netflix-Streams).
Diese allein verarbeiten zu wollen, ist illusorisch. Cedrik Neike, Siemens Vorstandsmitglied und CEO von Siemens Digital Industries, sagte: „Die Konsequenz ist, dass diese Daten oft überhaupt nicht genutzt werden.“Deshalb hält Neike auch den vielfach gehörten Spruch „Data is the new Oil“für falsch. Ähnlich wie zu Beginn des Öl-Zeitalters begingen Unternehmen erneut den Fehler, aus dem wertvollen Rohstoff nur ein oder zwei Produkte zu generieren. Hierin sieht der Siemens-Manager auch einen Grund dafür, warum zehn Jahre Industrie 4.0 nicht die Erfolgsgeschichte sind, die sie sein könnten: „Wir produzieren riesige Datenmengen, die wir dann nicht sinnvoll nutzen.“Im Rahmen von Industrie 4.0 sei zu sehr darauf fokussiert worden, Daten zu generieren anstatt zu fragen, wie aus diesen Daten Use Cases und Business-Modelle entstehen können.
Vernetzen statt Silos bauen
Neike fordert, dass Anwender und Firmen wie Siemens, Kuka, SAP oder Microsoft die Daten miteinander vernetzen müssten, anstatt dass jeder sein eigenes kleines Silo baue, um sie dort zu optimieren. Gelinge das, könne eine Brücke „zwischen Shop Floor und Top Floor“sowie zwischen OT und IT geschlagen werden. So ließen sich modulare und flexible Produktionssysteme realisieren.
Auch T-Systems-Chef Adel Al-Saleh nutzte seinen HMI-Auftritt, um mehr Agilität in der industriellen Fertigung anzumahnen. „84 Prozent der Unternehmen räumen laut einer Bitkom-Studie der Digitalisierung eine hohe Priorität ein, doch was bedeutet das in der Praxis?“, fragte Al-Saleh. Schließlich seien Fernwartung, Predictive Maintenance, Analytics etc. nicht neu, und Daten würden schon lange gesammelt, um Ausfallzeiten zu reduzieren. Er plädiert dafür, die Digitalisierung nicht als zusätzliches Feature, sondern als Kern der industriellen Produktion zu betrachten. Sie müsse neue Produkte prägen und Prozesse grundlegend modernisieren. Angesichts der globalen Konkurrenz werde die Digitalisierung zur Überlebensfrage für deutsche Unternehmen.
Gerade in der Coronakrise, so zeigte die HMI, sind digitale Technologien dem von Al-Saleh gewünschten Status schon ein ganzes Stück näher gekommen. Sie sind sogar entscheidend für den Fortbestand vieler Betriebe. Unisono waren sich die Redner darin einig, dass produzierende Unternehmen, die das Thema Digitalisierung bereits angegangen sind, besser durch die Krise kommen. Vieles sei überhaupt erst durch digitale Technologien möglich geworden – etwa neue Fabriken trotz Kontaktbeschränkung zu eröffnen und remote zu steuern, oder auch die Impfstoffproduktion.
Ohne digitale Zwillinge und digital optimierte Lieferketten wäre ein schneller Start der Impfkampagnen unmöglich gewesen. Biontech wurde als Beispiel dafür genannt, wie aus Daten, die in den letzten sechs Jahren aus der Krebsforschung gewonnen wurden, unter Mithilfe der Digitalisierung ein neues Produkt entstanden sei – der Covid-19-Impfstoff. Ebenso sei die Umstellung des Marburger Werks auf die mRNA-Impfstofferstellung nur dank digitaler Lösungen innerhalb von fünf Monaten zu bewältigen gewesen – normalerweise hätten solche Projekte eine Laufzeit von einem Jahr.
Vernetzt die digitalen Inseln
Gleichzeitig darf laut Siemens-Manager Neike eines nicht vergessen werden: „Es gibt kein Ende der Digitalisierung, zahlreiche Unternehmen digitalisieren bereits seit zehn bis 15 Jahren – nur bislang geschah das in Silos.“So seien etwa Einkaufssysteme, CAD-Systeme oder Maschinensteuerungen längst digitalisiert worden. „Jetzt gilt es, diese einzelnen digitalen Inseln zu einem Continuous Loop of Information zu verbinden“, so Neike weiter.
Beispiele hierfür sind für ihn die Partnerschaft von Siemens und SAP, wo das eigene Teamcenter mit den ERP-Tools verknüpft wird, sowie die jüngst angekündigte Zusammenarbeit mit Mercedes-Benz. Neike nennt auch die Zusammenarbeit mit Google, um die Daten-Cloud und die KI/Machine-Learning(ML)-Funktionen von Google Cloud mit dem Siemens-Portfolio für die Fabrikautomatisierung zu kombinieren. Dies soll Anwendern die Möglichkeit zu geben, ihre Fabrikdaten zu vereinheitlichen. Darüber hinaus können sie cloudbasierte KI/ML-Modelle ausführen und Algorithmen maschinennah einsetzen.
Letztlich, so die vorherrschende Meinung auf der HMI, kann die enge Verknüpfung der digitalen Inseln und Silos zu einer Plattform-Ökonomie führen, in der die unterschiedlichen
Partner über Firmengrenzen hinweg zusammenarbeiten. Eine große Herausforderung dabei: Viele Unternehmen müssen sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass die Grenzen zwischen Wettbewerbern und Partnern verschwimmen. In einem Marksegment arbeitet man zusammen, im anderen trifft man als Konkurrent aufeinander.
Dass der Plattformgedanke in den Betrieben schon weit fortgeschritten ist, zeigten auf der HMI zahlreiche Lösungen. Ein Beispiel ist die vor rund fünf Jahren von Siemens ins Leben gerufene IoT-Plattform Mindsphere, an der sich inzwischen rund 500 Partner beteiligen, und wo mehr als 600 Apps für Anwender zur Verfügung stehen. Gleichzeitig ist Mindsphere ein Beispiel dafür, wie auch Wettbewerber kooperieren können, wenn man etwa die Zusammenarbeit mit den US-Hyperscalern betrachtet, die auch eigene IoT-Lösungen anbieten.
Die Gefahr, dass die Cloud-Giganten den deutschen Industriekonzernen irgendwann die Show stehlen könnten, sieht Siemens-Mann Neike nicht: „Die Hyperscaler verfolgen den Ansatz der Killer-Applikation, also den Gedanken, eine App oder eine Lösung zu offerieren, die der Anwender mehrfach verwenden kann, Unternehmen wie Siemens kommen dagegen vom Shopfloor mit Lösungen für die einzelnen Use Cases.“
Die 2019 von Volkswagen ins Leben gerufene Digital Production Platform (DPP) zeige das sehr gut. Hier seien sowohl Amazon Web Services (AWS) als auch Siemens mit im Boot. Der Hyperscaler AWS liefere mit der Industrial Cloud die Lösung, um die diversen VolkswagenWerke zu vernetzen und zu synchronisieren. Gehe es dagegen um Apps für die einzelnen Werke, komme Siemens ins Spiel.
Volkswagens DPP-Plattform
Marc Geckeler, DPP Alliance Lead bei der VW Group, erklärte denn auch, die Digitalisierungsstrategie der Wolfsburger sehe den Einsatz von drei Plattformen vor: PLM, SAP und DPP. Dabei soll DPP die Connectivity zwischen den Werken sicherstellen und gleichzeitig als „Flywheel of Innovations“(Schwungrad der Innovationen) fungieren – auch um weitere Partner an Bord zu holen. Gleichzeitig diene DPP als Marktplatz für Apps, die dann in den Produktionsstätten genutzt werden könnten.
Laut Dirk Voigt, Head of DPP in der VW Group, wurden inzwischen 20 Werke an die Plattform angeschlossen. In diesem Jahr sollen 26 weitere folgen. Um das Onboarding dieser Werke zu beschleunigen, hat VW Digitallösungen wie etwa eine „Base Connectivity Solution“entwickelt. Andere Services sind ein Application Blueprint sowie ein Data Catalog.
Auf der Plattform selbst stehen derzeit 21 Applikationen für unterschiedliche Use Cases bereit. Eine dieser Applikationen ist „Intelligent Sign Inspection“(iSI). Mit dieser App kann in der Produktion in Echtzeit sichergestellt werden, dass der Mitarbeiter die Airbag-Warnhinweise – egal, in welcher Sprache und welcher Schrift – an der richtigen Stelle anbringt, um so den gesetzlichen Bestimmungen des jeweiligen Marktes Rechnung zu tragen. Ein anderes Beispiel ist das Shop Floor Reporting System (SRS), um Materialengpässe frühzeitig erkennen und darauf reagieren zu können.
Für die Zukunft sind ein „IoT SiteWise Dashboard“angedacht sowie der komplette Verzicht auf lange Testfahrten mit Hilfe eines „Road Test Predictor“, der anhand der vorhandenen Daten die Ergebnisse entsprechender Tests vorhersagt. Geplant ist auch eine App namens „WPS Analytics“, die in der Produktion die Qualität der Schweißpunkte überwacht. Zudem konnte VW bereits 13 Partner gewinnen, die an der Digital Production Plattform mitarbeiten: ABB, Amorph Systems, Ascon Systems, Bearingpoint, Celonis, Cybus, Dürr, Grob, MHP, Navvis, Synaos, Teradata sowie Wago sollen Use Cases entwickeln und ebenfalls auf dem Marktplatz tätig werden.
Ein anderes prominentes Beispiel ist Mercedes mit der Produktionsplattform MO360, welche die Autobauer zusammen mit Siemens weiterentwickeln wollen. Auch hier soll es eine Familie an Apps geben, die durch eine gemeinsame Datenbasis und einheitliche Benutzeroberflächen nahtlos miteinander verbunden sind. Über Echtzeitdaten soll so die weltweite
Produktion in den Werken unterstützt werden. Blaupause in der Kooperation mit Siemens ist das älteste Mercedes-Werk in Berlin-Marienfelde, das zur modernsten Fabrik (Factory 56) umgebaut werden und für die anderen Werke als Vorbild dienen soll.
Was Continental und AWS aushecken
Doch nicht nur die OEMs der Autobranche setzen auf die Plattformökonomie. Auch Zulieferer Continental geht eine Entwicklungskooperation mit AWS ein. Ziel ist die Entwicklung einer Plattform für Autosoftware. Mit der Continental Automotive Edge Platform (CAEdge) soll eine modulare Hardware- und Software-Plattform entstehen. Sie dient dazu, das Fahrzeug mit der Cloud zu verbinden und über eine virtuelle Werkbank softwareintensive Systemfunktionen zu entwickeln und bereitzustellen.
Fahrer sollen in die Lage versetzt werden, über die gesamte Lebensdauer ihres Fahrzeugs neue Funktionen über Software-Updates zu beziehen. Laut Continental wird die Plattform bereits in der Serienentwicklung eines Automobilherstellers erprobt. Ab Ende 2021 soll sie weiteren Kunden angeboten werden.
Reale und digitale Fertigung verknüpfen
Was im Maschinenbau möglich ist, zeigte DMG Mori. Der Werkzeugmaschinenhersteller hat seinen Fertigungsprozess auf den Prüfstand gestellt und eine offene Schnittstelle zwischen realer und digitaler Fertigungswelt geschaffen. Als „Celos Next“soll nun eine hybride Edge-/ Cloud-Plattform mit anpassbaren Celos-Apps entstehen, mit der sich komplette Prozessketten individuell integrieren und digitalisieren lassen – von der Planung und Produktion bis zum Monitoring und Service. So soll sich der digitale Shopfloor der Anwender mit bestehenden Softwaresystemen und digitalen Lieferketten verbinden lassen. Die Connectivity erfolgt dabei herstellerunabhängig.
Eine Digital Manufacturing Platform (DMP) hat auch der Getriebebauer ZF Friedrichshafen AG in der Pipeline, um die für die digitale Transformation in der Produktion erforderliche nahtlose Integration von Informationsund Betriebstechnik sicherzustellen. Hierzu arbeitet das Unternehmen mit PwC Deutschland und mit Microsoft zusammen. Auf der HMI zeigte ZF, wie in einem Pilotprojekt neue digitale Lösungen im Werk Diepholz implementiert wurden, um Prozesse und Arbeitsabläufe flexibler und effizienter zu gestalten und die künftige DMP in der Cloud aufzubauen.
Auf diese Weise will ZF unabhängig von der lokalen Infrastruktur werden und KI-Dienste zum Beispiel in der Fertigung nutzen. Die Ergebnisse der Entwicklung sollen auch in die Open Manufacturing Platform (OPM) einfließen. Die von BMW und Microsoft ins Leben gerufene Plattform zählt mittlerweile 30 Mitglieder. Neben den Gründern und ZF engagieren sich dort beispielsweise Anheuser-Busch InBev und Bosch.
Der Augsburger Robotikhersteller Kuka hat wiederum rund um sein neues Betriebssystem „iiQKA.OS“ein eigenes Ecosystem aufgebaut. Als Plattform soll iiQKA Zugang zu Programmen, Apps, Services oder Zubehör bieten. Offene und standardisierte Schnittstellen sollen es Partnern und Entwicklern ermöglichen, Hard- und Software-Erweiterungen bereitzustellen. Erste Partner konnte Kuka mit Schunk, Sick und Roboception gewinnen.
Die moderne Fabrik muss clever sein
Geht es um die Technik hinter diesen Plattformen, trifft der Anwender auf alte Bekannte: Digital Twins, 5G oder Wi-Fi 6, Edge Computing und KI zählen auf der IT-Seite zu den Enabling Technologies der Plattform-Ökonomie. „Die moderne Fabrik muss clever sein und Digitale Zwillinge der Produkte und der Produktion haben, um sie in Echtzeit anpassen zu können und Experimente durchzuführen, ohne dafür viel Kapital einsetzen zu müssen“, unterstrich etwa T-Systems-Chef Al-Saleh. In Sachen Edge Computing ist Siemens-Manager Neike überzeugt, dass künftig rund 80 Prozent der Daten im Edge verarbeitet werden und nur 20 Prozent in der Cloud, etwa um beim Machine Learning Muster etc. zu lernen. Die eigentliche Verarbeitung erfolge dann während der Produktion im Edge, da nur so die EchtzeitAnforderungen erfüllt und das riesige Datenvolumen bewältigt werden könnten.