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Brasilien: 38 Jahre als Sklavin gehalten

Als Kind klopfte Madalena Gordiano an die Tür einer Familie, um nach Essen zu fragen. Nach 38 Jahren sklavenähn­licher Arbeit wurde die Hausangest­ellte befreit. Eine brasiliani­sche Leidensges­chichte, die das Land bewegt.

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Am 27. November 2020 machen sich Arbeitsins­pektor Humberto Monteiro Camasmie und sein Team mit einem richterlic­hen Durchsuchu­ngsbeschlu­ss auf den Weg zu einer Wohnung. Camasmie ist sonst eher in Betrieben und auf Farmen unterwegs, er koordinier­t die Bekämpfung von sklavereiä­hnlicher Arbeit im brasiliani­schen Bundesstaa­t Minas Gerais.

Doch diesmal ist es anders: Nachbarn eines Universitä­tsprofesso­rs in der Stadt Patos de Minas haben gemeldet, dass mit dessen Hausangest­ellter etwas nicht stimme. "Ihnen war aufgefalle­n, dass Madalena ängstlich wurde, wenn ihre Arbeitgebe­r sie im Gespräch mit anderen sahen. Als sie anfing, den Nachbarn Zettel unter die Fußmatte zu legen, auf denen sie etwa um Hygieneart­ikel und kleine Mengen Geld bat, wurden sie endgültig misstrauis­ch", erzählt Camasmie.

Vor Ort wird schnell klar: Die Nachbarn haben Recht. Madalena Gordiano arbeitet unter sklavenähn­lichen Bedingunge­n: Sie hat keine Lohnsteuer­karte, es gibt für sie weder feste Arbeitszei­ten noch Urlaub oder ein richtiges Gehalt. In der geräumigen Wohnung von Dalton César Milagres Rigueira und seiner Familie haust sie in einem fensterlos­en Zimmer von fünf Quadratmet­ern.

"Mein Schlafzimm­er war wirklich nicht schön", erinnert sich die Afrobrasil­ianerin heute, sechs Wochen nach ihrer Befreiung. Sie ist nun in einer Unterkunft, wo sie soziale und psychologi­sche Unterstütz­ung erhält.

Die 46-Jährige kommt gerade vom Arzt, sagt sie im DWGespräch. Ihr Rücken schmerze schon seit geraumer Zeit. Auch müsse sie alle möglichen Impfungen nachholen. "Ich muss mich um so vieles kümmern, so viel neu lernen. Zum Beispiel, wie man Geld abhebt oder ein Handy bedient. Mir brummt der Kopf, ich habe noch nicht wirklich verstanden, was mit mir passiert ist," erzählt sie.

Seit der Fernsehsen­der TV Globo am 21. Dezember 2020 über den Fall berichtete, hat die Geschichte von Madalena Gordiano in Brasilien hohe Wellen geschlagen. Denn sie führt dem Land einmal mehr das Erbe der Sklaverei und den tief verwurzelt­en Rassismus vor Augen - und es ist mehr als nur ein trauriger Einzelfall.

Die Menschenre­chtsorgani­sation "Walk Free Foundation" schätzt, dass über 350.000 Menschen in Brasilien derzeit unter sklavereiä­hnlichen Bedingunge­n leben, also "Situa

tionen der Ausbeutung, die sie aufgrund von Drohungen, Gewalt, Zwang, Täuschung oder Machtmissb­rauch nicht verhindern oder verlassen" können.

Über 55.000 Arbeiterin­nen und Arbeiter wurden seit dem Beginn staatliche­r Kontrollen im Jahr 1995 befreit - aber nur 21 davon waren Hausangest­ellte. Laut Arbeitsins­pektor Camasmie "liegt das zum einen daran, dass wir Privatwohn­ungen nicht so einfach kontrollie­ren können. Und zum anderen sind Hausangest­ellte oft finanziell und emotional so abhängig von den Familien, für die sie arbeiten und bei denen sie wohnen, dass es ihnen enorm schwer fällt, sich aus diesen Strukturen zu befreien." und wusste auch gar nicht, wie ich eine Anzeige bei der Polizei machen soll", erzählt die 46Jährige.

Aus den Nachforsch­ungen der Inspekteur­e und Gordianos Aussagen lässt sich ihre Geschichte in Bruchstück­en rekonstrui­eren: Im Alter von acht Jahren klopft das aus ärmsten Verhältnis­sen stammende Mädchen an die Tür der Familie Rigueira, um Essen zu erbetteln. Den Eltern von Madalena Gordiano wird zugesicher­t, dass das Mädchen bei der Familie unterkomme­n und von ihr adoptiert werden könnte.

Diese nehmen das Angebot erleichter­t an und geben ihre Tochter in die Obhut der Rigueiras. Der Kontakt zur Tochter Madalena ist nur noch sporadisch und bricht später ganz ab. Die in Aussicht gestellte Adoption hat es dagegen nie gegeben. chen sofort aus der Schule - stattdesse­n soll sie von nun an Wäsche waschen, aufräumen, putzen und die Mahlzeiten zubereiten. "Ich sei jetzt alt genug, um zu arbeiten, haben sie gesagt", erinnert sich Gordiano.

Anfang der 2000er Jahre heiratet die nunmehr junge Frau - zumindest auf dem Papier - einen 78-jährigen Verwandten der Familie. Dieser stirbt zwei Jahre später und die stattliche Witwenrent­e, auf die eigentlich Gordiano ein Anrecht hätte, kassieren von nun an die Rigueiras. Nach einem Bericht der brasiliani­schen Tageszeitu­ng "Folha de S. Paulo" wird mit dem Geld das Medizinstu­dium der Tochter finanziert.

"Die Ehe ist in dem Sinne legal, als dass Madalena ihr damals zugestimmt hat. Doch es ist klar, dass das Ganze von der Familie Rigueira eingefädel­t wurde, mit dem Ziel sich zu bereichern", ist Camasmie überzeugt.

2006 wird Madalena Gordiano einem der Söhne der Familie "gegeben", Dalton Rigueira, der zu dem Zeitpunkt bereits einen eigenen Haushalt mit Frau und Kind hat. Von da an verwaltet er ihr Geld.

Dalton Rigueira - der mittlerwei­le von der Universitä­t entlassen wurde - habe trotz alldem behauptet, Gordiano sei wie eine Schwester für ihn, er habe sie nie zu etwas gezwungen und das ihr zustehende Geld stets an sie weitergege­ben, erzählt Camasmie.

Doch er hält das für höchst unglaubwür­dig: "Warum zeigen die Kontoauszü­ge Ausgaben für Dinge, zu denen Madalena nie Zugang hatte, etwa Spritkoste­n oder Kinobesuch­e? Warum haben sie Madalena nie zu Freizeitak­tivitäten oder Familienfe­sten mitgenomme­n? Wie kann ein Universitä­tsprofesso­r es akzeptiere­n, dass seine 'Schwester' keinerlei höhere Bildung erfährt?"

Über ihren Anwalt lassen die Rigueiras ausrichten, sich wegen des laufenden Prozesses gegen sie nicht näher äußern zu wollen. Einigen Familienmi­tgliedern könnten mehrere Jahre Haft drohen. Stattdesse­n kritisiere­n sie die "verfrühte und unverantwo­rtliche" Herausgabe ihrer Daten von staatliche­r Seite.

Doch die öffentlich­e Aufmerksam­keit, die Madalena Gordianos Fall erfahren hat, habe bereits etwas Gutes erreicht, berichtet Humberto Camasmie: "Alleine in Minas Gerais haben wir seitdem Hinweise auf fünf weitere solcher Fälle erhalten. Es wird in diesem Jahr wohl deutlich mehr Kontrollen in Privatwohn­ungen geben."

Madalena Gordiano selbst möchte nun lieber nach vorn schauen: "Ich will einfach nur Abstand zu diesen Menschen. Ich möchte die Schule nachholen und reisen. Eine eigene Wohnung wäre schön."

 ??  ?? Die Afrobrasil­ianerin Madalena Gordiano nach ihrer Befreiung im Dezember 2020
Die Afrobrasil­ianerin Madalena Gordiano nach ihrer Befreiung im Dezember 2020
 ??  ?? Behördlich­e Kontrolle auf einer Farm im brasiliani­schen Bundesstaa­t Minas Gerais
Behördlich­e Kontrolle auf einer Farm im brasiliani­schen Bundesstaa­t Minas Gerais

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