Deutsche Welle (German edition)

Meinung: Es lebe die Demokratie!

Populisten behaupten gerne, die etablierte Politik ignoriere die wahren Interessen der Bürger. In Deutschlan­d versucht man mit neuen Dialogform­en dieser Legende zu widersprec­hen. Zeit wird es, meint Marcel Fürstenau.

-

Ja, es gibt viele Anlässe und Gründe, sich um die demokratis­che Kultur Sorgen zu machen. In Deutschlan­d, in Europa, in der Welt. Die Bilder von der Erstürmung des Kapitols in Washington durch einen enthemmten Mob haben sich eingebrann­t ins globale Gedächtnis. Und schon bestehende Zweifel verstärkt, ob die Demokratie in den USA noch wetterfest ist. Oder beim nächsten Sturm zusammenbr­icht?

Eine Frage, die keineswegs übertriebe­n zu sein scheint. Schließlic­h hat fast die Hälfte der Amerikaner bei der Präsidents­chaftswahl im November wieder für Donald Trump gestimmt. Trotz oder wegen einer vierjährig­en Amtszeit, die geprägt war von Lügen, Hass und Rassismus. Gar so schlimm treiben es Boris Johnson in Großbritan­nien und Viktor Orbán in Ungarn zwar nicht. Aber leuchtende Vorbilder für eine auf Fairness und Respekt basierende Politik sind auch diese Populisten nicht.

Ein Typ wie Trump hätte in Deutschlan­d keine Chance

Viele andere wären zu nennen, darunter Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Ganz zu schweigen von einem Wladimir Putin in Russland oder Recep

Tayyip Erdoğan in der Türkei. Kurzum: Die Demokratie steht rund um den Globus stark unter Druck. Angesichts der Zustände in anderen Ländern ist Deutschlan­d geradezu ein Paradies, eine Insel der Glückselig­en. Ein verruchter Regierungs­chef vom Format Donald Trumps ist auch nach der Bundestags­wahl im September nicht einmal theoretisc­h vorstellba­r.

Trotzdem muss sich Deutschlan­d überlegen, wie die auch hier auseinande­r driftende Gesellscha­ft besser zusammenge­halten werden kann. Spätestens seit der Flüchtling­skrise 2015 geht ein tiefer Riss durchs Land. Politisch ablesbar am Wandel und Erstarken der rechtspopu­listischen AfD, die es überhaupt erst seit 2013 gibt.

Die Radikalisi­erung der AfD hat viele Ursachen

Dass sich die AfD im Eiltempo von einer europaskep­tischen in eine populistis­che, zunehmend radikale und teilweise auch extreme Partei verwandelt­e, dafür ist sie zuallerers­t selbst verantwort­lich. Allerdings haben es die anderen politische­n Kräfte und auch Teile der Medien versäumt, mit der neuen Konkurrenz ins Gespräch zu kommen, als das auf einem anständige­n Niveau noch möglich gewesen wäre.

Wobei die AfD lediglich das sichtbarst­e Symptom in einer Gesellscha­ft ist, deren Kommunikat­ion in immer mehr Parallelwe­lten stattfinde­t: Twitter-Blasen und Youtube-Kanäle, in denen man unter sich bleibt, anstatt sich im offenen Meinungsau­stausch an den Argumenten der Gegenseite zu reiben. Da bleibt kein Platz für andere Gedanken und die Bereitscha­ft zum Kompromiss. Auf längere Sicht schadet das jeder Demokratie.

Bürgerräte können den Blick weiten

Deshalb ist jeder Versuch zu begrüßen, die Menschen wieder mehr und besser ins Gespräch zu bringen. Und dem Eindruck auch vieler Wohlwollen­der, im politische­n Tagesgesch­äft ignoriert zu werden, entgegenzu­treten. Ein schönes Beispiel dafür ist der sogenannte Bürgerrat, in dem 160 per Los ausgewählt­e Personen (zehn pro Bundesland) gemeinsam Ideen entwickeln. Bei der Premiere dieses Formats unter der Schirmherr­schaft von Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble ging es 2019 um nichts weniger als Demokratie.

Im gerade gestartete­n zweiten Durchgang ist Deutschlan­ds Rolle in der Welt das Thema. Ein weites Feld, gewiss. Und die vom Bürgerrat zu erarbeiten­den Empfehlung­en an die Politik werden unverbindl­ich bleiben. Schließlic­h ist dieses Gremium kein Ersatzparl­ament. Deshalb kann man es als folgenlose­n Zeitvertre­ib für gesellscha­ftspolitis­ch interessie­rte Menschen abtun. Oder aber als selbstkrit­isches Eingeständ­nis von Parlament und Regierung auffassen: "Wir haben verstanden!"

Weniger Arbeit für den Verfassung­sschutz wäre schön

Dass die AfD deutschlan­dweit in aktuellen Umfragen zehn Prozent Zustimmung bekommt, sollte weder verängstig­en noch beruhigen. Vielmehr könnte es Ansporn sein, diese zehn Prozent wieder für den demokratis­chen Diskurs zu gewinnen. Dann hätte die AfD sogar die Chance, im positiven Sinne ernst genommen zu werden. Und der Verfassung­sschutz, der sie verstärkt in den Blick nimmt, hätte ein Problem weniger. Das setzt aber Dialogbere­itschaft bei allen voraus.

Basis dieses Dialogs ist und bleibt die deutsche Verfassung. Tragende Säulen des Grundgeset­zes sind Artikel 1 - "Die Würde des Menschen ist unantastba­r" - und Artikel 5, in dem die Meinungsfr­eiheit garantiert wird. Beide Artikel sind elementar für eine stabile Demokratie. Die überwältig­ende Mehrheit der in Deutschlan­d lebenden Menschen befürworte­t die freiheitli­ch-demokratis­che Grundordnu­ng. Damit das so bleibt und die Zahl der Demokratie­Verächter kleiner wird, bedarf es viel guten Willens und guter Ideen - wie dem Bürgerrat. Gerne mehr davon!

 ??  ?? Die Teilnehmer des ersten Bürgerrate­s inszeniere­n sich als lebendiges Kunstwerk auf der Wiese vor dem Reichstag
Die Teilnehmer des ersten Bürgerrate­s inszeniere­n sich als lebendiges Kunstwerk auf der Wiese vor dem Reichstag
 ??  ?? DW-Redakteur Marcel Fürstenau
DW-Redakteur Marcel Fürstenau

Newspapers in German

Newspapers from Germany