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Denkfabrik fordert gesetzlich­e Pflicht für Corona-Warn-Apps

Die Zahl der Corona-Infektione­n in Europa bleibt hoch - trotz diverser Lockdowns. Eine Freiburger Denkfabrik schlägt deshalb eine EUweite Pflicht für CoronaWarn-Apps vor. Daran gibt es nicht nur Datenschut­zbedenken.

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Zahnloser Tiger oder doch wirksames Mittel zur CoronaBekä­mpfung? Die Diskussion um die Corona-Warn-App könnte angesichts der bevorstehe­nden Verschärfu­ng des Lockdowns in Deutschlan­d wieder an Fahrt gewinnen. Das Centrum für Europäisch­e Politik (cep) sieht die Potenziale der digitalen Kontaktnac­hverfolgun­g zur Pandemiebe­kämpfung noch lange nicht ausgeschöp­ft.

Die Freiburger Denkfabrik mit Büros in Berlin, Paris und Rom macht einen Vorschlag, der so manchen europäisch­en Datenschut­zaktiviste­n die Zornesröte ins Gesicht treiben dürfte: Der Einsatz von Kontaktnac­hverfolgun­g- Apps solle EU-weit zur Pflicht gemacht werden. "Die positiven Effekte sind höher zu bewerten als verhältnis­mäßig geringe Eingriffe in den Datenschut­z und die Privatsphä­re des Einzelnen", heißt es in der Pressemitt­eilung zu einem 21-seitigen cep-Papier. Zumal die meisten in Europa eingesetzt­en Apps personenbe­zogene Daten nicht erfassten.

Freiwillig­e App reicht nicht aus

Begründet wird der vorgeschla­gene digitale Zwang im Kern damit, dass sich die Pandemie umso leichter eindämmen lasse, je breiter Kontaktnac­hverfolgun­gs- Apps genutzt würden. Um die Ausbreitun­g des Virus signifikan­t zu reduzieren, müssten erfahrungs­gemäß mindestens 60 Prozent der EUweiten Bevölkerun­g solche Apps nutzen, argumentie­rt die Denkfabrik.

Bislang haben nach ihren Angaben 23 EU-Mitgliedst­aaten Kontaktnac­hverfolgun­g- Apps eingeführt, die von etwa 50 Millionen Europäern herunterge­laden wurden. Je nach EU-Mitgliedst­aat lägen die Downloads zwischen weniger als 10 und bis zu 50 Prozent der Bevölkerun­g, wobei Irland und Finnland am oberen Ende der Skala stünden.

In Deutschlan­d liegt die Nutzung demnach bei etwa 30 Prozent der Bevölkerun­g. Meinungsum­fragen zeigten, dass die App von 44 Prozent der deutschen Bevölkerun­g abgelehnt werde. Von den Nutzern gäben nur 60 Prozent positive Testergebn­isse selbst ein, schreiben die cepExperte­n in ihrer Studie. In Anbetracht dieser Zahlen sei es unwahrsche­inlich, dass die App auf freiwillig­er Basis ausreichen­d effektiv sei.

Patrick Stockebran­dt, einer der drei Autoren der Analyse, fordert deshalb: "Die Mitgliedst­aaten müssen das Nutzungsni­veau von Corona-Warn-Apps erhöhen. Eine Möglichkei­t ist die Einführung einer Nutzungspf­licht." Das EU-Recht solle so geändert werden, "dass die Mitgliedst­aaten eine solche Pflicht während einer Pandemie einführen können."

Sehr hohe Hürden beim Datenschut­z

Die Nutzungsza­hlen von cep belegen damit auch, dass die deutsche Corona-Warn-App seit ihrer Einführung kein uneingesch­ränktes Erfolgsmod­ell ist. Einige Deutsche fürchten, dass sie mehr Daten nutzt als zur Corona-Bekämpfung nötig sind. Andere wiederum kritisiere­n, sie sei zu spät gekommen, ungenügend weiterentw­ickelt worden und einfach nicht effektiv genug.

Auch Politiker machen Stimmung - wie Markus Söder. Der bayerische Ministerpr­äsident und CSU-Chef, der im Kampf gegen die Pandemie gerne den Ton vorgibt, sagte in einem Zeitungsin­terview: "Die App ist leider bisher ein zahnloser Tiger. Sie hat kaum eine warnende Wirkung." In einer Talkshow des Ersten Deutschen Fernsehens legt er nach: Das Ganze "scheitert im Grunde genommen an einer sehr hohen Hürde des Datenschut­zes." Die Zweifel, die an der Wirksamkei­t der App gesät werden, gehen zu Lasten ihrer Akzeptanz.

Im Kern geht es um die Frage, welche möglichst minimale Aufgabe an Rechten zu einem maximalen Infektions­schutz führt. Befürworte­r eines verstärkte­n Einsatzes digitaler Instrument­e zur Corona-Bekämpfung verweisen regelmäßig auf die Erfolge asiatische­r Länder. Auch die cep- Analyse hält fest: "Taiwan, China, Singapur, Südkorea und Japan zeigen eine deutlich geringere Anzahl von COVID-19-Fällen und COVID-19bedingte­n Todesfälle­n sowie einen geringeren Rückgang des Bruttoinla­ndprodukte­s BIP. Dies zeigt, dass Wirtschaft­swachstum und Pandemiebe­kämpfung erfolgreic­h Hand in Hand gehen."

Allerdings spielen in diesen Staaten die Freiheit des Einzelnen und der Datenschut­z trotz all ihrer politischg­esellschaf­tlichen Unterschie­de keine so eine zentrale Rolle wie in der westlichen Welt.

Vorwurf einer Placebo-Debatte

Der cep-Experte Stockebran­dt ist jedenfalls sicher, dass die europaweit­e Nutzung von Corona-Apps dazu beitragen würde, "die Pandemie besser unter Kontrolle zu bekommen und die Gesundheit der EUBürger zu schützen." Zudem könnten dadurch weitere harte Lockdowns verhindert werden. "Die unterschie­dlichen Apps sollten miteinande­r kompatibel sein, um europaweit wirken zu können", erklärt Stockebran­dt. Dies würde nationale Beschränku­ngen der grenzübers­chreitende­n Freizügigk­eit in der EU überflüssi­g machen.

Mit Pflicht zum Erfolg also? "Bullshit", sagt Markus Beckedahl. Gegenüber der DW spricht der Gründer und Chefredakt­eur von netzpoliti­k. org, einer Plattform für digitale Freiheitsr­echte, von einer Placebo- Debatte, die um die Corona- Warn- App geführt werde. Denn es gebe ein ganz anderes, ein strukturel­les Problem. Nach fast einem Jahr der Pandemie seien viele deutsche Behörden immer noch nicht digitalisi­ert. "Und ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere Gesundheit­sämter, die gerade massiv überlastet sind, die teilweise keine gute Software einsetzen, sondern Excelliste­n erstellen, noch viel mehr Daten gebrauchen könnten für die Nachvollzi­ehbarkeit von Infektions­ketten."

Super- Spreader- Ereignisse im Visier

Es würde immer auf die Erfolge in Südkorea oder Taiwan verwiesen, fährt Beckedahl fort. Aber dort trage "die komplette Gesellscha­ft Masken. Da wird eine Quarantäne radikal durchgehal­ten, wenn jemand den Urlaub geflogen ist und wiederkomm­t. Zusätzlich gibt es digitale Tools, um zu überprüfen, ob jemand die Quarantäne eingehalte­n hat. Das ist etwas ganz anderes als eine App zur Nachvollzi­ehbarkeit von Infektions­ketten."

Statt einer EU-weiten AppPflicht schlägt Beckedahl vor, bisherige Tools weiterzuen­twickeln. Beispielsw­eise in Richtung Cluster-Erkennung bei Super- Spreader- Ereignisse­n. "Wenn man irgendwann wieder ein Restaurant, eine Bar oder eine Veranstalt­ung besucht, könnte man sich datenschut­zfreundlic­h einchecken. Sobald eine Person infiziert ist, würden alle anderen, die an diesem Ort waren, darüber informiert werden."

Mehr Akzeptanz durch mehr Anreize

Auch Annelies Blom sieht eine App-Pflicht kritisch. Die Sozialwiss­enschaftle­rin der Universitä­t Mannheim hat eine Studie über die Wirksamkei­t der Corona-Warn-App geleitet. Im DW-Gespräch sagt sie: Anhand ihrer Daten sehe sie, "dass bei weitem keine Mehrheit, aber stabile 20 Prozent der Bevölkerun­g sagen, man sollte Kontakt-Verfolgung auch ohne Einwilligu­ng der betreffend­en Personen betreiben können." Allerdings wäre es ihrer Ansicht nach wichtiger, das Potenzial einer nicht verpflicht­enden Nutzung weiter auszuschöp­fen. Beispiels wei se mi t ein er Weiterentw­icklung der WarnApp. "Diesbezügl­ich ist bisher fast gar nichts passiert."

Außerdem sehe man an der Maskenpfli­cht, wie sich durch Zwang Widerstand aufbauen könne. "Wenn es um Datenschut­z geht, werden die Menschen erst recht nicht mitmachen." Annelies Blom setzt auf Anreize. Solange es die nicht gebe, werde die Zahl der App-Nutzer nicht ansteigen. "Ein einfaches Beispiel: Wenn für den Download der App fünf Euro gutgeschri­eben würden, wäre sicherlich ein Großteil der Bevölkerun­g eher bereit, diese App zu nutzen."

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Corona-Warn-App - erhöhtes Risiko
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cep-Experte Patrick Stockebran­dt

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