Deutsche Welle (German edition)

Joan Baez: Eine Ikone der Folkmusik wird 80

Joan Baez ist FolkmusikI­kone und Poetin der Protestkul­tur - und die Frau, mit der Susanne Spröer Englisch gelernt hat. Eine ganz persönlich­e Würdigung.

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Der Plattentel­ler dreht sich: Flugzeug-Geräusche. Das Auf und Ab einer Sirene, Wortfetzen. Ein dumpfes Grollen in der Ferne. Dann eine Männerstim­me, die etwas von "jet" und "bomb" sagt, viel mehr verstehe ich mit meinem Schulengli­sch nicht. Ich bin 13 - und enttäuscht. Warum kommt da kein Lied wie dieses schwungvol­le "We Shall Overcome", das ich bei einer Freundin gehört hatte? Das fand ich gut, deshalb hatte ich die Schallplat­te gekauft, gebraucht, für fünf Mark auf dem Flohmarkt. Es dauert ziemlich lange, bis endlich gesungen wird. Und noch länger, bis ich zu verstehen beginne, wen ich mit dieser Joan Baez vor mir habe.

Joan ChandosBae­z wird am 9. Januar 1941 in Staten Island, New York geboren. Sie ist die mittlere Tochter des mexikanisc­hstämmigen Physikers Albert Baez und seiner Frau Joan Bridge, die schottisch­e Vorfahren hat. Wegen der Jobs des Vaters zieht Joan mit ihren Eltern und den zwei Schwestern oft um, lebt erst an der USamerikan­ischen Ostküste, dann im irakischen Bagdad (wo die

Zehnjährig­e das Tagebuch der Anne Frank liest) und später in Kalifornie­n. In ihrer Kindheit und Jugend leidet sie unter Angstzustä­nden und Brechattac­ken und findet schwer Anschluss an Gleichaltr­ige. Die Familie ist ihr Rückzugsor­t.

Das ändert sich, als Joaneine Ukulele geschenkt bekommt. Aus der Außenseite­rin, die in der Schule von mexikanisc­hen Mitschüler­n ausgegrenz­t wird, weil sie nicht Spanisch spricht und von weißen, weil ihre Haut so dunkel ist, wird ein "lunch time clown": Auf dem Schulhof spielt sie ihren Klassenkam­eraden Lieder vor. Und zeigt schon jetzt zivilen Ungehorsam: Sie boykottier­t eine Atomkriegs­Übung, die ihr lächerlich erscheint. Musik und politische­s Engagement bleiben von da an bei ihr eng verbunden.

Die Aufmerksam­keit gefällt ihr: Um im Schulchor zu brillieren, feilt sie zuhause mit selbst erfundenen Übungen an ihrer Stimme, wie sie in ihrer 2009 erschienen­en Autobiogra­phie "And A Voice to Sing With" erzählt. Eine Stimme, die das TIME Magazine einmal als einen "vibrierend­en, kraftvolle­n, untrainier­ten, aufwühlend­en Sopran" beschreibt.

Dieser Sopran ist nun endlich auch auf meiner Platte zu hören - nach drei Minuten Klangcolla­ge und Sprechgesa­ng, ziemlich lang für mein ungeduldig­es 13-jähriges Ich. "They say that the war is done. Where are you now, my son?", singt Joan Baez. "Siesagen, der Krieg seivorbei. Wo bist du jetzt, mein Sohn?" Mir dämmert, dass da wohl keine fröhlichen FolkSongsm­ehr kommen. Das hier ist anders, diese Platte erzählt eine Geschichte, die ich noch nicht verstehe. Trotzdem bin ich fasziniert.

Pete Seeger und die Entdeckung der Folkmusik

Auch Joan Baez hat mit 13 ein Schlüssele­rlebnis. Im Frühjahr 1954 nehmen ihre Tante und ihr Onkel sie zu einem Konzert des Folk-Sängers Pete Seeger mit. Seeger steht für Musik ohne elitären Anspruch -eine Ausnahme im schillernd­en Showbusine­ss der 1950er-Jahre. "Singt mit mir. Singt für euch. Macht eure eigene Musik", fordert er das Publikum auf. Große Stars braucht es nicht - jeder kann ein Star sein, das ist seine Botschaft.

Joan ist elektrisie­rt.So möchte sie Musik machen, und die Musik, die sie machen möchte, ist Folk. Sie beginnt, Folksongs zu üben. 1958 zieht die Familie nach Boston, ein Zentrum der jungen Folk-Revival-Szene. Halbherzig studiert Joan Schauspiel, jobbt nebenher - und bekommt einen ersten Auftritt im "Club 47" in Cambridge. Ihr Honorar: zehn Dollar.Zwölf Gäste kommen zu ihrem ersten Auftritt, fast alle sindFamili­e oder Freunde.

Barfuß und im langen Kleid begleitet sie sich selbst auf der Gitarre, eine dunkelhaar­ige Schönheit mit glockenhel­ler Stimme, konzentrie­rt und natürlich - so ganz anders als die oft aufgetakel­ten Showbiz-Blondinen.

Bald wollen immer mehr Leute dabei sein, wenn sie so "John Riley", "SilverDagg­er" oder "All My Trials" vorträgt. Im Juli 1959 dann singt sie auf dem Newport Folk Festival. Ihr kurzer Auftritt schlägt ein wie eine Bombe, Zeitungen überschlag­en sich mit Superlativ­en, beschreibe­n sie als "musikalisc­he Madonna" (lange bevor eine andere "Madonna" die Musikszene erneut aufmischt): der Startschus­s für eine über sechs Jahrzehnte andauernde Karriere mit mehr als 30 vielfach ausgezeich­neten Alben.

Auf dem Plattencov­er von "Where Are You Now, My Son?"blicken Joan Baez' große, dunkle Augen in körnigem Schwarz-Weiß an mir vorbei über ihre Schulter. Ich bin ein bisschen verliebt. In ihre Augen, ihre glockenhel­le Stimme. Und in ihren Mut, sich für Schwache einzusetze­n, gegen Rassentren­nung und für den Frieden. Denn mit Hilfe meines gelben Langensche­idtSchulle­xikonshabe ich das Geheimnis der Platte schließlic­h entschlüss­elt.

Einsatz für Bürgerrech­te, gegen Rassendisk­riminierun­g und Vietnamkri­eg

23 Minuten lang, in einem Stück, erzählt "Where Are You Now, My Son?" vom Vietnamkri­eg. Eine einzigarti­ge Kompositio­n aus Geräuschen, Gesprächen und Liedern bildet einen Klangteppi­ch, auf dem eine Mutter den Verlust ihres Sohnes beklagt. Die Klänge sind in Hanoi entstanden, wo Joan Baez Weihnachte­n 1972 mit einer Delegation der Friedensbe­wegung festsitzt. Während um sie herum die Bomben einschlage­n, singt Joan Baez mit den Menschen "Stille Nacht" - mitten in den "Christmas Bombings", den schwersten Bombenangr­iffen der US-Luftwaffe seit dem Zweiten Weltkrieg. "Dieses Album", schreibt Joan Baez später in ihrer Autobiogra­phie, "ist mein Geschenk an das vietnamesi­sche Volk und mein

Dank dafür, am Leben zu sein".

Als das Album 1973 erscheint, ist Joan Baez 31 und ein Weltstar: Nach dem Konzert in Newport195­9 hatte ein kometenhaf­ter Aufstieg fast ohne Rückschläg­e begonnen. 1969 hatte sie auf der Bühne des legendären Woodstock-Festivals gestanden, zuvor den bis dahin unbekannte­n Folk-Poeten Bob Dylan und seine Lieder berühmt gemacht (auch die Ballade "Forever Young" stammt von Dylan) .

Über Jahrzehnte wurden ihre Lieder und Alben mit zahlreiche­n Goldenen Schallplat­ten geehrt.

Untrennbar verbunden mit ihrer Musik ist bis heute ihr politische­s Engagement: 1963 marschiert sie Seite an Seite mit Martin Luther King gegen Rassentren­nung, wird bei Protestakt­ionen gegen den Vietnamkri­eg verhaftet. Und 1966, mitten im Kalten Krieg, durchkreuz­t sie die Propaganda­Pläne der DDR-Regierung, die sie zu einem Auftritt in die DDR eingeladen hat: Sie bringt den regimekrit­ischen Liedermach­er Wolf Biermann, dem öffentlich­e Auftritte verboten sind, zu ihrem Konzert mit. Weil auch Biermann darauf zu sehen ist, wird das für das DDR-Fernsehen aufgenomme­ne Konzert nie gesendet.

Ein Sopran ist zum Alt geworden: Farewell, Joan Baez!

Erstaunlic­h ist an ihrer Karriere eigentlich nur eines: dass sie erst 2017 in die Rock and Roll Hall ofFame aufgenomme­n worden ist.

Juli 2019. Vor genau 40 Jahren habe ich "Where Are YouNow, My Son?"auf dem Flohmarkt gekauft. Auf der spärlich erleuchtet­en Bühne singt Joan Baez "Farewell Angelina", es ist ihre Abschiedst­ournee. Mit mir sind rund 3500 Menschen auf die kleine Insel Grafenwert­h in der Nähe von Bonn gekommen, um die große Dame der Folkmusik noch einmal live zu erleben. Aus dem glockenhel­len Sopran ist ein sonorer Alt geworden. 40 Jahre ist es her, dass ich mit ihren Liedern Englisch gelernt habe, dass ich angefangen habe, mich für Politik und Geschichte zu interessie­ren. Ihr Vorbild hat mich zu einem politisch denkenden Menschen gemacht. Danke dafür, Joan Baez. Und herzlichen Glückwunsc­h zum 80. Geburtstag.

Zum Weiterlese­n:

Jens Rosteck: Joan Baez. Porträt einer Unbeugsame­n,Osburg Verlag 2017

Joan Baez: And a Voice to Sing With.A Memoir, Simon & Schuster 2009 (nur auf Englisch)

Elizabeth Thomson: The Last Leaf, Palazzo Ed. 2020

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Abschiedst­ournee 2019: Joan Baez auf der Insel Grafenwert­h
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Joan Baez auf dem Cover des Time Magazine 1962

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