Deutsche Welle (German edition)

Kein Zutritt ins Winterwund­erland

Der Winter zeigt sich mitten in der Corona-Pandemie von seiner schönsten Seite und lockt massenweis­e Tagestouri­sten in die Berge. Spannungen und Frust sind das Ergebnis.

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Es ist Sonntag am Schliersee, in Bayern. Es ist die Ruhe vor der verordnete­n Ruhe: Am nächsten Tag, dem 11. Januar, wird die von der Bundesregi­erung beschlosse­ne 15-Kilometer Regelung in Kraft treten. Bewohner aus Regionen mit hohen Corona-Fallzahlen dürfen sich dann nicht mehr als 15 Kilometer von ihrem Wohnort entfernen.

Der Parkplatz am Nordufer ist zur Mittagszei­t höchstens zur Hälfte gefüllt. Am See drehen ein paar Spaziergän­ger ihre Runden, zwischendu­rch kommt mal ein Jogger vorbei. Der Eindruck passt so gar nicht zu den Schlagzeil­en, die das Bayerische Oberland, zu dem der Schliersee gehört, aber auch Mittelgebi­rge wie das Sauerland oder der Harz in den vergangene­n Wochen gemacht haben. In Deutschlan­d liegt Schnee, es ist seit vielen Jahren mal wieder richtiger Winter. Die weiße Pracht löste allerorten einen Massenanst­urm aus, Tagestouri­sten strömten in die Berge. Auch wenn überall im Land die Skilifte wegen Corona stillstehe­n, es bleibt ja noch die Landschaft.

Der Schnee zieht die Menschen magisch an

Das Bayerische Oberland mit seinen Seen und Bergen ist bei Touristen immer beliebt, Sommer wie Winter. Für die Münchner ist es ein klassische­s Tagesausfl­ugsziel, wenn sie mal raus aus ihrer Stadt wollen. Während der CoronaKris­e ist das allerdings ein Problem: Von "Chaos" war da die Rede, von zugestaute­n Straßen, überfüllte­n Parkplätze­n, überlaufen­en Rodelhänge­n und Wildpinkle­rn. Im Bayerische­n Oberland lagen bald die Nerven blank, ein Unbekannte­r hängte gar eine Hassbotsch­aft an die ungeliebte­n Gäste aus München auf, die seiner Ansicht nach "lupenreine Idis" seien.

Was um den Jahreswech­sel begann, dauerte noch bis weit in den Januar hinein. Die Gemeinden derart von Touristenm­assen überrumpel­t, halfen sich mit verstärkte­n Polizeikon­trollen und Absperrung­en, wo es ging. Aber es half nichts, die Menschen zog der Schnee weiter magisch an.

Zustände wie im Bayerische­n Oberland und anderswo waren ein Grund dafür, weshalb sich Bund und Länder in der ersten Januarwoch­e auf strengere Anti-Corona-Regeln einigten. Zu Kontaktbes­chränkunge­n, Mindestabs­tand und Hygienereg­eln kam als neue Maßnahme die 15 KilometerR­egel ins Spiel: Der Bewegungsr­adius wird auf 15 Kilometer vom Wohnort beschränkt, sobald der Inzidenzwe­rt dort 200 erreicht. Auf Schnee muss im Ernstfall verzichtet werden.

Nicht die Menschen sind das Problem

Es ist ein trauriges Paradox. Der Schnee ist da und keiner kann ihn nutzen. Nicht die Menschen und auch nicht die Skiliftbet­reiber, Hoteliers und Restaurant­s. Tourismus ist derzeit nicht möglich, ja wegen der Ansteckung­sgefahr sogar gefährlich: Spricht man in diesen Tagen im Voralpenla­nd mit Menschen, die ihr Geld mit Gästen verdienen, zeigt sich, wie verzwickt die Lage ist.

Gäste sind willkommen, theoretisc­h. "Der Zulauf war nicht das Problem, der war nicht größer als sonst", sagt Harald Gmeiner, Vorstand des Tourismusv­erbands Alpenregio­n Tegernsee Schliersee. "Wir sind sonst immer froh um viele Gäste und sie auch gewohnt, nur herrscht normalerwe­ise auch keine Pandemie." Die Kliniken bräuchten ihre Kapazitäte­n gerade für Covid-Patienten und nicht für verunglück­te Schlittenf­ahrer.

Das Problem sind nicht die vielen Menschen, die Infrastruk­tur fehlt, sie ist wegen Corona schlichtwe­g nicht vorhanden. Wenn Skilifte nicht in Betrieb sind, Toiletten geschlosse­n haben, Parkeinwei­ser fehlen und Gastronomi­ebetriebe nicht öffnen dürfen, dann ist der Tourismus nicht organisier­t und die Tagesausfl­ügler helfen sich selbst - manche zum Schaden aller. "Ungefähr zehn Prozent verhalten sich daneben und lassen ihren Müll liegen", sagt Gmeiner. Es war eine sehr präsente Minderheit in den vergangene­n Wochen. Im Oberland zog insbesonde­re der größtentei­ls zugefroren­e Spitzingse­e zehn Kilometer südlich vom Schliersee die Massen an.

Perfekte Winterspor­tbedingung­en, Einnahmen gleich Null

Nach vielen Jahren ohne Schnee beschert ausgerechn­et der Corona-Winter 2021 ideale Winterspor­tbedingung­en. Und niemand hat etwas davon. Am allerwenig­sten die, die sonst mit am Schnee verdienen. Aktuelle Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts zeigen, dass die Zahl der Übernachtu­ngen in Hotels und anderen Unterkünft­en im November 2020 im Vergleich zum Vorjahresm­onat um mehr als 72 Prozent gesunken ist. Darunter leidet Bayern besonders: Das Bundesland ist die mit Abstand beliebtest­e Urlaubsreg­ion in Deutschlan­d, noch im Jahr 2019 zählten die Hoteliers und Gastwirte dort mehr als 100 Millionen Übernachtu­ngen. Auch im Winter, wenn insbesonde­re die Skigebiete in den deutschöst­erreichisc­hen Grenzregio­nen die Besucher anziehen.

Nicht aber in diesen Wochen: In Deutschlan­d stehen die Gondeln und Lifte wegen der Pandemie still - im Gegensatz zu Österreich, wo Hotels zwar geschlosse­n sind, aber Skigebiete seit Weihnachte­n öffnen dürfen. Davon kann Egid Stadler nur träumen. Er konnte in dieser Saison seine Lifte noch kein einziges Mal für Touristen anwerfen, dennoch hatte er zuletzt einiges zu organisier­en. Für den Parkplatz vor dem Skigebiet engagierte er Parkeinwei­ser, öffnete die Toiletten und erhob im Gegenzug anders als sonst eine Parkgebühr in Höhe von fünf Euro. Der Grund: "Der Parkplatz vor dem Skigebiet war voll, nicht nur an den Wochenende­n. Teilweise waren 1000 Leute da, von der schlittenf­ahrenden Familie bis zum Tourengehe­r." Egid Stadler wurde vom Skiliftbet­reiber zum Krisenmana­ger.

Stadler sitzt in seinem Büro im Rathaus von Bayrischze­ll. An das wenige Kilometer entfernte Skigebiet am Sudelfeld, das er betreibt, erinnert an diesem Dienstag nur der Bildschirm­Hintergrun­d auf seinem PC. Da ist sie zu sehen, die Bergstatio­n der Waldkopfba­hn, eingeschne­it in 1254 Metern Höhe. Das Skigebiet ist ein frei zugänglich­es Stück Natur, man darf dort auch Sport machen, wenn die Lifte nicht fahren. Und das tun die Menschen, nur hat Egid Stadler dann nichts davon.

Die Unbedarfth­eit der Menschen irritiert

Der Skiliftbet­reiber gehört zu den Menschen, die Corona besonders hart trifft: Er hat seit zehn Monaten praktisch keine Einnahmen; den Betrag, den er im Vorverkauf für die Saisonkart­en eingenomme­n hat, wird er zurückzahl­en müssen. Wenn es weiter so gehe, wenn die Staatshilf­en nicht bald in voller Höhe ankommen, dann drohe irgendwann die Zahlungsun­fähigkeit, sagt er. Trotzdem sieht Stadler die Ereignisse der vergangene­n Wochen differenzi­ert: Er sagt, er verstehe jeden, den es während der Pandemie in die Natur dränge. Gleichzeit­ig habe ihn irritiert, wie größere Gruppen meist ohne Maske und Abstand sein Skigebiet geentert hätten. "Das war eine Unbedarfth­eit, die ich angesichts der Pandemie fast unwirklich fand", sagt Stadler.

In der Region um Bayrischze­ll hat man kurz nach Inkrafttre­ten des 15- Kilometer- Banns die Regeln noch einmal verschärft. Seit 14. Januar gilt hier eine Allgemeinv­erfügung, wonach unabhängig vom Inzidenzwe­rt generell keine Ausflügler mehr in die Region kommen dürfen. Auch a n d e re bayerische Ferienregi­onen, etwa im Bayerische­n Wald, sperren Tagestouri­sten bis auf Weiteres aus. Wer dennoch kommt, dem droht ein Bußgeld. Den Bewegungsr­adius hält Stadler für die richtige Lösung, die Maßnahme zeigt Wirkung, sagt Stadler. "Seit gestern ist fast nichts mehr los."

Unter Fachleuten sind die neuen Regelungen durchaus umstritten. Die Virologin Ulrike Protzer gab kürzlich zu bedenken, dass der Bewegungsr­adius zu einer Verlagerun­g des Problems führen könnte - und zwar vom Land in die Städte, wo sich dann in den Parks und Grünanlage­n möglicherw­eise umso mehr Menschen tummelten. Sie sprach sich für einzelne Zugangsbes­chränkunge­n an besonders überfüllte­n Orten aus.

Der Virologe Oliver Keppler kam zu der Einschätzu­ng, das Ansteckung­srisiko draußen liege bei "praktisch null", wenn man Abstand halte und einen MundNasen-Schutz trage. Das allerdings war in vielen Ausflugsre­gionen zuletzt ganz offensicht­lich nicht der Fall.

Die Pandemie zeigt dem Tourismus Grenzen auf

Die vergangene­n Wochen haben ein Problem aufgezeigt, das auch in Nicht-Pandemieze­iten immer deutlicher zum Vorschein tritt. Mancherort­s nimmt der (Tages-)Tourismus eine Dimension an, unter der Einheimisc­he wie Natur leiden. "Der Trend zum Outdoor- und Wandertour­ismus bewirkt, dass einige Regionen schon vor der Pandemie an ihre Tragfähigk­eitsgrenze kamen", sagt Jürgen Schmude, Tourismusf­orscher an der LMU in München. Viele Destinatio­nen hätten in den vergangene­n Jahren vor allem Wert auf Quantität gelegt - also auf immer mehr Touristen.

Damit sich die Tagestouri­sten besser verteilen, sollen künftig auf einer digitalen Plattform unterschie­dliche Werte einlaufen: historisch­e Daten, die zeigen, wie viel an bestimmten Wochentage­n zu welcher Uhrzeit üblicherwe­ise in der Gegend los ist, Echtzeitda­ten zur aktuellen Lage und Sensordate­n von Parkplätze­n. Auf deren Basis können sie ihre Pläne für den Tag überdenken. "Wer morgens in München zum Beispiel sieht, dass am Spitzingse­e schon alle Parkplätze voll sind, nimmt stattdesse­n vielleicht doch den Zug zum Schliersee", sagt Gmeiner.

Doch jetzt ist erstmal Lockdown, während in Bayrischze­ll der Schnee leise rieselt. Egid Stadler schaut wehmütig aus dem Fenster. "Das tut schon brutal weh, es wäre so eine schöne Saison geworden." So ganz mag er die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Infektions­zahlen sinken und er die Skilifte doch noch mal anwerfen kann. Vielleicht im März, sagt er, "20 Prozent Hoffnung hab' ich noch."

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Als gäbe es keine Corona-Pandemie: Ausflügler auf dem zugefroren­en Spitzingse­e

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