Anti-Aging für Smartphones
Je älter das Smartphone, desto langsamer wird es – so lautet eine oft gehörte Klage. Huawei ist dem Phänomen mit einer smarten Methode auf den Grund gegangen und hat sich auch gleich um Abhilfe bemüht. connect durfte mittesten.
Warum laufen ältere Geräte immer langsamer? Huawei geht der Sache auf den Grund und will eine Lösung parat haben
Dirk Waasen, Chefredakteur von connect, hat ein Problem. Wann immer er ein neues OberklasseSmartphone ausprobiert – was oft der Fall ist –, ist er zunächst von der Performance begeistert und preist die neue Prozessorgeneration, die endlich seinen Ansprüchen genügt. Doch kaum sind ein paar Monate ins Land gezogen, reagiert das hochgelobte Gerät träger, ja geradezu schleppend. Das Smartphone ist manchmal so mit sich selbst beschäftigt, dass er kaum weiß, ob es eine Berührung des Touchscreens überhaupt wahrgenommen hat.
Kein Wunder, dass unser Chef in einem Gespräch mit hochrangigen Spezialisten von Huawei wie elektrisiert ist, als er hört, dass auch sie das Problem kennen. Und mehr noch: Huawei will mit einem „Stay fast“genannten Projekt einen Hebel gefunden haben, der schleichenden Verlangsamung von Smartphones beizukommen. Da Huawei bereit ist, Einblick in die Entwicklung von „Stay fast“zu gewähren, beauftragt Dirk Waasen seinen Technikchef – den Autor dieses Artikels –, sich das Projekt einmal genauer anzuschauen.
Drei Gründe für den Speedverlust
Bei „Stay fast“haben sich die Huawei-Ingenieure zunächst die Frage gestellt, wie schnell ein Smartphone eigentlich auf Eingaben reagieren muss, damit der Vorgang als verzögerungsfrei wahrgenommen wird. Fündig geworden sind sie bei dem auf die Wechselwirkung zwischen Mensch und Maschine spezialisierten Forscher Topi Kaaresoja von Nokia. Dieser hat 2014 mit Kollegen eine Studie veröffentlicht, in der er die Zeit zwischen Touchscreen-Eingabe und Bildschirmreaktion bestimmte, die maximal vergehen darf, damit beide Ereignisse als gleichzeitig empfunden werden. 86 Millisekunden ermittelten die Wissenschaftler als Schwellwert. Übliche Smartphone-Reaktionen liegen deutlich darüber – es gilt also, um jede Millisekunde zu kämpfen.
Drei Bereiche versprechen bei der Optimierung besonderen Erfolg, weil dort besonders viel Reaktionszeit auf der Strecke bleibt. Da ist zunächst die Anzahl der installierten und insbesondere der im Hintergrund laufenden Apps. Diese beanspruchen besonders viele Ressourcen, etwa Speicherplatz, Rechenzeit und Kommunikationsleistungen. Dirk Waasen kennt diesen Zusammenhang genau. Er ist sehr beschäftigt und viel auf Reisen. Damit ihn zurück im Büro die Arbeit nicht überwältigt, nutzt er auch kleine Pausen, um Aufgaben abzuarbeiten – bevorzugt auf dem immer mitgeführten Smartphone. Dazu, zur Organisation der Reisen, zur Navigation im Auto, zum Shopping und auch für die Unterhaltung am Feierabend mit Musik, Games und Videos hat er 123 Apps im Einsatz, innerhalb einer Woche sind im Schnitt über 30 aktiv.
Auch die durch längere Nutzung des Mobiltelefons fortschreitende Fragmentierung des Dateisystems kostet Geschwindigkeit – denn wie ein PC verteilt das Smartphone mit der Zeit Dateien auf ganz unterschiedliche Speicherbereiche, um die Platzreserven optimal zu nutzen. Die für die Ausführung eines Befehls nötigen Daten können so allerdings nicht mehr in einem Block geladen werden, sondern fordern wiederholte Speicherzugriffe.
Und schließlich wachsen mit steigender Nutzung auch die Datenbanken für Nachrichten, Telefonate, Kontakte, Fotos, Musiktracks, Videos und mehr. Das erfordert größeren Suchaufwand, wenn etwa eine bestimmte Information benötigt wird. Große Da-
tenbestände können zwar über Index-Dateien zugänglicher gemacht werden, doch auch das Anlegen und Pflegen solcher Register verschlingt selbst wieder Ressourcen. Und auch hier gilt: Je mehr die Datenbestände wachsen, desto mehr Zeit erfordert die Pflege eines Registers.
Mittel gegen das Altern
Um der schleichenden Verlangsamung des Smartphones entgegenzuwirken, setzt Huawei auf ein sogenanntes „Machine-Learning“System. Dieser Algorithmus soll mit der Zeit lernen, das Nutzungsverhalten des Smartphone-Besitzers immer genauer vorauszusagen. Zu wissen, welche App wann und wie oft gebraucht wird, ist für ein Multitasking-System von entscheidender Bedeutung, wenn mehrere Applikationen denselben Prozessor, denselben Speicher, denselben Grafikprozessor und dieselben Funk-Interfaces benutzen. Denn einer für den User wichtigeren App kann mehr Rechenzeit auf dem Prozessor, mehr Arbeitsspeicher und eine höhere Priorität bei der Nutzung von Wi-Fi oder Mobilfunk-Modem eingeräumt werden. Das stellt sicher, das die App beim nächsten Aufruf schnell geöffnet ist und die benötigten Daten unabhängig von der momentanen Mobilfunkverbindung bereits verfügbar sind. Vom SmartphoneBesitzer hoch priorisierte Apps werden also erkannt und gegenüber weniger oft genutzten bevorzugt behandelt.
Dabei setzt Huawei beim Dateisystem nicht auf das unter Android gebräuchliche ext4, sondern auf das gegen Fragmentierung besonders robuste F2FS (Flash-Friendly File System) – das bemerkenswerterweise federführend von Samsung entwickelt wurde. F2FS ist speziell auf die in besonders schnellen Servern, aber auch in Smartphones üblichen NANDFlash-Speicher (ROM) ausgerichtet. Zusätzlich sorgt Huawei mit einem selbst entwickelten Algorithmus dafür, dass ein bestimmter Teil des Arbeitsspeichers (RAM) immer wieder schnell freigegeben wird, um für anstehende Starts von Apps zur Verfügung zu stehen. Denn gerade das Starten von Programmen dauert lange und verbraucht viel Arbeitsspeicher – wenn auch oft nur vorübergehend.
Auslastung in der Simulation
Um beurteilen zu können, wie gut einzelne Maßnahmen zur Erhaltung schneller Reaktionszeiten nach langer, intensiver Nutzung greifen, mussten die Technikspezialisten auch eine Möglichkeit finden, den Geschwindigkeitsverlust zu messen. Zuerst galt es zu definieren, wie sich ein brandneues von einem länger eingesetzten Smartphone unterscheidet.
Für die Beurteilung beider Zustände haben die Huawei-Mitarbeiter die Anzahl an installierten und offenen Apps, die Menge an Kontakten, Nachrichten, Bildern, Musikstücken, Videos und auch den Fragmentierungsgrad des Flash-Speichers vorgegeben. Dabei stand im Fokus, möglichst typische Bedingungen nach längerer Einsatzzeit nachzubilden.
Als Nächstes programmierten sie eine App namens MyBench, die das Smartphone wahlweise in den wenig oder in den viel genutz-
ten Zustand bringt. Zum Erreichen des für die künstlich gealterte Version angestrebten Fragmentierungsgrades muss der Speicher zunächst mit einer großen Zahl Dateien in verschiedenen Größen vollständig gefüllt werden. Dann löscht die MyBench-App nach einem festgelegten Muster einen Teil der Dateien, um Platz zu schaffen, in dem dann die festgelegten Datenbanken für die Kontakte, Nachrichten, Anrufliste und die Apps in fragmentierter Form installiert werden.
Wie aufwendig das Verfahren ist, lässt sich auch daran ablesen, dass die Präparation des Smartphones viele Stunden in Anspruch nimmt. Das Vorbereiten eines Mobiltelefons auf den unbenutzten Zustand mit zum Teil deutlich weniger Einträgen in den Datenbanken, weniger Multmediadateien und ohne Apps ist dagegen in wenigen Minuten durch MyBench vollbracht. Vor jeder Präparation muss das Smartphone zudem per Reset auf den fabrikneuen Zustand zurückgesetzt werden.
Dem Tempoverlust auf der Spur
Statt auf mehr oder minder synthetische Benchmarks wie Antutu, Geekbench, Quadrant oder ähnliche mit all ihren Nachteilen (siehe Kasten unten) zu setzen, entwickelten die Ingenieure von Huawei ein Verfahren zur direkten Geschwindigkeitsmessung. Hierfür haben sie eine Reihe von realen Aufgaben mit festgelegten Start- und Endpunkten definiert.
Diese Jobs – etwa das Öffnen der Kontaktliste, das Löschen einer Nachricht und das Starten der Kamera entweder zum ersten oder zum zweiten Mal nach einem sogenannten Forced Stop, führt beim connect-Messaufbau eine reale Person aus. Eine SmartphoneKamera im Slow-Motion-Modus filmt diese Vorgänge. Am Computer lassen sich die so entstandenen Filmsequenzen dann nachträglich
analysieren, um die Zeit zwischen dem ersten Berühren des Programm-Icons und etwa der vollständig geöffneten und mit Fotos gefüllten Bildergalerie zu messen. Bei connect liegt die Messauflösung bei 120 Bildern pro Sekunde, was 8,3 Millisekunden entspricht.
Huawei setzt für seine Messungen einen Roboter mit präzise gesteuertem Messfinger und einer professionellen Hochgeschwindigkeitskamera ein, die alle Bedienvorgänge hochgradig reproduzierbar durchführen und die Reaktionen erfassen kann.
Für immer jung?
Doch wie gut funktioniert nun die „Stay fast“-Optimierung der Chinesen? Ist ein echter Unterschied zwischen auf hohen Nutzungsgrad präparierten und fast jungfräulichen Smartphones festzustellen? connect hat eine ganze Reihe von mithilfe der MyBench-Applikation präparierten Smartphones untersucht und die Reaktionszeiten per Kamera untersucht. Die mehrmalige Prüfung einzelner Modelle zeigte dabei, dass das Verfahren in Einzelmessungen naturgemäß Schwankungen unterliegt. Über eine größere Anzahl verschiedener Messungen mitteln sich diese Differenzen aber aus.
Dass „Stay fast“sehr gut funktioniert, zeigen die derzeitigen Huawei-Spitzenmodelle P10 und P10 Plus eindrucksvoll. Mit einer mittleren Reaktionszeit von 0,64 bis 0,69 Sekunden setzen sie Benutzereingaben in den zehn getesteten Disziplinen sehr schnell um, die künstliche Alterung reduzierte die Leistung um 10,6 bis 12,4 Prozent. Das dürfte auch für sehr kritische Zeitgenossen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen.
Ein zum Vergleich herangezogenes Galaxy S7, das zugegebenermaßen nicht mehr die neueste Samsung-Generation repräsentiert, forderte mit einer mittleren Reaktionszeit von 1,12 Sekunden mehr Geduld von seinem Besitzer, besonders die Werte nach simuliertem Gebrauch liegen sehr
hoch. Das zeigt sich auch an einem Leistungsabfall von 196 Prozent. Wobei dieser Wert insbesondere durch die reproduzierbar lange Zeit verursacht wird, die das Löschen einer Nachricht in der gealterten Version braucht: 7,7 Sekunden stehen 0,5 Sekunden im neuen Zustand gegenüber, was einem Zuwachs von 1438 Prozent entspricht. Erwähnenswert: Die Zeit zum Öffnen des Browsers nimmt nicht so extrem zu, ist mit plus 218 Prozent aber ebenfalls erheblich.
Interessant ist, dass die „Stay fast“-Optimierung auch bei preiswerteren Smartphones wie dem P10 Lite funktioniert. Selbst das vorhergehende Topmodell P9 profitiert von „Stay fast“. Mit der neuesten Firmware ist das P9 zwar insgesamt etwas langsamer als P10 und P10 Plus, der Gebrauch setzt ihm mit einer Zunahme von 17,4 Prozent bei der Reaktionszeit aber kaum zu. Das ist kein Vergleich zum Huawei P9 mit Android 6.0 und ohne „Stay fast“, das nach der Gebrauchssimulation um über 60 Prozent langsamer wurde. Der Alterungsprozess lässt sich also eindämmen – hoffen wir, dass die anderen Hersteller das Problem ebenfalls angehen und an Lösungen arbeiten. BERND THEISS