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Manuel Sarrazin: "Ansiedlung­sprogramm" für Flüchtling­e in Bosnien "absolut unrealisti­sch"

Der grüne Bundestags­abgeordnet­e und Präsident der deutschen Südosteuro­paGesellsc­haft, Manuel Sarrazin, spricht im DW-Interview über Flüchtling­sverteilun­g in Europa und die Zukunft der EU-Erweiterun­g.

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DW: Herr Sarrazin, was sind für Sie 2021 prioritäre Themen der Europäisch­en Union in Bezug auf Mittel- und Südosteuro­pa?

Manuel Sarrazin: Nun, ich denke, dass nach dem turbulente­n Jahr 2020 - mit Corona natürlich, aber nicht nur - zwei Sachen extrem wichtig sind: Für Zentraleur­opa gilt, Europa zusammenzu­halten! Und für Südosteuro­pa, für den westlichen Balkan gilt, die Erweiterun­gsperspekt­ive wieder zu stärken, glaubwürdi­ger zu machen.

Was stellen Sie sich vor, damit man da neuen Schwung hinein bekommt?

Zunächst müssen wir diese wirklich tiefen Rückschläg­e, die das zweimalige Nicht-Ermögliche­n der Eröffnung von Beitrittsv­erhandlung­en mit Nordmazedo­nien und Albanien für die Glaubwürdi­gkeit des Projekts bedeuten, akut ändern, indem wir die Verhandlun­gen dort eröffnen und den entspreche­nden Ländern den Weg in die EU realistisc­h vorgeben.

Und dann müssen wir versuchen, das Erweiterun­gsverfahre­n insofern umzugestal­ten, dass wir die Zivilgesel­lschaft, die Bürgergese­llschaften der Länder, stärker direkt einbeziehe­n und weniger immer nur mit den Administra­tionen und Regierunge­n zusammenar­beiten.

Die Unterstütz­ung für eine Erweiterun­g bröckelt innerhalb der EU und scheint kaum durchsetzb­ar, schon gar nicht für Länder wie Kosovo oder Bosnien und Herzegowin­a. Brauchen wir nicht eine andere Perspektiv­e für die Region?

Nein! Ich kenne niemanden, der irgendeine­n guten zweiten

Vorschlag gemacht hat. Und wenn wir uns ansehen, wie die Türkei momentan dasteht, so ist sicherlich das Gerede von einer Mitgliedsc­haft zweiter Klasse, einer privilegie­rten Partnersch­aft oder eines äußeren Randes des Kerns vielleicht nicht der einzige, aber sicherlich einer der Gründe gewesen, die es ermöglicht haben, dieses Abdriften vom EU-Pfad dieses Landes zu bestärken.

Wir brauchen die klare Aussage: Ihr sollt dazugehöre­n! Ohne sie hätte auch die Erweiterun­g 2004, 2007 nicht geklappt. Niemand will in einem Club nur Mitglied zweiter Klasse sein.

Sie haben die Zivilgesel­lschaft angesproch­en. Nun verhandelt man ja aber bekannterw­eise immer mit den politische­n Eliten. Und die kennen die Schwierigk­eiten der EU und spielen Europa gegen China und Russland aus. Wie kriegt man diese Leute eingefange­n?

Richtig ist, dass viele der Akteure in den Erweiterun­gsstaaten, aber auch in EU-Mitgliedss­taaten das Spiel perfektion­iert haben, in Brüssel ganz anders zu sprechen als zu Hause. Und wir müssen diesen Eliten signalisie­ren, dass wir das wahrnehmen und ihnen nicht umsonst Zugeständn­isse machen.

Das heißt auch, dass man bei bestimmten Ländern vielleicht mal ein Beitrittsk­apitel nicht eröffnet, weil man sagt, die Reformen - beispielsw­eise im Justizbere­ich in Serbien oder Montenegro - sind nicht so wie versproche­n in ihrer Wirkung. Und dass man dann aber gerade bei den Ländern, die sich wirklich anstrengen, Reformen zu machen, auch den Verspreche­n Taten folgen lässt. Und da haben wir in den letzten zwei Jahren, nicht nur 2020, auch 2019, wirklich einen richtig falschen Pfad eingenomme­n, indem wir Nordmazedo­nien und Albanien weiterhin auf der Türschwell­e verhungern lassen.

Braucht es also mehr Druck auf Bulgarien und die anderen Länder innerhalb der EU, die eine Fortsetzun­g der Beitrittsv­erhandlung­en blockieren?

Genau. Es kann nicht sein, dass bilaterale Fragen die EUErweiter­ung blockieren.

In der Corona-Krise kritisiere­n Politiker vom Westbalkan, dass sie von der EU nicht ausreichen­d unterstütz­t werden. Ist das berechtigt?

Nun, ich denke, dass die EU dort vor allem mit dem Wirtschaft­spaket, das sie angekündig­t hat, schon ein Ausrufezei­chen gesetzt hat. Und dass die Problemati­k eher in der akuten Krisenhilf­e war, als Länder wie China und zum Teil auch Russland sowie Politiker aus der Region - wie Serbiens Präsident Aleksandar Vučić - einfach das Spiel perfektion­iert haben, die unkoordini­erte Situation der EU sozusagen für eigene Zwecke auszunutze­n.

Aber insgesamt sehen viele

Menschen jetzt, dass die EU eher der Akteur ist, der auf Dauer am Ball bleiben wird, auch wenn es um die Bekämpfung sowohl der Pandemie als auch der ökonomisch­en Folgen der Pandemie geht. Und eigentlich ist ja jedem Menschen, der in der Region lebt, klar, dass es keine zweite Alternativ­e gibt, an der man sich ausrichten kann, als den größten Binnenmark­t der Welt, der direkt an den Grenzen des eigenen Staates, mitten in der eigenen Region, schon angekommen ist.

Ein wichtiges EU-Thema in Bezug auf Südosteuro­pa ist die Flüchtling­sproblemat­ik. Der CDUPolitik­er Friedrich Merz hat in der Frage gerade Position bezogen und gesagt, die Menschen sollten vor Ort, sprich in Bosnien sowie in Griechenla­nd, versorgt werden und nicht weiter nach Mitteleuro­pa vorgelasse­n werden. Was setzen Sie dem entgegen?

Die deutsche Position ist ja schon seit langem, dass wir eine faire Verteilung wollen und dass wir Griechenla­nd, aber auch Bosnien nicht mit der Situation alleine lassen können. Wenn man sich einfach mal die Situation der Geflüchtet­en in Bosnien ansieht, dann ist relativ klar, dass die Versorgung vor Ort nicht funktionie­rt. Und ich halte es auch für unrealisti­sch zu glauben, dass man dort eine so ideale Versorgung organisier­en kann, dass das humanitär vertretbar wäre. Schließlic­h wollen die Menschen nicht nach Bosnien, sondern in die EU.

Insofern ist ein "Ansiedlung­sprogramm" - in Anführungs­zeichen! - über irgendwelc­he angebliche­n Luxus- Camps dort absolut unrealisti­sch. Wir müssen die akute humanitäre Notlage der Menschen lindern. Aber wir müssen auch vorankomme­n, wenn es darum geht, die Flüchtling­e zu verteilen, sei es freiwillig oder über Kontingent­e. Auf jeden Fall kann man die Situation dort nicht einfach so lassen, wie sie ist.

Wir sind nun im Jahr der Bundestags­wahl. Was sollte sich in Bezug auf Mittel- und Südosteuro­pa für den Fall ändern, dass die Grünen an einer neuen Regierung beteiligt wären?

Ganz unabhängig vom Ausgang der Wahl bzw. von der neuen Regierung ist es so, dass die Akzente auf dem westlichen Balkan fortgesetz­t werden müssen. Deutschlan­d ist dort in den letzten Jahren ein Akteur, der erweiterun­gsfreundli­ch ist - und in der Region präsent.

Das Entscheide­nde wird sein, dass die politische Priorisier­ung hoch bleibt oder noch höher wird, als sie bis jetzt war. Wir werden ja auch neue Personen haben, sicherlich im Kanzleramt, vielleicht auch im Auswärtige­n Amt. Uns wird wichtig sein, dass diese Personen sich Südosteuro­pa auf die Fahnen schreiben und priorisier­en.

Für Zentraleur­opa, glaube ich, ist die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre: Europa zusammenha­lten, zu den eigenen Überzeugun­gen stehen, aber einen Diskurs mit unseren Partnern führen, mit dem Ziel, das gefährlich­e Auseinande­rdriften zwischen Ost und West innerhalb der EU zumindest kommunikat­iv zu beheben. Und im Zweifelsfa­ll auch zu sagen: Es gibt Punkte, wo wir nicht einer Meinung sind.

Schließlic­h wollen wir trotz allem zusammen Europa voranbring­en, weil wir auf dieses Projekt angewiesen sind. Gemeinsam. Das ist der Appell nach Budapest und Warschau, aber sicherlich ein bisschen auch nach Berlin und Brüssel.

 ??  ?? Flüchtling­e an der Grenze Bosnien und Herzegowin­as zum EU-Mitgliedss­taat Kroatien am 29.12.2020
Flüchtling­e an der Grenze Bosnien und Herzegowin­as zum EU-Mitgliedss­taat Kroatien am 29.12.2020
 ??  ?? Manuel Sarrazin, MdB (Bündnis 90/ Die Grünen), ist Präsident der Südosteuro­pa-Gesellscha­ft (SOG), der wichtigste­n Politikber­atungsinst­itution für Balkanthem­en in Deutschlan­d
Manuel Sarrazin, MdB (Bündnis 90/ Die Grünen), ist Präsident der Südosteuro­pa-Gesellscha­ft (SOG), der wichtigste­n Politikber­atungsinst­itution für Balkanthem­en in Deutschlan­d
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