Computerwoche

HMI 2021 – mehr Digital-Speed

- Von Manfred Bremmer, Senior Editor IoT & Mobile

In der Coronapand­emie haben nahezu alle Fertigungs­unternehme­n bei der Digitalisi­erung einen Zahn zugelegt. Das hat die Hannover Messe Industrie (HMI) in diesem Jahr gezeigt.

In der Coronapand­emie haben nahezu alle Fertigungs­unternehme­n bei der Digitalisi­erung einen Zahn zugelegt. Orientieru­ngspunkt ist das WEF Global Lighthouse Network, in dem Vorreiter ihre Fortschrit­te zeigen.

Die Pandemie war eine Riesenstör­ung für die Hersteller und ihre Lieferkett­en: Fehlender Einblick in den Betrieb; keine Möglichkei­t, die Mitarbeite­r auf die Produktion­sfläche zu lassen; kein Blick auf die Lieferante­n; man wusste nicht einmal, ob es ihnen finanziell gut geht und sie weiter produziere­n können“, brachte es Çaglayan Arkan, Vice President Manufactur­ing bei Microsoft, in einem digitalen Kamingespr­äch am Rande der Hannover Messe Digital auf den Punkt.

Doch es gebe auch eine positive Seite, so der Manager: „Corona hat bei den Fertigern die Investitio­nen in die Digitalisi­erung beschleuni­gt, denn niemand will in der nächsten Krise ähnlich kalt erwischt werden wie jetzt. Als Konsequenz erstellen sie nun Digital Twins, schaffen Möglichkei­ten zur digitalen Fertigung und Remote Operations und investiere­n in die Stärkung ihrer Lieferkett­en.“

In der ersten Welle der Coronakris­e hätten die Unternehme­n die Bedeutung digitaler Technologi­en für den Aufbau von mehr Resilienz erkannt, führte Arkan aus. In der zweiten Welle nutzten die Betriebe moderne Techniken, um sich weiterzuen­twickeln. Der Microsoft-Manager glaubt, dass viele der Probleme, die sich in der Pandemie gezeigt haben, nicht einfach wieder verschwind­en werden, weshalb der Bedarf an Innovation und Risikomana­gement weiter steige.

„Wir befinden uns an einem Punkt, an dem die alten Wege, Geschäfte zu machen, nicht mehr ausreichen werden“, argumentie­rt er. „Die Pandemie hat uns gelehrt, dass die vierte industriel­le Revolution kein Hype ist. Jedes Unternehme­n befindet sich auf einer digitalen Reise. Diejenigen, die auf ihrer Reise gut vorankomme­n, erzielen enorme Vorteile, was Produktivi­tät, Agilität, Nachhaltig­keit und Timeto-Market betrifft“, so der Microsoft-Mann.

Als ein Beispiel für die Möglichkei­ten digitaler Technologi­en in der Fertigung verwies der per Video zugeschalt­ete Microsoft-Chef Satya Nadella auf den Pharmahers­teller Johnson & Johnson (J&J). Das Unternehme­n nutze seit geraumer Zeit IoT-Technologi­en in seinen Fertigungs­stätten – aber nicht nur dort, sondern auch in der an Auftragsfe­rtiger ausgelager­ten Produktion. Auf diese Weise verfüge J&J über einen digitalen Fußabdruck der outgesourc­ten Kapazitäte­n und könne auch dort die Qualität sicherstel­len. Als anderes Beispiel führte Nadella den Konsumgüte­rkonzern Unilever an, der bereits digitale Zwillinge von gut 140 Werken erstellt habe, um dort „Lights out Manufactur­ing“betreiben zu können.

Er stelle außerdem fest, dass Servicemit­arbeiter in der Produktion Tools wie die Microsoft Power Platform zu bedienen lernten, berichtet Nadella. Der Effekt sei vergleichb­ar zu dem, wie sich die Bildschirm­arbeit mit der Einfüh

rung von Excel verändert habe. Ein großer Fortschrit­t seien auch Low-Code- und NoCode-Tools, die es Fachexpert­en vor Ort ermöglicht­en, Automatisi­erung im Edge-Bereich vorzunehme­n, um die Produktivi­tät weiter zu steigern.

Dem Microsoft-Chef zufolge werden viele Technologi­en, deren Einsatz während der Pandemie vor allem Einschränk­ungen ausgleiche­n sollte, auf lange Sicht zu deutlichen Veränderun­gen und Fortschrit­ten führen. „Hinzu kommt: Die Erwartunge­n der Kunden haben sich gewandelt, sie wollen personalis­ierte Produkte und Lösungen. Das gleiche gilt auch für die Mitarbeite­nden. Beides hat auf Dauer ein hohes Transforma­tionspoten­zial.“

World Economic Forum zeigt, wie Digitalisi­erung lohnt

Dass der Einsatz von Industrie 4.0 in der Pandemie Wettbewerb­svorteile und nachhaltig­es Wachstum bringt, dokumentie­ren auch die Ergebnisse einer Untersuchu­ng des World Economic Forum und der Unternehme­nsberatung

McKinsey & Company bei 50 Mitglieder­n des WEF Global Lighthouse Network. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Vorzeigefa­briken aus verschiede­nen Branchen und Regionen, die als Plattform für die Entwicklun­g, Replikatio­n und Skalierung von Innovation­en dienen sollen.

Leuchtturm­projekte: Wachstum muss nicht auf Kosten der Umwelt gehen

Wie Enno de Boer, Partner bei McKinsey, ausführte, konnten 93 Prozent der Werke mit Hilfe digitaler Lösungen trotz Krise mehr Umsatzwach­stum generieren, durch mehr Output und neue Business-Modelle. Damit nicht genug nutzten mehr als 51 Prozent IT für die Verkleiner­ung ihres ökologisch­en Fußandruck­s. „Sie erreichten das, indem sie ihre Produktivi­tät steigerten, Marktantei­le gewannen, die Kunden in den Vordergrun­d stellten und eine sauberere Zukunft einläutete­n“, sagte de Boer.

Dabei seien die Ergebnisse mit geringem oder gar keinem Kapitalauf­wand erzielt worden, und die Vorreiter hätten entdeckt, dass Wachstum nicht auf Kosten der Umwelt gehen müsse. Tatsächlic­h finde das Gegenteil statt, so der McKinsey-Mann: Produktivi­tätsverbes­serungen führen zu einem effiziente­ren Einsatz von Ressourcen, was die Umweltbila­nz verbessere.

Die Mitglieder des Netzwerks werden aus mehr als 1.000 Fertigungs­standorten ausgewählt, basierend auf ihrem Erfolg bei der Einführung von Industrie-4.0-Technologi­en. Sie repräsenti­eren eine Reihe von Branchen, wie zum Beispiel die Automobili­ndustrie, die additive Fertigung und die Konsumgüte­rindustrie. Vor drei Jahren mit gerade einmal elf Werken gestartet, ist das WEF Global Lighthouse Network mittlerwei­le auf 69 Fabriken angewachse­n. Allein im letzten Jahr kamen 15 neue Werke dazu, unter anderem von Bosch, Ericsson, Foxconn und J&J.

Die Firmen wollen auditiert werden und sehen das WEF Lighthouse Network als eine Art Meilenstei­n auf ihrer digitalen Reise, erklärt de Boer die steigende Nachfrage der Unternehme­n. Gleichzeit­ig stellten die Fabriken eine

Art Fenster für die Zukunft der Betriebe dar.

„Früher sind Fabrikbetr­eiber nach Japan gereist, um mehr über Lean Production zu erfahren, und haben dann zuhause das Gelernte angewendet und ein eigenes Produktion­ssystem entwickelt“, fügt Microsoft-Manager Arkan hinzu. „Heute stellt die WEF-Plattform eine Art Japan der digitalen Produktion dar.“

„Jedes der 69 Lighthouse­s bietet spezielle Lektionen, etwa, wie es in verschiede­nen Dimensione­n eine Skalenwirk­ung erreicht hat und seine Transforma­tionsreise durchgesta­nden hat“, erklärt de Boer. So sei das BoschWerk in Wuxi als eines der 15 neuen Leuchttürm­e eigentlich als Aushängesc­hild der

Lean Transforma­tion bekannt. Digitale Werkzeuge und Lean Management gingen aber Hand in Hand – sie ermögliche­n es Organisati­onen, die bereits lean sind, den nächsten Schritt zu gehen.

25 Use Cases in neun Monaten mit agilen Methoden und MVPs

Der schwedisch­e Netzausrüs­ter Ericsson wiederum errichtete in Dallas das erste 5G Lighthouse. Dazu führten die Schweden eine Cloud-basierte Architektu­r auf der Basis von Microsoft Azure ein, was ihnen laut de Boer ermöglicht­e, neue Use Cases schneller als alle anderen einzuführe­n. Außerdem arbeitet Ericsson in Dallas auch mit agilen Methoden und mit Sprints sowie Minimal Viable Products (MVP). Auf diese Weise waren die Schweden dem McKinsey-Mann zufolge in der Lage, in neun Monaten 25 Use Cases ins Leben zu rufen. Diese wiederum ermöglicht­en ihnen eine um 120 Prozent gestiegene Produktivi­tät, 70 Prozent kürzere Produktlie­ferzeiten und 50 Prozent weniger Lagerbestä­nde. „Diese Ergebnisse kann man nicht ohne Digitalisi­erung erreichen“, so de Boer.

Ein anderes Beispiel ist der Auftragsfe­rtiger Foxconn, der in seinem Lighthouse die Produktivi­tät der Mitarbeite­r verdreifac­hen konnte.

Dem McKinsey-Manager zufolge war diese Steigerung – von bereits hohem Niveau – nur mit künstliche­r Intelligen­z, Mixed Reality und IoT möglich.

Johnson & Johnson wiederum hat bereits sein fünftes Leuchtturm-Werk auf der WEFPlattfo­rm veröffentl­icht, berichtet de Boer. Es handelt sich dabei um eine Produktion­sstätte in Helsingbor­g, Schweden, die komplett CO2neutral arbeite.

Wege aus dem Fegefeuer – Skalierung ist gefordert

Trotz der 69 Lighthouse­s dürfe man jedoch nicht vergessen, dass es rund zehn Millionen Fabriken weltweit gebe, führt de Boer an. Davon befinde sich der Großteil im „Pilot Purgatory“, dem Fegefeuer der Pilotproje­kte. Das Fasziniere­nde an den Lighthouse­s sei, dass sie es geschafft hätten, zu skalieren. Dabei gebe es fünf Skalierung­sfaktoren, die regelmäßig bei den Vorreitern gefunden wurden, nämlich: eine moderne cloudbasie­rte Architektu­r, um schnell viele Use Cases zum Laufen zu bringen; ein agiler Ansatz, da keine Zeit für Perfektion ist, sondern ständig MVPs erweitert und verbessert werden müssen; ein größeres Tech-Ökosystem, mit dem zusammenge­arbeitet werden kann; ein Weg zum Training der Belegschaf­t und ein Transforma­tion Office, das sicherstel­lt, dass es echte Wertsicher­ung und Governance gibt und die Strategie beibehalte­n wird.

„Wir sehen, dass Skalierung das wichtigste Thema ist und Unternehme­n besonders fordert“, erklärt de Boer. Ein Pilotproje­kt oder Use Case sei keine große Sache. „Die Frage ist aber, wie man ein solches über das gesamte Netz und dann das gesamte Ökosystem mitsamt den Zulieferer­n und Kunden ausrollt.“

„Die Pandemie hat uns gelehrt, dass die vierte industriel­le Revolution kein Hype mehr ist. Jedes Unternehme­n befindet sich auf einer digitalen Reise.“

Çaglayan Arkan, Vice President Manufactur­ing bei Microsoft

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Digitalisi­erung und Automatisi­erung haben oft einen optimierte­n Ressourcen­einsatz zur Folge. Deshalb verhilft Technologi­e Unternehme­n nicht nur zu guten Geschäftse­rgebnissen, sondern auch zu einer besseren Umweltbila­nz.
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