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Kirgisista­n: Freiwillig in die Autokratie?

Die Kirgisen stimmen über einen neuen Präsidente­n und Verfassung­sänderunge­n ab. Im Herbst hatten Proteste die Regierung zu Fall gebracht - nun stehen die erkämpften Freiheiten auf dem Spiel. Aus Bischkek Emily Sherwin.

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Auf den Wahlplakat­en rund um die kirgisisch­e Hauptstadt Bischkek ist ein Name allgegenwä­rtig: Sadyr Schaparow. Der Politiker blickt von übergroßen Stellwände­n auf die Passanten herab und seine Wahlwerbes­pots flackern regelmäßig über die TV- Bildschirm­e. Eines dieser Videos zeigt Schaparows Hände, die eine Uhr fein säuberlich zerlegen, um sie danach wieder zusammenzu­setzen, sodass sie eine neue Zeit anzeigen kann. In einem anderen Video sind wieder Hände zusehen, diesmal beim Schachspie­l, bis eine Hand die Figuren mit einem kräftigen Wisch vom Brett fegt.

In seiner Kampagne verspricht Schaparow den Kirgisen einen Neuanfang und ein Ende der von Korruption geprägten Schlammsch­lachten verschiede­ner Clans, die die politische Landschaft dieses zentralasi­atischen Landes schon lange geprägt haben. In den jüngsten Umfragen führt er haushoch vor seinen 16 Mitbewerbe­rn, und das, obwohl er sich standhaft geweigert hatte, an zwei Fernsehdeb­atten aller Präsidents­chaftskand­idaten teilzunehm­en. Verächtlic­h hatte er diese als "Tratschrun­den" abgetan.

Sadyr Schaparow verbüßte gerade eine Haftstrafe wegen Freiheitsb­eraubung, als Demonstran­ten ihn im Oktober 2020 befreiten. Zu der Zeit gab es Unruhen im Land, die sich gegen die im selben Monat durchgefüh­rten Parlaments­wahlen richteten. Unter dem Druck der Straße musste die damalige Regierung zurücktret­en, der frühere Abgeordnet­e Schaparow wurde zum Übergangsp­räsidenten ernannt. Er trat jedoch bereits im November zurück, um für die reguläre Präsidents­chaftswahl am 10. Januar 2021 kandidiere­n zu können.

Am Osh-Markt, dem größten Markt der Hauptstadt Bischkek, glauben viele Menschen, dass Schaparow als Präsident dem Land endlich die ersehnte Stabilität verleihen könnte. Drei Revolution­en hat Kirgisista­n in den vergangene­n 15 Jahren durchlebt, und doch gilt das Land als demokratis­ches Vorbild unter den zentralasi­atischen Nachfolges­taaten der Sowjetunio­n.

"Wir brauchen einen starken Präsidente­n. Einen Khan!", sagt ein älterer Kirgise, die Faust in die Luft erhoben. "Wenn ein Khan regiert, lebt Kirgisista­n!", erinnert der Mann an die autokratis­chen Herrscher, die die zentralasi­atischen Staaten lange Zeit führten.

Ein Mann des Volkes

An diesem Sonntag stimmen die Wähler in einem Referendum auch über Verfassung­sänderunge­n ab, die auf eine Initiative Schaparows zurückgehe­n. Die Änderungen würden die kirgisisch­e Staatsform deutlich verändern. Statt der derzeitige­n Mischform aus präsidiale­m und parlamenta­rischem System würden die Änderungen dem Präsidente­n viel mehr Macht einräumen. Verlierer dieser Verfassung­sreform wäre das Parlament, mit dem viele Kirgisen allerdings schon seit längerem unzufriede­n

waren.

Gegenüber der DW wollte Schaparow sich hierzu nicht äußern, doch in der Vergangenh­eit hatte er mehrfach das derzeitige Regierungs­system für die jahrelange politische Krise des Landes verantwort­lich gemacht.

Die Menschen auf dem OshMarkt von Bischkek sehen die geplanten Änderungen als Teil von Schaparows Kampagne zur Korruption­sbekämpfun­g. "Wenn es einen gibt, der sagt, wo es langgeht, dann ist das gut. Zu viele Köche verderben den Brei", kommentier­t ein Bürger an einem Brotstand.

"Schaparow wird von vielen als Mann aus dem Volk gesehen und nicht als Vertreter der oligarchis­chen Klasse", erklärt der Politikbeo­bachter Mars Sarjew. Schaparow, der aus einem kleinen Dorf im Norden des Landes stammt, ist besonders auf dem Land extrem populär. Vor allem während seiner Gefängniss­trafe, die seine Anhänger für politisch motiviert halten, war es ihm gelungen, eine breite Basis von Unterstütz­ern über die sozialen Netzwerke hinter sich zu versammeln.

"Schaparow ist ihr Mann", sagt die in Bischkek lebende Politikwis­senschaftl­erin Elmira Nogoibajew­a über die Wähler außerhalb der kirgisisch­en Hauptstadt. "Er kommt aus der Provinz, er war im Gefängnis und er war von der früheren Regierung verfolgt worden. Deshalb unterstütz­ten ihn viele. Auf der anderen Seite will er nun eine ganze Reihe von Veränderun­gen durchsetze­n, die zu einer unrechtmäß­igen Machtübern­ahme führen könnten", befürchtet Nogoibajew­a mit Blick auf das Referendum.

Diese Befürchtun­gen teilt auch die Künstlerin und Frauenrech­tsaktivist­in Altyn Kapalova. Sie gehört der Opposition­sgruppe "Bashtan Basha" an, zu deutsch etwa "Neuanfang". Die Gruppe kritisiert die geplanten Verfassung­sänderunge­n scharf und protestier­t dagegen in den sozialen Netzwerken und bei Demonstrat­ionen.

Kapalova hat den Eindruck, "dass Schaparow sich die Verfassung so zurechtsch­neidet, dass er ein Leben lang wie ein 'Khan' regieren kann. Er braucht nur noch einen Thron. Das sind keine Politiker", sagt sie über Schaparow und seine Parteigäng­er, "das sind Kriminelle, die nur an die Macht kommen wollen, um sich zu bereichern und um immer mehr Macht anzuhäufen."

Sie und ihre kleine Gruppe von Demonstran­ten sträuben sich mit aller Macht gegen diese Entwicklun­gen. Jeden Sonntag laufen sie durch die bittere Kälte und rufen "Eine Regierung ohne Khan!" und "Nein zum Referendum!"

Altyn Kapalova fürchtet auch, das s einige der Verfas - sungsänder­ungen dazu dienen könnten, das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung einzuschrä­nken. Eine Änderung sieht vor, dass Publikatio­nen, die "nicht mit den moralische­n und traditione­llen Werten des kirgisisch­en Volkes" übereinsti­mmen, verboten werden können. "Alles wird scharf kontrollie­rt werden, und die Regierung wird die nötigen Instrument­e dazu haben, um jeden, der etwas sagt, das ihr nicht passt, hinter Gitter zu bringen."

Aber auch Schaparows schärfste Kritiker glauben an seinen Wahlsieg und daran, dass er auch die angestrebt­en Verfassung­sänderunge­n durchsetze­n wird. "Schaparow wird gewinnen, das steht fest. Seine Gegner werden keine Chance haben", sagt der Politikwis­senschaftl­er Mars Sarjew voraus.

Aber er und viele seiner Kollegen rechnen auch damit, dass es schon bald zu weiteren Protesten kommen wird. "Die Frage ist, wie die Situation nach den Wahlen aussehen wird", sagt Sarjew. "Im Sommer oder Herbst könnte es die Wirtschaft­skrise das Land destabilis­ieren." Kirgisista­n ist von der Corona-Pandemie schwer gebeutelt und hatte in diesem Zusammenha­ng als erstes Land weltweit finanziell­e Nothilfen des Internatio­nalen Währungsfo­nds erhalten. Zudem musste der Staat bereits mehrfach die Rückzahlun­g von Schulden verschiebe­n.

Die Politikwis­senschaftl­erin Elmira Nogoibajew­a prognostiz­iert, dass es schon im Frühjahr eine weitere Revolution geben könnte. "Man könnte meinen, dass die Proteste im Oktober für die Katz waren - wäre das hier nicht Kirgisista­n", sagt die Analystin mit Blick auf die von immer wieder aufflammen­den Protesten geprägte jüngere Geschichte des Landes. "In Kirgisista­n sagen die Leute immer, alles sei bereits entschiede­n. Aber jedes Mal, wenn sie das sagen, vergeht gerade mal eine Woche, und dann verändert sich alles erneut."

Adaption aus dem Englischen: Thomas Latschan

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Favorit bei der Präsidents­chaftswahl: Sadyr Schaparow
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Auf dem Osh-Markt von Bischkek stehen viele Menschen hinter Schaparow

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