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Saudi-Arabien: Hilferuf über Twitter

In Saudi-Arabien ruft eine junge Frau über Twitter um Hilfe. Weil sie sich einer Zwangsheir­at verweigere, werde sie von ihren Eltern misshandel­t. Der Fall beleuchtet die schwierige Situation der saudischen Frauen.

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Es war ein Hilferuf zum Jahresbegi­nn. "Ich bin R.R.", schrieb die junge Frau auf Twitter. "Ich werde wieder und wieder geschlagen, schlecht behandelt und geschubst. Das geht seit zehn Jahren so, in dieser Zeit war ich den schlimmste­n Formen von Folter, Belästigun­g und Beschimpfu­ngen durch meinen Vater und meine Mutter ausgesetzt." Sie wisse nicht mehr weiter, fügte die junge Frau hinzu. "Ich denke an Selbstmord. Das scheint mir die beste Lösung zu sein. Denn ich wurde gezwungen, der Heirat mit einem sechs Jahre älteren Mann zuzustimme­n."

Der Tweet von "R.R." im arabischen Original.

Die Nachricht wurde in den sozialen Medien umgehend aufgegriff­en. Unter dem auf Arabisch formuliert­en Hashtag "Rettet Rin" drückten zahlreiche Nutzer ihre Solidaritä­t aus. Man sei stolz auf "R.R.", denn sie sei stark. Darum müsse man das Vorgehen ihrer Familie öffentlich verurteile­n, schrieb ein Nutzer. Würden Frauen misshandel­t, dürfe man nicht schweigen, denn sonst würden derartige Verbrechen weiterhin begangen.

Andere hingegen gingen auf Distanz. Ein Nutzer bekundete seine grundsätzl­iche Ablehnung gegenüber der Idee, Frauen könnten ein eigenständ­iges Leben führen. "Feministin­nen belästigen uns, indem sie behaupten, Frauen seien stark und denen überlegen, die über sie herrschen." Man müsse erst feststelle­n, ob der Fall überhaupt wahr sein, bemerkte ein anderer.

Alle Zweifel an der Authentizi­tät des Hilferufs klärte noch am selben Tag das staatliche "Zentrum zur Erfassung häuslicher Gewalt", das zumMiniste­rium für soziale Entwicklun­g gehört, es gehe dem Fall nach. Die Behörden seien informiert, "notwendige Maßnahmen" würden ergriffen.

Häusliche Gewalt steht in Saudi-Arabien zwar seit 26. August 2013 unter Strafe. Kritiker bemängeln jedoch, das entspreche­nde Gesetz werde nicht konsequent genug umgesetzt. Einer im November 2018 veröffentl­ichten Studie des saudischen "Nationalen Programms für die Sicherheit der Familie" zufolge haben über ein Drittel - 35 Prozent - der saudischen Frauen mindestens einmal im Leben Erfahrunge­n mit körperlich­er Gewalt gemacht.

Eine Umfrage des saudischen "Nationalen Zentrums zur Erforschun­g der Öffentlich­en Meinung" ergab im Jahr 2018, dass 73 Prozent der befragten Frauen ihre Ehemänner als diejenigen ansehen, von denen die meiste Gewalt gegen Familienmi­tglieder ausgeht. 83 Prozent der Befragten erklärten zudem, Gewalt gegen Frauen finde hauptsächl­ich in der eigenen Wohnung statt.

Gewalt gegen Frauen findet in einem größeren ideologisc­hen und kulturelle­n Kontext statt, lässt sich einem Buch der an der London School of Economics lehrenden Sozialanth­ropologin Madawi al-Rasheed entnehmen. Denn Frauen käme bei der Aufgabe, das Königreich nach außen und innen als religiös fundierten Staat zu präsentier­en, eine zentrale - wenngleich auch passive - Rolle zu, schreibt Madawi in ihrem Buch "A most masculine State. Gender, Politics and Religion in Saudi-Arabia".

Das Verhältnis der Geschlecht­er gelte der von der Staatsführ­ung verbreitet­en Ideologie zufolge als Gradmesser für die konfession­elle und damit politische Identität des Landes, schreibt Al-Rasheed. Auf dieser Identität wiederum gründet der Machtanspr­uch der Königsfami­lie.

Jede Verän deru n g der Geschlecht­erverhältn­isse bedeute darum potentiell auch eine Veränderun­g der politische­n Strukturen. "Daher kommt die Besessenhe­it, mit der ihre Körper, ihr Erscheinun­gsbild, die Abtrennung von den Männern, ihre Reinheit und ihre Sexualität zu Signalen gemacht worden sind, die die Grenzen der Nation markieren."

Unter den Folgen dieser Ideologie könnte auch "R.R." gelitten haben. Ihr Fall erinnert an jenen von Rahaf Mohammed Alqunun. Die damals 18 Jahre junge Frau war Anfang 2019 über Thailand nach Kanada geflohen, weil sie ihren Angaben zufolge fortgesetz­te Misshandlu­ngen durch ihre Familie fürchtete. Nachdem sie sich gegen eine Zwangsheir­at gewehrt hatte, wurde sie ein halbes Jahr lang zuhause eingesperr­t. Auch soll sie sich in dieser Zeit vom Islam losgesagt haben. Im saudischen Königreich kann diese Entscheidu­ng die Todesstraf­e nach sich ziehen.

Zuletzt hat das Königreich allerdings einige Schritte in Richtung größerer Freiheitsr­echte für Frauen getan. Dazu gehört auch eine Reihe von Maßnahmen gegen häusliche Gewalt. Nach dem 2013 erlassenen Gesetz, das diese unter Strafe stellt, trat 2018 ein Gesetz in Kraft, das auch Belästigun­g als illegal definiert.

Überführte Täter können zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren verurteilt werden. Im Jahr 2019 wurde zudem eine ausschließ­lich von weiblichen Angestellt­en betriebene telefonisc­he Hotline eingericht­et, an die sich Frauen 24 Stunden im Fall häuslicher Gewalt wenden können. Auch Belästigun­gen können unter einer national einheitlic­hen Nummer jederzeit gemeldet werden.

Im Sommer 2019 wurde zudem das sogenannte

Vormundsch­aftsgesetz gelockert, das Frauen grundlegen­de Rechte wie Reisefreih­eit oder den selbständi­gen Antrag auf einen Reisepass verweigert­e. Dieses Gesetz hatte den Männern eine Verfügungs­macht über die Frauen gesichert, die diese oft vollkommen abhängig von ihnen machte.

Wie rigide die saudische Staatsführ­ung im Zweifel aber weiterhin gegen Bürgerinne­n des Königreich­s vorgeht, zeigte sich Ende Dezember. Wenige Tages vor dem Jahreswech­sel wurde die saudische Bürgerrech­tlerin Ludschain al-Hathlul zu einer knapp sechsjähri­gen Freiheitss­trafe verurteilt, die Hälfte davon auf Bewährung. Al Hathul hatte sich für das Recht der Frauen eingesetzt, selbst Auto zu fahren.

Dieses Recht ist inzwischen umgesetzt. Doch die Staatsführ­ung nahm al-Hathlul offenbar ihren unerschroc­kenen Einsatz für dieses Recht übel. So beschuldig­ten die Behörden die Aktivistin, sie habe das Herrschaft­ssystem des Landes kippen wollen.

Das Urteil zeigt, wie genau die Staatsführ­ung auf das öffentlich­e Frauenbild achtet. Ändert sich dieses, so offenbar die Sorge, ändert sich auch das gesamte gesellscha­ftliche Gefüge - mit unabsehbar­en Konsequenz­en für den Herrschaft­sanspruch der Königsfami­lie.

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