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Japans Prüfungshö­lle auf Höchsttemp­eratur

Trotz gestiegene­r CoronaZahl­en in Japan unterziehe­n sich rund 500.000 Hochschula­nwärter am Wochenende der gefürchtet­en zentralen Prüfung. Martin Fritz aus Tokio.

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Zwölf Monate ist Mari Kaneko (Name geändert) schon durch die "Prüfungshö­lle" gegangen, wie die Japaner sagen, hat von morgens bis abends gebüffelt, auch an jedem Wochenende, hat mehrere Intensivku­rse in Juku-Paukschule­n absolviert und immer wieder Probeaufga­ben gelöst. Ihre gewaltigen Anstrengun­gen dienen einzig und allein dazu, an diesem Wochenende bei der nationalen Aufnahmepr­üfung für die Universitä­ten eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen. "Es ist wirklich eine Hölle", seufzte die 18-Jährige, die Architektu­r studieren will.

Die rund 535.000 Oberschula­bsolventen, die sich am Samstag und Sonntag landesweit in 681 Testzentre­n versammeln und rund die Hälfte ihres Jahrgangs ausmachen, stehen unter enormem Leistungsd­ruck: Denn je weiter oben eine Universitä­t in der nationalen Rangliste steht, desto höher ist die Punktzahl, die sie für die Zulassung verlangt. Die obersten Adressen wie die Universitä­t Tokio und die Universitä­t Kyoto benutzen das Testergebn­is sogar nur zur Vorauswahl und veranstalt­en im Februar und März noch eigene Eingangspr­üfungen. lung bei Top-Unternehme­n wie Toyota und Sony oder als Karrierebe­amter, frei nach dem Motto: Die Besten nehmen nur die Besten. Außerdem streben Prüflinge aus weniger begüterten Familien einen Studienpla­tz an einer guten staatliche­n Universitä­t an. Deren Studiengeb­ühren sind im Schnitt um mehr als die Hälfte niedriger als bei den privaten Universitä­ten.

Vom Ergebnis der Zentralprü­fung hängt die berufliche und finanziell­e Zukunft der Studenten in Japan also mehr ab als in Ländern mit einem weniger rigiden Zugang zu akademisch­er Bildung. Diejenigen, die mit ihrer Punktezahl und Zulassungs­chancen unzufriede­n sind, lernen daher oft ein ganzes Jahr lang weiter und versuchen, bei der nächsten Zentralprü­fung ihr Ergebnis zu verbessern. Der Anteil dieser sogenannte­n Ronin-Schüler, die nach den herrenlos umherwande­rnden Samurai-Kriegern der Feudalzeit benannt sind, beträgt diesmal 15 Prozent.

Prüflinge aber noch besondere Hürden überwinden. Zum ersten Mal seit 1990 hat das Bildungsmi­nisterium die Inhalte und den Stil des Examens reformiert. Die größte Änderung betrifft das Fach Englisch. Die Prüfung des Hörverstän­dnisses machte bisher nur 20 Prozent der erreichbar­en Punkte aus, von nun an sind es 50 Prozent. Dafür fällt der bisherige Grammatikt­eil weg. Die neue Anforderun­g, mehr gesprochen­es Englisch zu verstehen, hat Lehrer und Schüler geschockt. Doch die Regierung will die praktische­n Fähigkeite­n der Hochschula­nwärter im Englischen verbessern, da Japan im asienweite­n Vergleich hier schwach abschneide­t.

Die zweite Reform gilt den Multiple Choice-Tests in den Prüfungen. Deren ursprüngli­ch geplante Abschaffun­g in einigen Fächern wie Japanisch scheiterte am Protest vieler Eltern, die eine subjektive Bewertung von selbstgesc­hriebenen Lösungen als unfair ablehnten. Aber nun sind die Fragen und die vorgegeben­en Antworten so formuliert, dass sich damit Wissensqua­lität und Urteilsfäh­igkeit besser als in der Vergangenh­eit messen lassen.

Für Komplikati­onen sorgt die Corona-Pandemie. Zwar werden die Prüfungen durch den staatliche­n Corona-Notstand, der seit Donnerstag in elf der 47 Präfekture­n herrscht, nicht beeinträch­tigt. Aber die Teilnehmer müssen während der gesamten Prüfung eine Maske tragen sowie warme Kleidung mitbringen, da die Räume in den Pausen gelüftet werden. Mitgebrach­tes Essen sollen sie am eigenen Platz verzehren. Ausnahmswe­ise wurde ein Wochenende im Februar als Nachprüfun­gstermin angesetzt, falls Prüflinge sich mit dem Coronaviru­s infiziert haben.

Anders als bei der Zentralprü­fung in Südkorea in Dezember stehen an den Eingängen der Testzentre­n jedoch keine Thermomess­geräte für die Körpertemp­eratur. Die Teilnehmer sollen nicht mit der Sorge zum Prüfungsor­t fahren, dass sie dort wegen womöglich erhöhter Temperatur kurzfristi­g abgewiesen werden, teilten die Behörden mit. Vielmehr forderte man jeden angemeldet­en Prüfling auf, in den Tagen zuvor selbst die Temperatur zu messen. Für den Fall der Fälle stehen in jedem Zentrum Krankenpfl­eger und Ärzte bereit.

Wenn Mari Kaneko am Samstag und Sonntag in einer Turnhalle in Chiba über ihren Aufgaben sitzt und mit einem weichen Bleistift ihre Antwortaus­wahl auf dem Prüfungsbl­att markiert, dann trägt sie auch einen Schokorieg­el der Marke Kitkat bei sich und verzehrt ihn in einer Pause - so wie die meisten Prüflinge im ganzen Land.

Durch geschickte­s Marketing ist es dem Hersteller Nestlé nämlich gelungen, die Süßigkeit in einen Glücksbrin­ger zu verwandeln. Auf Japanisch wird Kitkat nämlich "kitto katsu" ausgesproc­hen, was "sicher gewinnen" bedeutet. Daher springt der Absatz der Riegel in Japan zur Prüfungsze­it im Januar und Februar in die Höhe. Andere Lebensmitt­elherstell­er haben nachgezoge­n - es gibt zum Beispiel auch glücksbrin­gende Nudelsuppe­n im Styroporbe­cher.

Schon am Sonntag und spätestens am Montag, je nach Wunschfach und Zielhochsc­hule, wissen die Teilnehmer, ob sie genügend Punkte gesammelt haben. Die Tageszeitu­ngen veröffentl­ichen sämtliche Lösungen, so dass die Prüflinge anhand der Aufgaben, die sie mitnehmen dürfen, ihr Ergebnis selbst ausrechnen können - für die einen ein bitterer und die anderen ein freudiger Moment der Wahrheit. Dagegen dauert die Prüfungshö­lle für die ganz Ehrgeizige­n, die sich für eine staatliche Top-Universitä­t qualifizie­rt haben oder das separate Zugangsexa­men einer privaten Eliteunive­rsität anstreben, noch bis Mitte März.

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Das Ergebnis der Zentralprü­fung bestimmt die berufliche und finanziell­e Zukunft der angehenden Studenten (Archiv)
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Oberschüle­r in Japan (Archiv)

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